Ein dreibeiniger Hund

Heute bin ich ziemlich unglücklich. Ein Gefühl wie amputiert, ein dreibeiniger Hund. Man humpelt so vor sich hin und kommt irgendwie vorwärts, langsam und beschwerlich. Clumsy.

Und dann erst dieses Selbstmitleid. Dieser Pathos. Kann es selbst schon nicht mehr hören. Vielleicht sollte ich nicht immer davon erzählen, wie ich mich fühle, sondern lieber, was ich mache. Das außen in all seiner Trivialität. Genauso profan wie das innen.

„What are you doing?“, fragte das frühe Twitter-Layout damals. Und wir schrieben, was wir taten, und was wir aßen, ich besonders, was ich las und wie der Himmel aussah.

Heute kaufte die Frau an der Kasse vor mir genau dasselbe wie ich. Und eine Frau, die mit mir am Bahnsteig auf die U-Bahn wartete, las dasselbe Buch wie ich.
Heute stand ich am Fenster des Bankenturms, zwanzig Stockwerke unter mir, und überlegte, wieviele der Menschen in diesem Gebäude wohl glücklich sind.

Hauptsache, wir sind alle beschäftigt. Dann fragt niemand: „bist du glücklich?“.

Happily ever after

„All meine Liebesgeschichten gehen immer schlecht aus!“ beklage ich mich bei ihr.

„Alle Liebesgeschichten gehen immer schlecht aus. Nicht nur deine“, sagt sie und lächelt ihr feines Lächeln.

„Aber du bist doch da ein Gegenbeispiel“, meine ich, „du bist glücklich verheiratet.“

„Meine Liebesgeschichte ist ja auch noch nicht zuende“, antwortet sie.

Zweihundert Kilometer

„Ich kann deinen Vater nicht erreichen“, sagt meine Mutter am Telefon. Es ist Montagabend, der erste Tag ihrer Reise. Ich habe Donnerstag und Freitag frei, werde am Mittwochabend zu meinem Vater fahren, so dass er nur drei Tage allein ist. Das schafft er. Eigentlich. Und jetzt geht er nicht ans Telefon.
Mit der Leitung im unteren Stockwerk stimmt etwas nicht, es klingelt fünf Mal, aber dann kommt ein seltsamer Ton statt des Anrufbeantwortes. Vielleicht hat er das Mobilteil verlegt, oder es mal wieder nicht aufgeladen. Also rufe ich auf der Leitung im oberen Stockwerk an. Nebenbei läuft eine halbe Folge „Danni Lowinski“, während ich das Telefon immer wieder klingeln lasse, ein menschlicher Wählautomat. Selbst wenn er gerade fernsieht, den Ton laut hat, irgendwann muss er das doch mal hören? Er hört es nicht.

Meine Mutter ruft wieder an, und wir beraten uns. Blöd, dass mein Vater vor zwei Wochen sein Handy verloren hat. Wir wollten am Ende der Woche gemeinsam ein neues aussuchen, drei Tage ohne Handy, das geht, da war ich mir sicher. Noch blöder, dass die Nachbarn nebenan ihren Sohn in München besuchen, ausgerechnet jetzt, mein Vater füttert ihre Katzen. Hoffentlich. Die Nachbarin gegenüber ist schon neunzig, hat ein Hörgerät und Angst vor den Russen. Die Lehrerfamilie die Straße runter.. auch verreist, sind ja Faschingsferien. Meine Mutter denkt nach, und erinnert sich dann an eine Frau König, keine direkte Nachbarin mehr, aber immerhin in Laufweite. Ich google ihre Telefonnummer, rufe an, es geht der Anrufbeantworter dran und nennt eine Mobilnummer, unter der ich auch niemanden erreiche.
„Dann fahre ich eben selbst hin!“, sagt meine Mutter und klingt so klein, so traurig und besorgt. „Wenn irgendjemand fährt, dann fahre ich!“, sage ich. Meine Mutter braucht diese Reise, und ich brauche, dass sie diese Reise kriegt, sie nicht abbrechen muss, um ihren Mann zu betreuen. Wir streiten uns dann aber doch noch ein bisschen, ich bin dagegen, dass sie so spät abends noch so weit Auto fährt, sie ist dagegen, dass ich so spät abends noch so weit Auto fahre, um dann am nächsten Morgen vor der Arbeit die selbe Strecke wieder zurückzufahren. Während wir streiten, reiße ich die nächstbeste Tasche von Haken, stopfe eine Hose von glücklicherweise noch nicht aufgeräumten Wäscheständer, Unterwäsche dazu und ein Top, der Waschbeutel ist auch noch gefüllt. „Ich fahre jetzt“ sage ich, und dann fahre ich.

