Paradiesgärten

Mein Vater wird 77.
Er freut sich auf 88, sagt er, auch ich freue mich, und feiere mit ihm.

***

Bei den Eltern. Wir machen meinen Lieblingsspaziergang: ein Nebenarm des Neckars hat einen steilen Hang in die Landschaft geschnitten, Südwestlage, kleine Weinberge, alte Apfelbäume, dazwischen wilde Hecken. Vor fünfzehn Jahren, als ich jung war (noch ohne Abitur, aber noch mit Hund) da war dieser Weg sehr verwunschen, halb vergessen. Jetzt haben leider auch andere entdeckt, wie schön es hier ist, haben Gartenhäuser gebaut, Rasen statt Wiesen, und man ist nicht mehr allein.

Ich denke an früher, wie ich im Gras lag unter den Apfelbäumen, welche Träume, Wünsche und Sehnsüchte ich hatte. Ich wollte mit jemandem schlafen, im nassen, halbhohen Gras an jenem Hang, aber das ist nicht mehr möglich: es gibt diese Wiese so nicht mehr, es gibt diesen jemand nicht, und auch ich bin eine andere. Dieser Gedanke stürzt mich immer in Verzweiflung und tiefe Traurigkeit, wenn ich denke nichts ist möglich, genauso, wie das Gefühl alles ist möglich mich so euphorisiert.

Es ist wohl noch vieles möglich – aber nicht mehr alles.

***

Alle Ansätze zum Jammern werden zerquetscht von so viel Liebe. Von den Eltern, die verzückt sind, weil ich da bin, von den anderen, die mich aus der Ferne vermissen, selbst die Kollegen freuen sich, als ich wieder da bin.

Blöd, dass ich so schlecht darüber schreiben kann.

Feststellungen

Ich habe so ein Gefühl, und dränge Safran zum Aufbruch. Wir haben gut gegessen und gut geredet, aber jetzt müssen wir los, nicht die Tram, lieber ein Taxi, das geht schneller. Genau richtig, denn im Moment unserer Ankunft fängt Bernd Begemann an zu spielen.

Seine Musik schabt alle Behäbigkeit und alle Alltäglichkeit von mir ab. Er spielt schön und er spielt rockig, er spielt sanft und er spielt wahr. Dazwischen redet er viel, gibt den Clown und den Alleinunterhalter. Er sieht müde aus, unrasiert, unfrisiert. Manches kommt mir wirr vor, manche Songs halb abgebrochen. Bis ich dann endlich verstehe, wie sehr ich mich selbst sehe, wenn ich ihn beschreibe. Wie in einem Spiegel. Wirr und richtungslos, voller Kraft, mit der ich nicht weiß, wohin, und trotzdem immer so müde, aufgerieben von dem, was sich nicht ändern lässt – das bin doch ich. Und geschworen habe ich mir, nie wieder etwas fertig zu machen, nur um des Beendens Willen – irgendwann werde auch ich die Chuzpe haben, mitten im Song aufzuhören.

Einmal spüre ich Angst in mir, die Angst, so lächerlich zu sein wie jene, von der er in einem Song erzählt. Wow, denke ich, Angst, und bin ein bisschen beeindruckt, dass ein Song so viel auslösen kann. Erinnere mich dann, dass ich vor nichts Angst haben muss, oder besser, dass ich die Angst nicht wegschieben brauche, es wird passieren, ich werde mich zum Trottel machen, oft noch in meinem Leben, und ich werde es aushalten können. Aushalten, ohne härter werden zu müssen. Mir kommt da nämlich so ein Gedanke – dass es nicht darum geht, härter zu werden, oder weicher, sondern größer, groß genug, damit alles in mir Platz hat: diese Freude und Lebendigkeit, der Schmerz und die Bitterkeit.

Und all diese Liebe. Bevor Safran gehen muss, ziehe ich sie in meine Arme, meine Hand um ihre Federknochentaille, ihre Hand in meinem Haar, und wir halten uns, halten uns. Nirgendwo anders möchte ich sein.

***

Nach der Show steht er hinter einem Tresen und verkauft CDs. Das Neonlicht ist hart und hell. Ich warte einen Moment, bis das Knäul an Menschen sich aufgelöst hat, immer noch unvertraut mit dieser Plötzlichkeit, mit der man auf einmal allein ist mit ihm. Er schaut mich an und sagt:

„Ich habe dein Blog gelesen.“

Er sagt es ernst und still, so wie alle vor ihm, die diesen Satz zu mir gesagt haben. Ich flüchte mich in die Geschichte vom Europachef und dem Büroteppich, und merke, während ich erzähle, dass das alles nicht so schlimm ist, beinahe schon nicht viel mehr als eine Anekdote, um andere zu unterhalten.

