Beobachtungen

Ich beobachtete: Es gibt einen Vorteil, den das Wissen bietet, aber nicht das Unwissen, wie es einen Vorteil gibt, den das Licht bietet, aber nicht die Dunkelheit:
Der Gebildete hat Augen im Kopf, der Ungebildete tappt im Dunkeln. Aber ich erkannte auch: Beide trifft ein und dasselbe Geschick.
(Koh 2,13-14)


Wenn ich aufschreibe, was mir durch den Kopf geht, was ich empfinde, vielleicht gelingt es mir dann, Verknüpfungen zu machen, eine Serie zu bilden, die Punkte zu einer Kurve zu verbinden und zu interpretieren, Konsequenzen zu ziehen: das Leben festhalten.

(der erste Beitrag in diesem Weblog).

Ja, ich habe Erkenntnisse gezogen aus diesem Weblog. Ja, dieses Wissen hat mich dazu gebracht, das eine oder andere zu verändern. Doch in meinen Aufzeichnungen finde ich viele Ereignisse, die sich meinem Einfluß ganz und gar entzogen haben. Der Spielraum, den man hat, ist begrenzt von Schicksal und Zufall, von Arbeit- und Gesetzgebern, von wirtschaftlicher Lage und sozialem Umfeld. Das Licht meines Verstandes ist schwach, meine Einsicht gering, aber: ich lerne dazu. Und lerne auch, anzunehmen, was ich nicht ändern kann.

Wo bin ich?

Ich bin hier.

250 Tage, das ist nicht unbedingt ein guter Grund für eine Rückschau, aber ein günstiger Anlaß, denn Positionsbestimmungen tun mir immer gut. Gleichzeitig ist es gar nicht so einfach, diese Position zu bestimmen; zu vieles ist ständig im Fluß und läßt sich nur unzureichend beurteilen.
Auf zwei Themen möchte ich mich konzentrieren: auf den Sex und auf den Schwermut.
Sex ist ja nun etwas, das in meinem Leben eher nicht passiert. Nun ergab es sich kürzlich aber, daß ich eine Antwort auf die Frage erhielt, wie es sich zu zweit in meinem Bett liegt: es liegt sich gut. Wir haben viel gelacht, es war sehr einfach. Es hat wenig verändert, zu dem wenigen zählt jedoch, daß ich mir meiner guten Seiten wieder sicherer bin. Es braucht jemand, der sie zum Vorschein bringt, aber sie sind da.
Ich möchte gerne mehr davon, mehr hedonistischen Sex. Hedonistische Arrangements tun nicht weh. Es tut weh, sich zu verknallen, und man weiß vorher nicht, ob das passieren wird, es überkommt einen ja tatsächlich wie ein Knall. Ich sehe da eine gewisse Schwierigkeit, dieselbe Schwierigkeit, die mich auch im Umgang mit dem zweiten Thema belastet. Ich möchte vermeiden, schwermütig zu sein, genauso wie ich vermeiden möchte, mich zu verknallen. Beides sind Gefühle, unkontrollierbar und irrational. Sie zu vermeiden ist nur möglich, wenn man sich dem Leben verschließt.
Ich möchte leben, jetzt, hier, in vollen Zügen. Ich möchte nicht mehr warten, es nicht mehr auf eine Zukunft verschieben, die dann so doch nicht eintritt. Es wird zerbrechliche, papierene Tage geben, und starke, schöne, intensive. „Paß auf Dich auf!“, rate ich mir selbst und denke gleichzeitig: „ach, bitte keine Ratschläge.“

[keine Kommentare]

100 Tage

Angeregt durch diesen Mann und natürlich durch Justyna möchte ich eine Zwischenbilanz ziehen. 100 Tage bloggen – was war gut, was war schlecht, lohnt es sich, weiter zu machen?

Zuerst das negative.
Dieses ständige Kreisen um sich selbst. Karim sagt, er habe das Tagebuchschreiben aufgegeben, weil es die Probleme künstlich aufbläht.
Die Zeit, der Aufwand, das beschissene Gefühl, in etwas zu investieren, das so unbeständig und temporär ist wie das Internet. Nicht sagen zu können, guck, da steht’s gebunden im Regal, Fragmente meines Lebens, handschriftlich in Sepia auf rauhem Papier.
Die Schmerzhaftigkeit mancher Geschichten. Es könnte durchaus Sinn machen, die Angst, das Scheitern und Versagen zu benennen, weil es die Dämonen versöhnlich stimmt und die Fragmente der Identität annähert. Aber zunächst tut es weh und hinterläßt für ein paar Tage das Gefühl, ein Stück Dreck zu sein.