Das Auto liegt gut auf der Straße, die weißen Markierungen rauschen an mir vorbei, tschik tschik tschik, ich fahre so schnell ich kann, ohne unvernünftig zu sein. Ich denke an meinen Vater. Ich sehe ihn in einer Blutlache am Fuße der Treppe. Ich sehe ihn zusammengebrochen im Bad. Ich sehe ihn eingenickt im Fernsehsessel. Ich sehe ihn im Bett liegen, tot. Ich sehe ihn gar nicht, ich kann ihn nicht finden, er hat sich verirrt. Er hat sich eingeschlossen im Haus der Nachbarn, deren Katzen er füttern wollte. Er ist dort ausgerutscht. Er ist irgendwo anders ausgerutscht. Er ist überfallen worden.

Und dann sind zweihundert Kilometer vorbei, ich biege in die Einfahrt, sprinte die Stufen hoch, keine Jacke an. Ich klingele, schließe die Haustür auf, rufe nach ihm. Gehe in sein Schlafzimmer. Er liegt im Bett wie ein Pharao, die Hände auf dem Bauch gefaltet, blinzelt mich an und sagt: da bist du ja schon!

Ich fühle mich deppert, und ich bin froh. Das Telefon ist tot, das Kabel aus der Buchse gerissen. Wir rufen über mein Mobiltelefon meine Mutter an. Ich umarme meinen Vater. Irgendwann gehe ich ins Bett, es dauert, bis ich zur Ruhe kommen kann. Nach ein paar Stunden stehe ich auf und fahre zurück. Die rauhbereiften Weinberge und Streuobstwiesen sind erst in rosa Dämmerlicht getaucht, dann geht die Sonne in meinem Rückspiegel auf, eine kleine, helle Orange.
Auf der Arbeit bin ich seltsam heiter, und sehe aus wie aus dem Ei gepellt.

***

Zwei Tage später, nochmals zweihundert Kilometer, planmäßig diesmal. Wir kaufen ein, ich koche, der Tag schmilzt so vor sich hin. Am Nachmittag hält mein Vater ein Nickerchen, auf seinem Bett liegend, und ich lege mich einen Moment neben ihn. Wir schauen aus dem Fenster, die Gardinen müssten mal gewaschen werden, und reden so über dies und das. Im Stillen überlege ich, was wir unbedingt noch machen, gemeinsam unternehmen sollten, solange es noch geht. Ich überlege hin und her, und plötzlich wird mir klar: es geht nicht ums machen. Es geht ums sein.

***

Mein Vater wird gehen, wird unerreichbar werden für mich. Aber noch nicht jetzt.

***

Meine Mutter kommt von ihrer Reise zurück, gut gelaunt und belebt von neuen Eindrücken und Begegnungen. Nur ich bin seltsam grantig. Wir müssen reden, meine Mutter und ich, und ich will nicht, und muß doch.
Am Samstagnachmittag bitte ich sie um ein wenig Zeit, und wir setzen uns zusammen. Fast eine kleine Vorstandssitzung, sogar eine Agenda habe ich gemacht. Erst reden wir über die einfachen Dinge: meinen Vater, geplante Reisen, die Feiertage. Dann über das, was mir weniger leicht über die Lippen geht: dass ich mich manchmal fühle wie ein Zahnrad ohne Zähne, ich wirble mit aller Kraft um die eigene Achse, und treibe doch nichts an, nichts voran: dieses mäandernde Leben kommt nicht vorwärts. Mich frustriert das, und ich weiß, sie auch, und sie kann nicht verstehen, weshalb ausgerechnet ihr goldenes Kind, geboren in diesem Zeitalter aller Möglichkeiten, nicht mindestens einen Konzern leitet, und glücklich ist dabei. Deshalb pusht sie mich, ich verstehe das, aber all dieses pushen bringt nichts, außer dass ich mich schlecht fühle. Die einzige, die etwas verändern kann, bin ich. Und ich tue, was ich kann.

Und meine Mutter versteht, das ist ein großes Glück..

