Nachtrag

Das Haus ist verkauft. Ich laufe durch die leeren Räume und spüre… nicht viel. Es hat keine Signifikanz für mich. Zuhause ist anderswo: in meiner Erinnerung, in meinen Texten, auf den dunkelroten Kissen meines Bettes, im Nachmittagstee, den meine Mutter aufgießt.

Weihnachten 2008 habe ich hauptsächlich Bauschutt geräumt, mit dem mein Vater vor Jahren oder Jahrzehnten den Schuppen abgedichtet hatte. Ich bin jetzt stärker als er. Ich weiß nicht, was passiert ist, mit mir, mit uns, aber es war wirklich schön, dieses schräge Weihnachten. Es hilft, das ich über vieles hinwegblicken kann, weil ich – und das ist das wirklich überraschende – verwurzelter in mir selbst bin, souveräner.
Schade, daß meine Schwester, die auf die vierzig zugeht, innerlich ein Teenager zu sein scheint. Sie terrorisiert meine Eltern mit einem Brief voller Anschuldigungen nach fast einem Jahr trotzigem Schweigens.
Dabei ist die Zeit so knapp, die man noch gemeinsam hat: vielleicht noch zehn Jahre, eher keine zwanzig.

Als ich wegfahre, winken mir die beiden nach, und werden im Rückspiegel immer kleiner.

an meine Schwester

Wir sind drei, aber eigentlich sind wir vier. Du fehlst, Schwester, und Dein Fehlen füllt den Raum.
In jeder Familie gibt es Dinge, über die nicht geredet wird. In jeder Familie gibt es Dinge, über die immer wieder und nahezu endlos geredet wird, ohne je zu einem Ergebnis zu kommen. Wir reden über Dich, Schwester. Meine Mutter zählt all die Gelegenheiten auf, an denen Du sie enttäuscht hast, mein Vater nickt und ich weiß nicht, zu wem ich halten soll, zu ihnen oder zu Dir, und vergesse darüber einmal mehr, wo eigentlich mein eigener Standpunkt ist.
Wieviel Macht Du hast, Schwester, obwohl oder gerade weil Dir alles egal ist. Selbst auf das Verhältnis zwischen unseren Eltern und mir hast Du Einfluß: manchmal scheren sie uns beide über einen Kamm und ich muß mir die Kritik anhören, die eigentlich für Dich bestimmt ist.
Diesmal bist nur Du das schwarze Schaf, und ich leuchte hell im Vergleich. Auch irgendwie unbefriedigend.

Ich habe von Dir gelernt, Schwester. Mir sind zunehmend Dinge egal, ich bin dem Zirkus müde. In diesem Jahr bist Du deutlich gelassener geworden, sagt Ruth. So könnte man es auch formulieren.
Die drei Kritikpunkte, die unsere Eltern sonst für mich reserviert haben, heißen: zu dick, berufliche Stagnation, Partnerlosigkeit. Also habe ich mir drei Sätze zurechtgelegt, um der Kritik zu begegnen. Ich mag mich, wie ich bin, vielleicht könnte dir das auch gelingen, war einer davon. Bei Konversationen über meinen Beruf spielte ich einen Seemann auf einer langen Schiffsreise, der nicht weiß, wann, aber doch sicher, daß er sein Ziel erreicht. Unsere Mutter hat schon mal Schmuck testamentarisch verteilt. Der Armreif paßt mir nicht, sagte ich, aber ich würde ihn gerne behalten, um ihn weiterzuvererben.
Und so hatten wir ein harmonisches, freudvolles Weihnachten ohne Dich und ohne verbales Einprügeln auf mich. Vielleicht spiegeln mir unsere Eltern nur die Kritik, die ich an mir selbst übe, und meinen es nur gut.
Unser Vater ist alt geworden, Schwester, und wenn ich Dir einen Rat geben kann… ich jedenfalls habe Zeit mit ihm verbracht – bewußt, spannend, genußvoll.