Das positive.
Ich habe den sicherlich sehr subjektiven Eindruck, die letzten 100 Tage einen Hauch intensiver erlebt zu haben. Vielleicht bringt es doch etwas, das regelmäßige Innehalten, Festhalten dessen, was im Moment wichtig ist. Tatsächlich ist mir das eine oder andere klarer geworden. Es ist kein absolutes Verständnis. Es ist, als wäre man in einer fremden Metropole und würde gerade beginnen, sich zurechtzufinden. Viele Nebenstraßen und Stadtviertel bleiben rätselhaft, aber man kann sich schon auf eine oder zwei Hauptverkehrsachsen beziehen und erkennt einige Wahrzeichen. Ich habe manchmal dieses überraschende Gefühl, hey, hier war ich doch schon mal, der Moment des Erkennens, der Orientierung, der Groschen, der fällt – da geht es lang. Die Orte ändern sich, die Ziele ändern sich, das Glück des richtigen Weges ist kurz, aber immerhin.

Ich werde gelesen und manchmal auch verstanden. Das ist schön.
Es gibt drei oder vier Menschen, die hier lesen und mich im realen Leben mehr oder weniger gut kennen. Sie haben mir unabhängig voneinander gesagt, dieses Weblog würde unheimlich depressiv wirken. Ich mußte einsehen, daß die schwermütigen Texte deutlich überrepräsentiert sind. Über die glücklichen Momente schreibt sich eben so schwer. Es ist ein bisschen wie in einem Reparaturforum, in dem die Leute immer nur Hilferufe abgeben, weil etwas kaputt ist, nie schreiben sie darüber, ob und wie sie es repariert haben. Lassen Sie sich also nicht täuschen, liebe Leser.
Eine Kommentarfunktion wird es übrigens auch weiterhin nicht geben. Aber über die eine oder andere eMail würde ich mich freuen.

wrokk

Mein Hund hat manchmal Gras gefressen, kein Rasengras, sondern langes, spitzes, scharfes Gras, mit dem man sich sogar in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger hätte schneiden können.
Dann lief sie auf der Wiese auf und ab, spannte immer wieder die Muskeln des Rumpfes an, würgte, machte wrokk, wrokk, wrokk…es öffnete sich ihr Maul, man sah alle Zähne, und sie spukte ein Knäul Gras wieder aus.

Am Anfang hatte mich das sehr besorgt, dann lernte ich, daß Hunde auf diese Art die Haare loswerden, die sie aufnehmen, wenn sie sich lecken und die ihnen im Rachen oder in der Speiseröhre stecken.

Ich wünschte, ich könnte es auch einfach hochwürgen, ausspucken – dieser schwarze Klumpen, der mir auf der Seele liegt.

Mein Hund sah jedenfalls danach immer froh und sehr mit sich zufrieden aus.

shrink [und Bukowski, nacherzählt]

Bei Herrn Bov über die Simulation eines Psychiaters gestolpert.
Ich habe folgende Frage gestellt bekommen:

„Wie soll ich mit Ihnen reden, wenn Sie nichts sagen?“

Gute Frage. Ich werde mich also bemühen, aufzuschreiben, wie das Treffen mit Winnie am Sonntag und ihre Geburtstagsfeier gestern waren. Nein, ich werde mich bemühen, aufzuschreiben, was ich gefühlt habe…es ist ein bißchen, wie jemandem das Achterbahnfahren zu erklären, der noch nie Achterbahn gefahren ist. Der Wagen wurde ganz, ganz hoch gezogen, jetzt fällt man in die Tiefe, geht in die erste Kurve und man weiß, gleich kommt der Looping.

Ich wollte noch Bukowski einbringen. In seinem Buch Post Office erzählt er von seiner Arbeit als Briefsortierer bei der Post, d.h er sortiert nachts Briefe in die Kästen, die morgens von den Briefträgern ausgetragen werden. Irgendwann wird von ihm eine Weiterbildung verlangt, die er entweder besteht oder den Job verliert. Er soll Briefe, bei denen der Absender eine inkorrekte oder keine Postleitzahl angegeben hat, zuordnen. Dies bedeutet, daß er sämtliche Straßen samt der dazugehörigen Postleitzahl auswendig lernen muß. Bei einem Abschlußtest soll er 95 von 100 Straßen in 8 Minuten richtig zuordnen.
Er ist verzweifelt und weiß nicht, wie er das schaffen soll. Also schildert er seine Situation einem imaginären Psychiater. Dieser antwortet:

„Well, my boy, you`re not crazy for not wanting to study this. I`d be more apt to say that you were crazy if you wanted to study this. That`ll be $25.”

Und der Erzähler sagt:
„So I analysed myself and kept the money.“

Ich liebe diesen Satz.

(Am Ende muß er es dann doch lernen. Er hilft sich, in dem er sich die einzelnen Straßen als Personen vorstellt, die eine Orgie feiern. Jede Straße hat dabei besondere sexuelle Vorlieben. Die Eselsbrücke funktioniert.)