Frage dann, ob es schwer für ihn ist, seine melancholischen Songs vor Publikum zu spielen.
„Es kostet viel mehr Kraft, lustig zu sein“ sagt er müde, und ich bin überrascht, ich dachte immer, genau das wäre so sein Ding. Erinnere mich an die Bloglesungen, wie leicht der Applaus kommt, wenn die Texte witzig sind, und wie schwer die Stille wiegt, wenn sie bitter sind.

„Das, was du als Melancholie bezeichnest, das sind doch bloß Feststellungen“, meint er, und hat Recht, auch wenn wir nicht einer Meinung sind. Melancholie ist das, was entsteht, wenn wir feststellen (müssen), dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns wünschen. Er hat recht, Melancholie ist ein bourgeoises Gefühl, er hat recht, wenn er es verachtet, aber alles recht haben nützt nichts, wenn man mittendrin steckt in diesem Gefühl.

„Meine Kunst ist es eigentlich, das Publikum lesen zu können“, sagt er, „genau zu wissen, ob sie die rockigen Songs hören wollen oder die stillen, neue Sachen oder alte… aber heute… ihr habt eure Karten echt bedeckt gehalten!“. Er schüttelt den Kopf.

„Es ist genau richtig, so wie es ist“, sage ich, und meine nicht nur seine Show.

Bernd Begemann, 18.10.11

„Die Bankentürme stehen ja noch!“ ruft Bernd Begemann empört. Wir lachen. Gerade eben habe ich noch in einem gearbeitet, jetzt stehe ich hier und lasse mich von ihm unterhalten. 2005 habe ich ihn das letzte Mal gesehen, die Clubs sind nicht größer geworden, alles wie immer, nur wir beide sind ein wenig abgekämpfter und ein bisschen dicker geworden. Er gibt sein bestes, und ich genieße es, die Musik in meinem Körper zu spüren. Die Frankfurter bleiben reserviert, die erste Reihe mit einem halben Meter Abstand von der Bühne, nur nicht zu nah, nur nicht zu begeistert. Die Männer wippen manchmal unauffällig mit, die rechte Hand fest um die Bierflasche geschlungen. Nicole und ihr Mann tanzen, und manchmal sogar ich, hingerissen von diesen Songs, von denen man nicht so recht weiß, ob sie Schlager sind oder Pop oder doch große Poesie.

Ich war schön, als niemand hinsah,
ich war brilliant, als es egal war
Kellner beim Fest, auf dem ich selbst
Nicht erwünscht war.

Nach dem Konzert will ich CDs von ihm kaufen; ich warte, bis sich der Ansturm gelegt hat und bin plötzlich beinahe allein mit ihm. Ich mache ein wenig Smalltalk, dass es mir sehr gefallen hat, dass das Publikum ja etwas schwierig war, dass ich ihn vor ein paar Jahren in Berlin gesehen habe…, und wie in Berlin bekomme ich keinen Kontakt mit ihm, bis sich plötzlich ein Schalter umlegt, ich verstehe nicht, wieso, aber er blickt mich an und ist ganz da. Was denn mein Lieblingssong sei, fragt er. Ich mag wir werden uns umsehen, sage ich, das hatte er an diesem Abend gespielt, aber meinen anderen Wunsch, ich nehme es zu schwer, den nicht. War vielleicht auch zu schwer, meine ich, melancholische Songs vor schwierigem Publikum, aber ich, ich mag eben das melancholische. Oh ja, ruft er, den Song hätte er eigentlich spielen wollen, aber dann vergessen – dann spielt er ihn eben jetzt. Jaja, denke ich, und bin ein wenig skeptisch, aber dann geht er nach hinten, schaltet die Hintergrundmusik ab, schnallt sich die orangefarbene Gretsch-Gitarre um, stöpselt sie ein und spielt, eine Armeslänge von mir entfernt, ganz langsam.

Dreht mich im Riesenrad,
auf und ab,
doch der Rummelplatz
bleibt für ich menschenleer

ich nehm’ es zu schwer.

Dann umarmt mich, drückt mir einen Kuß zwischen Wange und Nacken in mein Haar, und ich bin geflasht, berauscht, beglückt und dankbar. Will den Moment festhalten – die Musik soll niemals aufhören – und weiß doch, dass es dazugehört, dass es vergeht.

