Lesung: Marcus Hammerschmitt

Wir kamen fast zu spät, Frau Engel und ich, es reichte gerade noch, um einen Gin Tonic zu bestellen (sehr süß: Gin und Tonic wurden getrennt berechnet). Sitzplätze gab es im Club „Ausland“, der mich an einen Vereinsraum oder an eine studentische Fachschaft erinnerte, nicht mehr. Ich zählte etwa 30 Leute, weitere zehn sollten nach und nach noch später als wir kommen und von Marcus Hammerschmitt jeweils mit einem Seitenblick bedacht werden, aus dem wohl weniger Verärgerung als vielmehr eine Unterbrechung seiner Konzentration sprach.
Zunächst las er aus „der Zensor“. Spanien der Zukunft wird von den Mayas beherrscht, gegen deren blutige Herrschaft sich eine Untergrundbewegung gebildet hat. Teil der Guerilla, wenn auch zunehmend zweifelnd, ist Enrique. Seine Zweifel scheinen begründet: in dem Ausschnitt, den Marcus Hammerschmitt uns vorgelesen hat, soll Enrique von einem Mitglied seiner eigenen Truppe ermordet werden. Die schöne und kräftige Stimme Hammerschmitts erfüllt den Raum auch ohne Mikrophon, die Stelle, die er ausgesucht hat, eignet sich hervorragend zum vorlesen: bevor ich mich noch richtig hingesetzt und versucht habe, das alles einzuordnen (Mayas? Nanotechnologie?) bin ich schon mittendrin in der spannenden und dialogreichen Geschichte.
Als zweites las er aus PolyPlay. Die BRD wurde von der DDR annektiert, möglich gemacht hat dies ein schwarzer Freitag an der Börse, die darauffolgende Wirtschaftkrise und ein Jagdunfall Erich Honeckers. In „PolyPlay“ ermittelt Kommissar Krämer wegen eines Mordes im Computermilieu; das Computerspiel PolyPlay scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Es liegt in der Natur der Sache, daß es bei dem Szenario einer umgekehrten Wende viel zu lachen gab. Auch ich mußte lachen und hörte gerne zu, merkte aber auch, daß dies mein Thema nicht ist. Ich gehöre zu den wenigen Menschen, die „Good Bye Lenin“ nicht gesehen haben. Es ist einfach nicht mein Geschmack.
„Reinhold Messner (nicht verwandt, nicht verschwägert) überlebt den dritten Weltkrieg“ lautet der Titel der Geschichte [veröffentlicht in der Anthologie „der Atem Gottes“], die Hammerschmitt als letztes vorlas. „Satire“, sagte Frau Engel; sie liebt es. Dieser letzte Text zeigte eine andere Seite seines schriftstellerischen Könnens.
Ihm zuzuhören war ein Genuß. Sicher, auch er verspricht sich manchmal. Aber ich war beeindruckt, weil er jeder Figur eine eigene Stimme verliehen hat. Die eine Figur spricht er in einem selbstsicheren Ton, die andere läßt er absolut rational klingen, eine weitere ängstlich; und so werden all diese Figuren lebendig jenseits der Worte.
Gerne würde ich etwas über seine Präsenz und Ausstrahlung berichten. Das ist schwierig, weil seine Ausstrahlung vor allem darauf beruht, daß er ganz normal ist. Bescheidenheit ist ein Wort, daß nicht ganz paßt. Es ist keine Bescheidenheit im protestantischen Sinne. Aber Hammerschmitt findet, so mein Eindruck, sich selbst nicht wichtig, er findet seine Geschichten wichtig. Und daraus entsteht der Widerspruch, den ich nicht erklären kann: gerade, weil er sich selbst nicht in den Vordergrund stellt, wirkt seine Präsenz nachhaltig auf die Zuhörer.
In der anschließenden Diskussion erzählte er von seinen Vorbildern [William Gibson], seinen Lieblingsautoren [China Miéville, den ich ganz großartig finden und jetzt weiß ich endlich, wie man ihn korrekt ausspricht: May vill] und daß er „Polyplay“ gerne als Polizeiruf 110 verfilmt sehen würde [ich auch]. Am Ende sagte er ein Wort, daß ich lange nicht mehr gehört habe: Dankbarkeit [für seine Kreativität].