Seit einigen Jahren haben unsere Eltern und ich ein kleines Ritual: wir sitzen an einem der Weihnachtsfeiertage in einem Restaurant und kommen in unserem Gespräch an einen Punkt, der mich zum heulen bringt. Normalerweise handelt es sich dabei um Kritik an mir, aber wie gesagt, 2007 ist das Jahr, in dem ich mich nicht mehr so ernst nehme, in dem mir mehr Dinge egal sind, also wars dieses Jahr was anderes, daß mich zum heulen gebracht hat.
In jeder Familie gibt es Dinge, über die nicht geredet wird. In unserer Familie ist das eine Geschichte, die man in sehr wenigen oder in sehr vielen Sätzen erzählen könnte und die die meisten Menschen wahrscheinlich nicht nachvollziehen können… ich machs jetzt mal kurz: wir hatten ein Pferd, dessen Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war und das wir mit der Flasche aufgezogen haben. Als das Pferd vier war, als ich siebzehn war und Du, Schwester, vierundzwanzig, hat sich das Pferd in Deinem und in meinem Beisein das Genick gebrochen.
Jedenfalls, unsere Eltern und ich sitzen da in der Gaststätte Krone, das Essen ist gerade gekommen und ich löffle Spätzle auf meinen Teller, da sagt unsere Mutter plötzlich, daß ihr nach all den Jahren die Sache mit I., dem Pferd, doch immer noch nahe geht, daß sie manchmal nachts im Bett liegt und es brennt in ihr.
Und ich bin völlig perplex, weil wir darüber sonst wirklich nicht reden, und meine Nase wird rot und ich habe Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ich mag nicht in der Öffentlichkeit heulen.
Jedenfalls führt unsere Mutter in allen qualvollen Details, die ich echt erfolgreich verdrängt habe, aus, wie das damals war, und einer ihrer Halbsätze lautete, daß Du, Schwester, an jedem Nachmittag entgegen alle Abmachungen gehandelt hättest.
Ich habe zu viel vergessen von diesen Nachmittag, und letztendlich war es ganz einfach ein Unglücksfall, aber manchmal denke ich, daß nicht nur der Wirbel gebrochen ist, der dieses Pferd im Leben gehalten hat, sondern auch etwas zwischen Dir und mir und Dir und uns dreien.
Und natürlich etwas in mir, weil ich verloren habe, was ich geliebt habe – wohl zum ersten, sicher nicht zum letzten Mal in meinem Leben. Ich will mich nicht beklagen, ich weiß, das geht allen so, das Leben ist eben ein dynamischer Prozeß. Loslassen nennen das die Psychologen und Esoteriker, dabei wird eigentlich etwas aus einem herausgerissen. Ich beneide Dich, Schwester, weil die Sensibilität nicht gleichmäßig zwischen uns verteilt wurde: Du hast eine dicke Haut, ich eine dünne. Du hast es besser.

Notizen aus Outloggistan

– ich mußte kotzen. Acht Mal.
– Großteil der Woche lag ich malad und mit saurem Reflux im Bett.
– ich habe mir schon mal ein paar Gedanken über Weihnachten gemacht!
– will ich dieses Jahr mal eine Nordmanntanne? Die klassische Rotfichte, die ich eigentlich bevorzuge, nadelt echt heftig.
– ich finde heute noch Tannennadeln von dem Weihnachtsbaum von 2005 unter meinem Schreibtisch.
– wie jedes Jahr keimt auch dieses Jahr in mir der Wunsch, Weihnachten mal nicht bei meinen Eltern zu verbringen.
– im Weblog nachgeschaut: die letzten drei Weihnachten mit meiner Familie waren eine Qual.
– im Weblog steht leider auch eine sehr gute Begründung, warum ich mich dafür entschieden habe, Weihnachten mit meinen Eltern zu verbringen.
– dennoch gönne ich mir den Luxus der Illusion, dieses Weihnachten vielleicht mit Ruth zu verbringen.
– dieses Jahr habe ich viele gute Ideen, was ich verschenken werde.
– ich freu‘ mich schon.

Ticker

Gestern schlapp gefühlt, früh ins Bett, und aus Alpträumen aufgewacht: Halsschmerzen, beginnende Seitenstrang-Angina.
Ich lese am Samstag, egal wie es mir geht, notfalls stelle ich die Texte pantomimisch dar.