***

„Nach Hause“ tippe ich ins Navigationsgerät. Zuhause. Das ist dort, wo ich bin, wo ich bei mir bin. Ich komme an, zweihundert Kilometer, blaue Stunde. Laufe über den Parkplatz, und bin für einen Moment, ein Fragment, glücklich. Überraschend bin ich doch irgendwie die Frau geworden, die ich sein will.

transzendental

Sie reden über Essen. Welcher Sandwichbelag der beste ist, und dann, als die U-Bahn oberirdisch fährt, wie krass satt man von den Nudeln aus dem Asia-Imbiß an der Ecke wird.

Ich beginne gerade, ihre Stimmen auszublenden, da fragt der eine den anderen, woher kommst du?, und der andere sagt Palästina, und ich werde neugierig. Was kommt jetzt? Außenpolitik? Unabhängigkeitskrieg?
Was habt ihr für Essen?, fragt der eine, und der andere sagt: arabisch.

Dann reden sie über den Führerschein, der eine will jetzt anfangen, damit er mit 17 schon begleitet fahren darf, der andere fährt lieber Roller, das ist billiger.

Als ich sie gerade wieder ausblenden will, sprechen sie über Frauen. Der eine, der immer ein bisschen mehr zu reden scheint als der andere, erzählt von dieser einen dicken Frau, voll fett ey sagt er und meint es nicht so, wie es die Rapper sagen, und daß sie jeden Typen kriegt, sehr rätselhaft, wir rätseln alle drei, magic vagina vielleicht, oder einfach nur Wärme und Sinnlichkeit, oder sechzehn sein und wissen, wer man ist. Wir wissen davon nichts.

Und der eine erzählt von der Disco, wie er von hinten die Frauen antanzt, und daß man immer einen Freund haben sollte, der die Frau von vorne sieht, Daumen hoch oder Daumen runter. Und daß er das voll lang kann, sich in der Hocke am Hintern einer Frau zu reiben. (Das wird spannend, denke ich, wenn er rausfindet, daß man das auch im liegen tun kann).

Einmal, erzählt der eine dem anderen, da hätte er voll lange mit einer Frau so getanzt, gegen eine Metallstange gelehnt, und ihre.. die U-Bahngeräusche verschucken, wie er ihre Schamlippen nennt.. hätten sich an ihn gerieben, und Mann, sagt er, mein Schwanz ist so hart geworden, das glaubst du gar nicht, so hart.

Er leuchtet so, als er davon erzählt, beinahe transzendental, und ich denke, daß er irgendwie recht hat, und wir Erwachsenen, wir haben Unrecht, wenn wir das Sexuelle als etwas profanes betrachten, wo es doch so unfassbar, unsagbar großartig ist.

Uncool

Der Valentinstag ist doof zu finden, eine verachtenswerte Kommerzscheiße, den sich Blumenhändler ausgedacht haben. Das sagte auch mein Sitznachbar in der S-Bahn, darauf angesprochen von einem Fahrgast. Nicht ganz in Einklang mit dieser Äußerung bringen ließ sich die gigantische Ikea-Tasche zu den Füßen des Sitznachbarn, in der sich ein Konstrukt aus Geschenkfolie und Luftballons verbarg, ebensowenig der quer über seinen Schoß liegende, langstieliger Blumenstrauß, und schon gar nicht das feine, vorfreudige Lächeln auf seinem Gesicht, das ich ein paar Stationen später beobachtete.

Als ich eine junge Frau war, vielleicht gerade mal zwanzig, 2. Semester oder so, da habe ich am 14. Februar eine Prüfung in Anorganischer Chemie nachgeschrieben. Zusammen mit mindestens fünfzig anderen Unglücklichen stand ich morgens kurz vor acht vor dem Hörsaal und versuchte, mir mittels Karteikärtchen noch ein paar letzte Fakten einzuprägen. Während ich Summenformeln paukte, bekam die Frau neben mir von ihrem Freund eine weiße Calla-Lilie geschenkt, und dazu – viel wichtiger – das Geschenk seiner Anwesenheit, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Seitdem bin ich ein wenig neidisch, und ich wünschte..

Aber auf die Liebe hat man kein Anrecht, keinen Anspruch, sie ist ein Wunder, das einem passiert, oder auch nicht. Und vielleicht geht es mir wie der Cat on a leash: longing for the Place Not Here.