***

Bernd Begemann spielt am 13. März 2012 in Frankfurt.

Weitere Tourdaten.

Amazon.

(ohne Titel)

Ich laufe den Gang entlang in ihr Büro und sage:

„Ich will mich nur mal kurz hinlegen!“

Und dann lege ich mich hin. Einfach so. Auf den Büroteppich.

„Aber was ist denn los?!?“, fragt sie, und ich sage:

„Nix. Ich will mich nur mal kurz hinlegen.“

„Was ist den passiert???“

„Nix. Laß mich doch hier einfach liegen.“

„Jetzt bin ich besorgt!“

„Tipp weiter, das beruhigt mich.“

Und sie tippt, klack klick klack klack, und ich atme, ein aus, ein aus, fünfzehn Mal, ich will mich sortieren, ich will ganz bei mir sein. Heute war tatsächlich nix, niemand hat geschrieen, nichts ist explodiert, ist nur viel Arbeit gerade, deshalb stehe ich wieder auf und kehre zu meinem Schreibtisch zurück..

***

Dieses Aufgedrehtsein, ständig unter Strom, unter Spannung, überdreht wie ein Aufziehspielzeug. Bitte, bitte, bitte, bitte, denke ich, bitte, ihr Götter, lasst es einmal auch zu etwas führen, etwas bewegen. Lasst mich mehr sein als nur ein dummer Spielzeugfrosch aus Blech.

***

Mittags gehe ich raus, Tom Kha Gai ist ja auch Hühnersuppe, soll gut für die Seele sein. Meine Lieblingsbedienung bedient mich, mit ihrer freundlichen, stillen Art, die ich so mag, und im Lokal läuft ein Track aus American Beauty. Ich weiß sofort, zu welcher Szene die Musik gehört.

Auf dem Rückweg steht vor der Drehtür der neue Crush, kleiner und blonder als der alte, und mehr von sich überzeugt. Er trägt keinen Anzug, und keinen Pullover, und keine Jacke, sondern ein T-Shirt. Mir ist, als hätte ich Ewigkeiten keine nackten Männerarme mehr gesehen.

Sicher ist ihm kalt, denke ich, und dann, wie müde ich doch bin.

Ein dreibeiniger Hund

Heute bin ich ziemlich unglücklich. Ein Gefühl wie amputiert, ein dreibeiniger Hund. Man humpelt so vor sich hin und kommt irgendwie vorwärts, langsam und beschwerlich. Clumsy.

Und dann erst dieses Selbstmitleid. Dieser Pathos. Kann es selbst schon nicht mehr hören. Vielleicht sollte ich nicht immer davon erzählen, wie ich mich fühle, sondern lieber, was ich mache. Das außen in all seiner Trivialität. Genauso profan wie das innen.

„What are you doing?“, fragte das frühe Twitter-Layout damals. Und wir schrieben, was wir taten, und was wir aßen, ich besonders, was ich las und wie der Himmel aussah.

Heute kaufte die Frau an der Kasse vor mir genau dasselbe wie ich. Und eine Frau, die mit mir am Bahnsteig auf die U-Bahn wartete, las dasselbe Buch wie ich.
Heute stand ich am Fenster des Bankenturms, zwanzig Stockwerke unter mir, und überlegte, wieviele der Menschen in diesem Gebäude wohl glücklich sind.

Hauptsache, wir sind alle beschäftigt. Dann fragt niemand: „bist du glücklich?“.

Happily ever after

„All meine Liebesgeschichten gehen immer schlecht aus!“ beklage ich mich bei ihr.

„Alle Liebesgeschichten gehen immer schlecht aus. Nicht nur deine“, sagt sie und lächelt ihr feines Lächeln.

„Aber du bist doch da ein Gegenbeispiel“, meine ich, „du bist glücklich verheiratet.“

„Meine Liebesgeschichte ist ja auch noch nicht zuende“, antwortet sie.

Zweihundert Kilometer

„Ich kann deinen Vater nicht erreichen“, sagt meine Mutter am Telefon. Es ist Montagabend, der erste Tag ihrer Reise. Ich habe Donnerstag und Freitag frei, werde am Mittwochabend zu meinem Vater fahren, so dass er nur drei Tage allein ist. Das schafft er. Eigentlich. Und jetzt geht er nicht ans Telefon.
Mit der Leitung im unteren Stockwerk stimmt etwas nicht, es klingelt fünf Mal, aber dann kommt ein seltsamer Ton statt des Anrufbeantwortes. Vielleicht hat er das Mobilteil verlegt, oder es mal wieder nicht aufgeladen. Also rufe ich auf der Leitung im oberen Stockwerk an. Nebenbei läuft eine halbe Folge „Danni Lowinski“, während ich das Telefon immer wieder klingeln lasse, ein menschlicher Wählautomat. Selbst wenn er gerade fernsieht, den Ton laut hat, irgendwann muss er das doch mal hören? Er hört es nicht.