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So’n bisschen Schiß vor der Lesung habe ich ja schon. (Meinem Unterbewußtsein werden aber auch so miese Tricks wie jetzt mit ’ner Seitenstrangangina anzukommen, nichts helfen. Ich lese.)
Wie immer nehme ich alles sehr wichtig und sehr ernst, das kann ich nunmal nicht ändern. Persönlichkeit. Es würde mich also treffen, wenn die Lesung in die Hose geht, und ich mache mir ein wenig Sorgen, weil ich nicht weiß, ob McWinkel und ich das gleiche Zielpublikum haben.
Andererseits bin ich von den drei Texten, die ich lesen werde, überzeugt. Das sind gute Texte, gute Geschichten.

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Die Zeit ist ein wenig knapp. Mein Nachbar Ali hat mal wieder für eine Geschichte gesorgt. Außerdem gibt es jetzt schon Familienstreß wegen Weihnachten. Dabei war das doch gerade eben erst.

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Sie wollen mal wieder was gutes lesen?
Ein Schildkrötenleben. [via Frau Klugscheisser.]

(ohne Titel)

Ruth ruft an. Wir haben uns mehr als ein Jahr nicht gesprochen. Doch unser Band war nie völlig durchtrennt: eine SMS zum Geburtstag, eine Karte zu Weihnachten. Ich denke an sie, sie denkt an mich.
Wir erzählen uns ein Jahr in einer Stunde und finden schnell, was uns verbindet. She’s got an elegant mind. Ich liebe das an ihr.
Nach dem Schmuddelblogger fragt sie: damals Anlaß, aber nicht Grund für unsere Differenzen. Der Schmuddelblogger, Randnotiz in meinem Leben, Ruth aber, immer ein Teil davon. Und natürlich hatte sie recht, aber trotzdem mußte ich tun, was ich tun mußte. Alle Fehler sind notwenige Schritte auf dem Weg zu etwas richtigem.

Ich lege auf und bin ganz aufgekratzt, stöbere in alten Ordnern, in Erinnerungen. Ich gehe viel zu spät ins Bett und träume, ich könnte fliegen, lasse mich schwerelos von Luftströmungen tragen.

Weihnachten 2005 – Rückblick

Anreise 23.12., abends.

24.12. morgens: total gefetzt mit meiner Mutter.
Grund: Telefongespräch mit meiner Schwester. Schwester beklagt sich über ihren Job. Meine Mutter gibt ihr Ratschläge, anstatt ihr einfach zuzuhören. Sie macht also mit meiner Schwester genau das, was meine Schwester mit mir macht und was mich total auf die Palme bringt.
Ich sage das meiner Mutter, und auch, daß ich das nicht gut finde; darauf entgegnet meine Mutter, sie hätte sich lange genug ihren Töchtern gegenüber zurückgehalten und damit sei jetzt Schluß, jetzt sage sie ungeschminkt, was sie denke. Mein Argument, daß man Menschen nicht verändern könne, läßt sie nicht gelten. Ich weiß, was gleich kommt: Sippenhaft für meine Schwester und mich, d.h. meine Mutter ist eigentlich auf die Schwester sauer, aber ich werds mal wieder abbekommen.
„Ich geh dann mal raus!“, sage ich, total sauer und kurz vor einem innerlichen Taxibestellen – ichfahrsofortwieder.

Draußen baut mein Vater gerade den Gartenzaun ab, weil bald ein Baum im Vorgarten gefällt werden soll. Er läßt mich mit der Flex angerostete Schrauben durchtrennen. Ich genieße, daß er mich lobt, niemand lobt mich so wie mein Vater. Er freut sich, daß er eine Tochter hat, die flexen kann.

Der Rest der Feiertage verläuft ohne weitere Streitigkeiten.

Weihnachten 2005

Ein Drama in mehreren Akten.

1. Akt: September. Frau Fragmente glaubt, sie sei ganz besonders schlau. Die Eltern sind zu Besuch, das Weihnachtsthema wird angeschnitten und Frau F. verkündet, dieses Jahr Weihnachten nicht nach Hause zu kommen (dafür aber über Silverster).

2. Akt: September bis Oktober Frau Fragmente hat ein schlechtes Gewissen.

3. Akt: Ende Oktober Frau Fragmente trifft sich mit ihrer Schwester. Die Schwester regt an, ob die Eltern & Frau F. nicht zu Weihnachten in die schwesterliche Nähe kommen wollen, denn die Schwester könne nicht weg und so könnten wir „Weihnachten zusammen sein“. (Die Schwester lebt im Osten, die Eltern leben im Süden, Frau F. lebt im Westen.) Frau F. ist entzückt und wirft sofort das Internet an, um nette Hotels/ Kurorte / Unesco Weltkulturerbe in schwesterlicher Nähe zu finden, wo die Familie Weihnachten verbringen könnte.