Was die meisten von uns in den Blogs machen, dachte ich, ist eigentlich ziemlich mickrig. Was Hammerschmitt macht, das ist Literatur. Wer liest, so lautet ein Sprichwort, lebt doppelt. Wer schreibt wie Hammerschmitt, kann hunderte anderer Welten mit seinen Worten erschaffen. Was ich mit meinem Blog mache, ist etwas anderes. Ich versuche ja, die Fragmente meines einen Lebens zu beschreiben, wiederzufinden, aneinanderzufügen. Umso schöner, daß ich mich in Hammerschmitts Welten hineinlesen darf, wenn es mir hier zu düster wird. Wir brauchen die Kunst, so lautet ein anderes Sprichwort, um nicht zu verzweifeln.
Es war ein schöner Abend. Ich bin dankbar.

[Bild auf Wunsch wieder entfernt]

Veränderungen (2)

Paßfotovergleich: Führerschein (1996), alter Paß (1999), neuer Paß (2004).

1996, noch mit schwarz gefärbten, kurzen Haaren. Mein Gott, denke ich bei Fotos aus meiner Schulzeit immer, ich war hübsch und habe es nicht gewußt.
Ein sehr offener Blick, ein klares Gesicht.

1999, ich sehe aus wie betrunken, wie unter Drogen. Verwirrt. Ein hartes, verwirrendes Jahr, in dem ich nach Berlin gezogen bin, wo es zunächst auch nicht besser war.

2004, ganz glatte, passende Haare. Schöner als 1999, weil ich aussehe wie jemand, der weiß, wer er ist. Gleichzeitig: keine Unschuld mehr, ein ironischer Zug um den Mund, ein Blick mit Schalk in den Augenwinkeln. Man spürt meine kritische Distanz, von der ich manchmal sogar mehr gebrauchen könnte.

Der neue Paß ist gültig bis 2014. Kaum vorstellbar, wo ich 2014 sein werde. Vermutlich mit zwei Buchstaben vor meinem Namen, eher unwahrscheinlich: mit einem anderen Nachnamen und dann wohl auch mit einem Eintrag unter „Kinder“. Wahrscheinlich mit einigen Stempeln im Paß, Arbeitsvisum für die USA?
Die Haare sicherlich kürzer und vielleicht endlich in meiner Naturhaarfarbe. Mehr Fältchen unter den Augen, der Blick? Warm und herzlich? Hart und unsicher? Ablehnend und verlebt?
Wer weiß.

Veränderungen (1)

„Sie haben da was versehentlich fallen lassen!“ rief mir die Frau mit Kinderwagen von der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Was sie eigentlich meinte, war: „ich habe gesehen, daß Sie den Zettel unter ihrer Windschutzscheibe einfach auf die Straße geworfen haben. Ich finde das nicht in Ordnung! Heben Sie das auf!“.

Ich habs nicht aufgehoben, ich habe nichts gesagt, nur kurz ironisch die Augenbraue hochgezogen.

Wir waren alle bessere Menschen, bevor wir nach Berlin gezogen sind.

kommentierte Links III

Aufgrund äußerer Zwänge werde ich frühestens am Sonntag wieder bloggen können. Derweil können Sie:

– sich an den äußerst empfehlenswerten Weblogs aus meiner Blogroll erfreuen.