Kummer & Glück

Versehentlich in der Mittagspause vor der Kollegin geweint. Sie ist mehr als eine Kollegin, fast schon eine Freundin, und all meine Freunde haben diese mich immer wieder verwundernde Gabe, mit einem Blick beurteilen zu können, wie es mir geht. Vor ein paar Jahren sagte mal einer zu mir: „du warst während des Meetings total sauer, ich habe das an deinem neutralen Gesichtsausdruck erkannt.“
Vielleicht aber bin ich einfach wie klares, kaltes Wasser, man sieht mit einem Blick bis auf den Grund. Sie jedenfalls fragt besorgt, was denn los sei, und kurz zucke ich und erwäge, zu lügen, alles okay, ist nur so kalt draußen, der Wind treibt einem die Tränen in die Augen, aber ich werde immer weich, wenn andere so warmherzig und aufmerksam zu mir sind. Und ich erzähle, skizziere ihr die Situation in drei oder vier Sätzen, von denen ein oder zwei mir die Luft abschnüren. Es ist kein richtiges heulen, kein Hoover-Damm, der bricht, eher eine Wischerei ums Auge herum, die Nase rot und die Stimme verheult, ein schwerer Seufzer, dann streichelt sie mir den Oberarm, das mag ich immer gerne, das tröstet.

Hinterher ist es mir ein bisschen peinlich, und ich frage mich: war es richtig, mich so gehen zu lassen? Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal vor jemanden geheult habe. Es ist ewig her. Als der Hund gestorben ist, sicherlich, und vor dem Coach einmal, aber das war geplant, dafür habe ich bezahlt, auf die beste aller Arten, nämlich mit Geld. Jetzt habe ich mich exponiert und frage mich: kommt da noch eine Rechnung?

Es kommt: eine Offenbarung. Ein paar Tage später gehen die Kollegin und ich abends essen, und sie öffnet sich mir. Einen Teil dachte ich mir schon, anderes überrascht mich ziemlich. Mich ehrt ihr Vertrauen, und wir beide rücken innerlich spürbar zueinander hin.
Man vergisst schnell, daß man die Schutzschilde herunternehmen muss, um Nähe zuzulassen, und von sich erzählen, um verstanden zu werden.

***

Wieviele Menschen sind wirklich glücklich, oder auch nur halbwegs glücklich, oder wenigstens zufrieden? Mit wem würde ich tauschen wollen, wen beneide ich mit dieser Art von Neid, die die höchste Form der Anerkennung ist? Die Menschen erscheinen einem glücklicher, je weniger gut man sie kennt.

Und ich? Bin ich glücklich?
Aber ja. In Momenten. In Fragmenten. Egal, was ist, ein Gefühl kommt seltsamerweise immer wieder zu mir zurück:
das Leben als ein vollreifer, sommerwarmer Pfirsich, in den ich hineinbeißen möchte, der Saft läuft mir am Kinn herab. Und meine Bitterkeit ist nichts, daß mir alles vergällt, sondern wie ein feines, exotisches Gewürz, ein zarter Geschmack, der allem eine Tiefe verleiht.

der Fall

Es sind sehr schöne Schuhe: Budapester mit feiner Schnürung und hohen Absätzen. Ich sehe sie zuerst an meiner Kollegin; frage, wo sie sie gekauft hat und ob es okay wäre, wenn ich mir dieselben kaufe. Ein paar Tage später komme ich am richtigen Geschäft vorbei: sie haben noch genau ein Paar, in exakt meiner Größe, das ich anprobiere. Sitzt wie angegossen. Fünfzig Prozent reduziert. Was für ein Glück!, denke ich und bin sehr heiter.

Freitagabend. Nichts läuft rund, das Büro hat Unwucht, ich komme erst um halb acht raus aus dem Bankenturm mit diesem unguten Gefühl nichts geschafft und niemandem helfen gekonnt zu haben. Müde bin ich, fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn, wo jemand erbost in sein Mobiltelefon brüllt. Es braucht Kraft, sich abzugrenzen, die Menschen zu ertragen, und ich merke, dass mein Faß beinahe leer ist, und die Schöpfkelle am Boden entlang schrammt. Ich steige aus, wünschte, ich wäre schon zuhause, muss aber noch zum Supermarkt, den Gehweg durch die Nacht an der vielbefahrenen Straße entlang. Ich knicke mit dem rechten Fuß um, stolpere, versuche mich mit dem anderen Fuß aufzufangen, bleibe hängen und schlage der Länge nach hin, mit dem Gesicht dem Asphalt entgegen wie ein fallender Baumstamm. Ich fange mich mit den Händen ab, spüre den Aufprall trotzdem an meinen Brüsten, nicht überraschend und auch nur eingeschränkt witzig, schabe mit dem Kinn über die Gehwegplatten. Am meisten aber leidet meine Würde, so dass ich sofort wieder aufstehe, weitergehe, vollgepumpt mit Adrenalin, froh, dass keine offensichtlichen Zeugen gab.