Meine Mutter ruft wieder an, und wir beraten uns. Blöd, dass mein Vater vor zwei Wochen sein Handy verloren hat. Wir wollten am Ende der Woche gemeinsam ein neues aussuchen, drei Tage ohne Handy, das geht, da war ich mir sicher. Noch blöder, dass die Nachbarn nebenan ihren Sohn in München besuchen, ausgerechnet jetzt, mein Vater füttert ihre Katzen. Hoffentlich. Die Nachbarin gegenüber ist schon neunzig, hat ein Hörgerät und Angst vor den Russen. Die Lehrerfamilie die Straße runter.. auch verreist, sind ja Faschingsferien. Meine Mutter denkt nach, und erinnert sich dann an eine Frau König, keine direkte Nachbarin mehr, aber immerhin in Laufweite. Ich google ihre Telefonnummer, rufe an, es geht der Anrufbeantworter dran und nennt eine Mobilnummer, unter der ich auch niemanden erreiche.
„Dann fahre ich eben selbst hin!“, sagt meine Mutter und klingt so klein, so traurig und besorgt. „Wenn irgendjemand fährt, dann fahre ich!“, sage ich. Meine Mutter braucht diese Reise, und ich brauche, dass sie diese Reise kriegt, sie nicht abbrechen muss, um ihren Mann zu betreuen. Wir streiten uns dann aber doch noch ein bisschen, ich bin dagegen, dass sie so spät abends noch so weit Auto fährt, sie ist dagegen, dass ich so spät abends noch so weit Auto fahre, um dann am nächsten Morgen vor der Arbeit die selbe Strecke wieder zurückzufahren. Während wir streiten, reiße ich die nächstbeste Tasche von Haken, stopfe eine Hose von glücklicherweise noch nicht aufgeräumten Wäscheständer, Unterwäsche dazu und ein Top, der Waschbeutel ist auch noch gefüllt. „Ich fahre jetzt“ sage ich, und dann fahre ich.

Das Auto liegt gut auf der Straße, die weißen Markierungen rauschen an mir vorbei, tschik tschik tschik, ich fahre so schnell ich kann, ohne unvernünftig zu sein. Ich denke an meinen Vater. Ich sehe ihn in einer Blutlache am Fuße der Treppe. Ich sehe ihn zusammengebrochen im Bad. Ich sehe ihn eingenickt im Fernsehsessel. Ich sehe ihn im Bett liegen, tot. Ich sehe ihn gar nicht, ich kann ihn nicht finden, er hat sich verirrt. Er hat sich eingeschlossen im Haus der Nachbarn, deren Katzen er füttern wollte. Er ist dort ausgerutscht. Er ist irgendwo anders ausgerutscht. Er ist überfallen worden.

Und dann sind zweihundert Kilometer vorbei, ich biege in die Einfahrt, sprinte die Stufen hoch, keine Jacke an. Ich klingele, schließe die Haustür auf, rufe nach ihm. Gehe in sein Schlafzimmer. Er liegt im Bett wie ein Pharao, die Hände auf dem Bauch gefaltet, blinzelt mich an und sagt: da bist du ja schon!

Ich fühle mich deppert, und ich bin froh. Das Telefon ist tot, das Kabel aus der Buchse gerissen. Wir rufen über mein Mobiltelefon meine Mutter an. Ich umarme meinen Vater. Irgendwann gehe ich ins Bett, es dauert, bis ich zur Ruhe kommen kann. Nach ein paar Stunden stehe ich auf und fahre zurück. Die rauhbereiften Weinberge und Streuobstwiesen sind erst in rosa Dämmerlicht getaucht, dann geht die Sonne in meinem Rückspiegel auf, eine kleine, helle Orange.
Auf der Arbeit bin ich seltsam heiter, und sehe aus wie aus dem Ei gepellt.

***

Zwei Tage später, nochmals zweihundert Kilometer, planmäßig diesmal. Wir kaufen ein, ich koche, der Tag schmilzt so vor sich hin. Am Nachmittag hält mein Vater ein Nickerchen, auf seinem Bett liegend, und ich lege mich einen Moment neben ihn. Wir schauen aus dem Fenster, die Gardinen müssten mal gewaschen werden, und reden so über dies und das. Im Stillen überlege ich, was wir unbedingt noch machen, gemeinsam unternehmen sollten, solange es noch geht. Ich überlege hin und her, und plötzlich wird mir klar: es geht nicht ums machen. Es geht ums sein.