– mir per eMail Feedback geben (oder mich um ein Date bitten…*kleinerwitz*)

– ihre Aufmerksamkeit folgenden Links schenken:

der Kolumne von Frau Engel.„Schwer ist das Leben, das Weiterleben, für uns, die Lebenden.“

den Fotos von F.antville. The Frank war an vielen Orten, an denen ich auch war. Etwa zwei oder drei Dinge haben sowohl er als auch ich unabhängig voneinander fotografiert und in unser jeweiliges Weblog gestellt. Wenn ich mir seine Fotos anschaue und mit meiner Erinnerung abgleiche, dann wird mir klar, daß es ihm weniger um die Abbildung von Objekten, sondern vielmehr um die Vermittlung seines Blickes geht (und es gelingt).
Auch schön: an den vordergründigen Motiven vorbei das Design seiner Wohnung studieren zu können.

dem Weblog Instant Nirvana. Mit der Einsätzigkeit von Instant Nirvana tat ich mich bislang schwer, jetzt gibt es dort auch längere Texte.
Sein Buch „Wind“ habe ich übrigens vor etwa 5 Jahren mal gelesen, als ich noch jemand anderes war. Voller guter Ideen, ich erinnere mich noch. Leben in einer Windkraftanlage auf dem Meer; Kommunen, die eigene Stadtstaaten bilden.
Man munkelt übrigens, daß MH im November in Berlin liest. Lesung!! Gin Tonic!! Taxis!! Rock ’n Roll!!

dem lesenswerten Artikel über die Eineurojobs von Sören Jansen. Mir gefällt mir der Tonfall des Artikels und der Gedanke, daß im Grunde niemand gezwungen werden kann – es gibt immer subtile Mechanismen, um sich zu entziehen. Herr Jansen geht recht weit und fordert die glücklichen Arbeitslosen.

den Geschichten von der Pornovideothek. Gibt es einmal etwas harmloser (true porn clerk stories) und, natürlich aus Las Vegas, etwas heftiger mit Videokabinen (Diaries of a porn store clerk.

Aisa Carrera Weblog (oder sowas ähnliches). „Mit Weblogs und Internet-Pornografie kann man kein Geld machen, es gibt einfach zu vieles umsonst im Netz“, schwirrt als These durch den Raum. Asia Carrera jedenfalls hat genug Geld verdient, um sich zur Ruhe zu setzten, sage ich, und Fry
sagt, hey, er kennt Asia. Und ich gucke ihn an und weiß: er kennt sie, aber nicht über ihr Weblog.

Teilen Sie es sich gut ein. Bis Sonntag.

kein Ersatz

Justyna und ich laufen durch den Regen. Ich sage: „Pornokino. Strapse, High Heels, Rock, schwarzer Chiffon, Korsett, Kit Kat. Pornokino!“.

Und Justyna sagt: „ach, eigentlich willst du doch jemand, der mit dir durch die Straßen von Paris flaniert, dir Bücher für einen Euro auf dem Flohmarkt kauft und mit dir direkt nach dem Aufwachen schläft.“

Ja, aber. Ja, aber. Ja, aber.

„Es sieht ja nun nicht danach aus, als ob ich eine Partnerschaft gebacken bekomme. Dann könnte ich doch wenigstens dreckigen Sex haben!“

Justyna guckt skeptisch, sehr skeptisch. Mein Übermut ist verflogen, ein kleiner Rest an Trotz ist noch da, aber sie hat natürlich Recht, nüchtern betrachtet.

Frauen unter sich

Jetzt ist es mir schon mehrmals passiert, daß mich Leute, die mich über mein Blog kennen, beim ersten Treffen umarmt haben.Wirke ich irgendwie… knuddelig?

[Und ja, ich finde das gut, auch wenn ich erschrocken wirke.]

Am Ende des Abends wird sie sagen: „das war jetzt sehr intensiv …“ Ich werde ein wenig zusammenzucken, mir dann aber denken: sie kann das aushalten. Und mithalten sowieso.