4. Akt: Mitte November. Frau F. besucht die Eltern, Schwester samt schwesterlichen Ehegatten sind auch da. Alle fünf plus schwesterlicher Hund sitzen im schwäbischen in einer ökologischer Landbau/ Demeter/ Vollwert/ Lesben-Gaststätte. (Es schmeckt vorzüglich). Das Thema „Weihnachten 2005“ kommt auf den Tisch. Frau F. legt treuherzig einen Stapel ausgedruckter Weihnachtsarrangements auf den Tisch. Die Fürs und Widers werden diskutert. Meine Mutter ist schwer gereizt ob des Weihnachtsthemas. Als ich erwähne, daß sie (wie die meisten aus unserem Genpool) zu Weihnachten immer etwas schwermütig wird, streitet sie das heftig ab. Die ganze Sache läuft total schief, und ich verstehe mal wieder nicht, was los ist. Meine Schwester hat sich über meine Eltern in einer anderen Sache geärgert und macht sich darüber in unangemessener Weise (nämlich: Sarkasmus) Luft. Ich bin erst zweieinhalb Stunden wieder zuhause und möchte am liebsten sofort wieder gehen. Und wenn ich eines hasse, dann Konflikte, die beim Essen ausgetragen werden. Ich starre auf meine Spätzle. Ich bin wieder zwölf Jahre alt.

Abends bezieht mir meine Mutter mein Bett, ich nehme sie zur Seite und spreche nochmals „Weihnachten 2005“ an. Die Mutter ist sauer, und unter ihrem Ärger verletzt, vielleicht wünscht sie sich manchmal eine andere Familie, andere Töchter. Ich wollte nie andere Eltern, auch nicht, als sie wieder mit dieser großen, alten Ungerechtigkeit kommt, die es gibt, seit es mich gibt: die Sippenhaft der Töchter, dieses Vermischen von Ärger auf meine Schwester und mich. Meine Mutter will Töchter, die freudig und freiwillig an Weihnachten nach Hause kommen. Sie will keine Tochter, die nach Hause kommt, um es ihr recht zu machen. Wir wissen aber beide, daß es irgendwie blöd wäre, wenn wir Weihnachten nicht gemeinsam verbringen würden. „Familie“, sage ich, „Familie funktioniert nicht einfach so, da muß man auch mal was tun dafür“. Damit sage ich nicht, was sie hören möchte. Ich will doch nur, daß es ihr gut geht, daß sie sich wohl fühlt, daß sie zufrieden ist mit mir als Tochter, denke ich trotzig.
Die Mutter läßt noch ein paar Spitzen los über Weihnachten 2004, das wir in einem edlen Hotel verbrachten. Leider mußte ich beim Weihnachtsbüffett beinahe heulen wegen der Schwierigkeiten, die meine Eltern und ich zu dieser Zeit miteinander hatten. „Und was das gekostet hat!“, sagt sie, und meint, ich hätte es nicht zu schätzen gewußt.

5. Akt: wenig später Meine Schwester, ach, meine Schwester. Das große logistische Problem besteht darin, daß der schwesterliche Ehemann, seines Zeichens Workaholic, über Weihnachten kaum bis gar nicht frei bekommt, plus Kinder aus erster Ehe, plus seiner Eltern. Meine Schwester will Weihnachten mit unseren Eltern UND mit ihren Ehegatten feiern. Dies geht rein technisch in einer Welt ohne Beamen nur, wenn Opfer gebracht werden, aber meine Schwester will nicht diejenige sein, die Opfer bringt. Ich, ganz Opferlamm, bin zu allem bereit, aber meine Eltern haben die Schauze voll.

Meine Mutter schlägt „Weihnachten 2005“ im Süden ohne die Schwester vor. Ich buche lieber noch keine Bahntickets. Es könnte noch der eine oder andere Akt folgen.
(Robert Smith wünscht sich immer love, peace and happiness zu Weihnachten.)