***

Mein Vater wird gehen, wird unerreichbar werden für mich. Aber noch nicht jetzt.

***

Meine Mutter kommt von ihrer Reise zurück, gut gelaunt und belebt von neuen Eindrücken und Begegnungen. Nur ich bin seltsam grantig. Wir müssen reden, meine Mutter und ich, und ich will nicht, und muß doch.
Am Samstagnachmittag bitte ich sie um ein wenig Zeit, und wir setzen uns zusammen. Fast eine kleine Vorstandssitzung, sogar eine Agenda habe ich gemacht. Erst reden wir über die einfachen Dinge: meinen Vater, geplante Reisen, die Feiertage. Dann über das, was mir weniger leicht über die Lippen geht: dass ich mich manchmal fühle wie ein Zahnrad ohne Zähne, ich wirble mit aller Kraft um die eigene Achse, und treibe doch nichts an, nichts voran: dieses mäandernde Leben kommt nicht vorwärts. Mich frustriert das, und ich weiß, sie auch, und sie kann nicht verstehen, weshalb ausgerechnet ihr goldenes Kind, geboren in diesem Zeitalter aller Möglichkeiten, nicht mindestens einen Konzern leitet, und glücklich ist dabei. Deshalb pusht sie mich, ich verstehe das, aber all dieses pushen bringt nichts, außer dass ich mich schlecht fühle. Die einzige, die etwas verändern kann, bin ich. Und ich tue, was ich kann.

Und meine Mutter versteht, das ist ein großes Glück..

***

„Nach Hause“ tippe ich ins Navigationsgerät. Zuhause. Das ist dort, wo ich bin, wo ich bei mir bin. Ich komme an, zweihundert Kilometer, blaue Stunde. Laufe über den Parkplatz, und bin für einen Moment, ein Fragment, glücklich. Überraschend bin ich doch irgendwie die Frau geworden, die ich sein will.

transzendental

Sie reden über Essen. Welcher Sandwichbelag der beste ist, und dann, als die U-Bahn oberirdisch fährt, wie krass satt man von den Nudeln aus dem Asia-Imbiß an der Ecke wird.

Ich beginne gerade, ihre Stimmen auszublenden, da fragt der eine den anderen, woher kommst du?, und der andere sagt Palästina, und ich werde neugierig. Was kommt jetzt? Außenpolitik? Unabhängigkeitskrieg?
Was habt ihr für Essen?, fragt der eine, und der andere sagt: arabisch.

Dann reden sie über den Führerschein, der eine will jetzt anfangen, damit er mit 17 schon begleitet fahren darf, der andere fährt lieber Roller, das ist billiger.

Als ich sie gerade wieder ausblenden will, sprechen sie über Frauen. Der eine, der immer ein bisschen mehr zu reden scheint als der andere, erzählt von dieser einen dicken Frau, voll fett ey sagt er und meint es nicht so, wie es die Rapper sagen, und daß sie jeden Typen kriegt, sehr rätselhaft, wir rätseln alle drei, magic vagina vielleicht, oder einfach nur Wärme und Sinnlichkeit, oder sechzehn sein und wissen, wer man ist. Wir wissen davon nichts.

Und der eine erzählt von der Disco, wie er von hinten die Frauen antanzt, und daß man immer einen Freund haben sollte, der die Frau von vorne sieht, Daumen hoch oder Daumen runter. Und daß er das voll lang kann, sich in der Hocke am Hintern einer Frau zu reiben. (Das wird spannend, denke ich, wenn er rausfindet, daß man das auch im liegen tun kann).

Einmal, erzählt der eine dem anderen, da hätte er voll lange mit einer Frau so getanzt, gegen eine Metallstange gelehnt, und ihre.. die U-Bahngeräusche verschucken, wie er ihre Schamlippen nennt.. hätten sich an ihn gerieben, und Mann, sagt er, mein Schwanz ist so hart geworden, das glaubst du gar nicht, so hart.

Er leuchtet so, als er davon erzählt, beinahe transzendental, und ich denke, daß er irgendwie recht hat, und wir Erwachsenen, wir haben Unrecht, wenn wir das Sexuelle als etwas profanes betrachten, wo es doch so unfassbar, unsagbar großartig ist.