Eindrücke der Blogs!-Lesung

Als erstes liest Anke Gröner einen ernsten, düsteren Text („Salzkartoffeln“) mit weihnachtlichem Thema. Aus zwei Gründen ist dieser Text keine gute Wahl: erstens wird dem Publikum gleich zu Anfang ein harter Brocken hingeworfen, zweiten sind ernste Texte sehr schwer zu lesen; es braucht viel Übung, um die Nachdenklichkeit und Stimmung zu vermitteln. Anke Gröner schreibt gut, sie schreibt sogar sehr, sehr gut. Später wird sie noch einen zweiten, humorvollen Text über eine anstrengende Frau im Supermarkt („Eisente“) lesen, ich werde lachen müssen. Sie liest „…jede einzelne Limette…“, betont die Wörter genau richtig, trifft genau die richtige Stimmlage, bringt die Atmosphäre gut rüber. Warum nur hat sie es sich und uns so schwer gemacht mit diesem ersten Text?
Als nächstes liest Frank Lachmann, hier stimmt alles. Er liest seine Texte mit genau derselben ironischen Distanz, die sich auch in geschriebener Form spüren läßt. Er ist großartig, jetzt beginnt die Lesung zu funktionieren, ich lasse von meinem Glas ab und freue mich.
Andrea Diener kann ich nicht gerecht werden. Ich lese ihre Texte so gut wie nicht, sie schreibt sicherlich gut, es ist nur ganz einfach nicht mein Geschmack. Sie liest sie auch passabel, aber wie gesagt, mein Ding ist es nicht.
Emily schreibt schöne, lustige Texte, aber zum Vorlesen eignen sie sich nicht.
Genau andersherum ist es bei Herrn Shhh von der Freakshow: die Texte wirken in geschriebener Form nicht so gut, aber wenn er sie vorliest, werden sie lebendig. Er liest sehr gekonnt, fast professionell, man fühlt sich gut unterhalten.

Die Moderation wirkte etwas konfus, es wurde viel geredet, aber die Aussage ist mir entgangen. Gab es ein Konzept? Gab es einen roten Faden?
Dennoch: egal, ob man Don Alphonso mag oder nicht, es ist immer eine Show. Und egal, ob man die Show mag oder nicht, 6 Euro ist das alle Mal wert.

Fazit: das Potential wurde nicht gänzlich ausgeschöpft, aber es war nichtsdestotrotz ein guter Abend.
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Es ist wie ein chemisches Prozeß, ein Kristallisationskeim, und drumherum sammelt sich alles. In der Mitte steht diese starke und energiegeladene Frau, die sehr wohl auch eine verletzliche Seite hat, aber nicht heute. Zunächst bin ich mit ihr und einem Long Island Ice Tea alleine, dann kommen zwei weitere spannende Menschen dazu. Im Roten Salon und bei Gin Tonic besetzen wir einen Tisch in der hintersten Reihe, ich fühle mich an die Schulzeit erinnert, letzte Reihe, hier wird gestänkert und gelobt und gelebt und geliebt. Zack – schon haben wir uns um ein Luder und einen Engel vermehrt, noch einen Gin Tonic, bitte. Als der Schmuddelblogger kommt, ist es schon fast vorbei, oder fängt es jetzt erst an? Noch einen Gin Tonic, bitte.
Ich frage Don Dahlmann, kennst du mich noch? und er lügt, ja klar. Ich frage Frank Lachmann, kennst du mich noch? und er sagt, ja klar, und lügt nicht.
„Kann ich noch was trinken?“ frage ich den Barkeeper, und er sagt „nein! auf keinen Fall!“ und schmeißt uns raus. Der Pulk um den Kristallisationskeim, die Frau, die auch nach Stunden nichts von ihrem Verve verloren hat, geht in ein anderes Lokal, einen Gin Tonic bitte. Sie spielen „Take Five“ und Nina Simone und ich bin froh und gelöst und gelassen und genieße das Leben.
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Während ich noch überlege, ob die S-Bahn noch fährt und wo die Nachtbus-Haltestelle ist, sagt Fry zu mir, er würde sich gerne ein Taxi nehmen. Damit er mit mir auf der Rückbank knutschen kann.

Das rührt mich dann doch.