All diese Schritte, die mich an diesen Punkt geführt haben, an den Ort, an dem ich gefallen bin. Ich kann es nicht verstehen, kann nicht verstehen, wie ich dort hingekommen bin. Und doch war ich es, die diesen Weg gegangen ist, Schritt für Schritt.

***

Viele Metaphern kann man spinnen aus diesem Fall. Die Freundinnen, denen ich davon erzählt haben, fragten als erstes: hast du dich verletzt? Nein, habe ich nicht, kein Riss in der Hose, das Kinn ein wenig rot, aber kein Blut, die lederbehandschuhten Hände sind auch okay, ebenso die Brüste, vielen Dank. „Dein Leben!“, meint die beste Freundin, andere hätten ins Krankenhaus gemusst. „Du bist ja sofort wieder aufgestanden“, sagt eine weitere, das hört man von einer Freundin lieber als von einem Blogkommentator, der schreibt: „wieder aufstehen ist das allerwichtigste im Leben [mehrere Ausrufezeichen]“. Die hohen Absätze als Symbol für Hybris, oder das scheinbare Glück, das sich als Unglück entpuppt. Märchenmotive.

Als ich jünger war, da war es mir wichtig, das Leben zu beschreiben, festzuhalten. Den roten Faden finden, und Pointen – immer diese Suche nach Pointen. Jetzt denke ich: Dinge passieren, das Leben geht weiter.

Als ich jünger war, da hatte ich nicht immer recht. Die Metaphern, die ich spann, waren oft mehr Poesie als Wahrheit. Ich habe mit beiden Händen nach dem Leben gegriffen. Jetzt zieht es an mir vorbei, und meine Hände bleiben leer.

Rückenwind

Ich träume, dass ich zum Gericht gehe, nicht ängstlich, nur neugierig und interessiert: die Wohnungsbaugesellschaft IGW, bei der auch ich einen Mietvertrag habe, wird wegen falscher Nebenkostenabrechnungen verklagt, und das will ich mir ansehen.
Wie das in Träumen so ist, kann ich den richtigen Verhandlungssaal nicht finden, laufe ratlos durch das Gebäude, bis sich eine Mitarbeiterin mir annimmt: ihre Kollegin sei etwas nachlässig mit den Aushängen, sie müsse selbst erstmal schauen, in welchen Raum das ist. Sie bringt mich in einen Warteraum und schreitet davon.
Der Warteraum ist behördlich und voll von Menschen im Transit. Ich setze mich. Ein Mann begrüßt mich freundlich. Er ist langhaarig und ein wenig hager, so gar nicht mein Typ, doch etwas klickt zwischen ihm und mir. Seine Freunde sind auch da, sie kennen ihn als einen, der manchmal was riskiert. Manchmal klappts, und manchmal nicht, so daß er liebenswerter Durchschnitt bleibt. Heute aber, heute hat er Rückenwind, und bevor mans sich versieht, sind wir verliebt. Er streichelt meine Hände, liebkost und hält sie. Ich trage einen schwarzen Rock, so wie ich einen hatte, als ich jung war, und ich bin schön, so schön, wie ich eben war.
Es ist ein schönes Gefühl, das Verliebtsein, warm und hell und federleicht. Es trägt mich auch im Wachen durch den Tag, und überrascht mich – daß ich trotz meiner Bitterkeit zu solch hoffnungsvolle, optimistischen Träumen fähig bin.

(ohne Titel)

Ich stehe an der Kasse, nehme beiläufig aus den Augenwinkeln einen Mann wahr, der sich hinter mir anstellt. Er seufzt tief, das ist so einer, dem alles zu viel ist, das Einkaufen, das Leben, und jetzt auch noch so eine lange Schlange. Seine Atemwolke trifft mich wie eine kompakte Masse in meinem Nacken, die Haare hochgesteckt. Mich schaudert.

Ich sitze am Schreibtisch, er steht hinter mir. Ich blättere in Dokumenten, er versucht zu erklären und deutet dabei auf bestimmte Textteile. Dabei berühren seine großen Hände ein paar Mal die meinen, aus Versehen. Sie fühlen sich kalt an und glatt, auf eine angenehme, marmorne Weise. Ich schaudere.

Berührungen, die bleiben, und doch unterschiedlicher nicht sein könnten.