Uncool

Der Valentinstag ist doof zu finden, eine verachtenswerte Kommerzscheiße, den sich Blumenhändler ausgedacht haben. Das sagte auch mein Sitznachbar in der S-Bahn, darauf angesprochen von einem Fahrgast. Nicht ganz in Einklang mit dieser Äußerung bringen ließ sich die gigantische Ikea-Tasche zu den Füßen des Sitznachbarn, in der sich ein Konstrukt aus Geschenkfolie und Luftballons verbarg, ebensowenig der quer über seinen Schoß liegende, langstieliger Blumenstrauß, und schon gar nicht das feine, vorfreudige Lächeln auf seinem Gesicht, das ich ein paar Stationen später beobachtete.

Als ich eine junge Frau war, vielleicht gerade mal zwanzig, 2. Semester oder so, da habe ich am 14. Februar eine Prüfung in Anorganischer Chemie nachgeschrieben. Zusammen mit mindestens fünfzig anderen Unglücklichen stand ich morgens kurz vor acht vor dem Hörsaal und versuchte, mir mittels Karteikärtchen noch ein paar letzte Fakten einzuprägen. Während ich Summenformeln paukte, bekam die Frau neben mir von ihrem Freund eine weiße Calla-Lilie geschenkt, und dazu – viel wichtiger – das Geschenk seiner Anwesenheit, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Seitdem bin ich ein wenig neidisch, und ich wünschte..

Aber auf die Liebe hat man kein Anrecht, keinen Anspruch, sie ist ein Wunder, das einem passiert, oder auch nicht. Und vielleicht geht es mir wie der Cat on a leash: longing for the Place Not Here.

Kummer & Glück

Versehentlich in der Mittagspause vor der Kollegin geweint. Sie ist mehr als eine Kollegin, fast schon eine Freundin, und all meine Freunde haben diese mich immer wieder verwundernde Gabe, mit einem Blick beurteilen zu können, wie es mir geht. Vor ein paar Jahren sagte mal einer zu mir: „du warst während des Meetings total sauer, ich habe das an deinem neutralen Gesichtsausdruck erkannt.“
Vielleicht aber bin ich einfach wie klares, kaltes Wasser, man sieht mit einem Blick bis auf den Grund. Sie jedenfalls fragt besorgt, was denn los sei, und kurz zucke ich und erwäge, zu lügen, alles okay, ist nur so kalt draußen, der Wind treibt einem die Tränen in die Augen, aber ich werde immer weich, wenn andere so warmherzig und aufmerksam zu mir sind. Und ich erzähle, skizziere ihr die Situation in drei oder vier Sätzen, von denen ein oder zwei mir die Luft abschnüren. Es ist kein richtiges heulen, kein Hoover-Damm, der bricht, eher eine Wischerei ums Auge herum, die Nase rot und die Stimme verheult, ein schwerer Seufzer, dann streichelt sie mir den Oberarm, das mag ich immer gerne, das tröstet.

Hinterher ist es mir ein bisschen peinlich, und ich frage mich: war es richtig, mich so gehen zu lassen? Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal vor jemanden geheult habe. Es ist ewig her. Als der Hund gestorben ist, sicherlich, und vor dem Coach einmal, aber das war geplant, dafür habe ich bezahlt, auf die beste aller Arten, nämlich mit Geld. Jetzt habe ich mich exponiert und frage mich: kommt da noch eine Rechnung?

Es kommt: eine Offenbarung. Ein paar Tage später gehen die Kollegin und ich abends essen, und sie öffnet sich mir. Einen Teil dachte ich mir schon, anderes überrascht mich ziemlich. Mich ehrt ihr Vertrauen, und wir beide rücken innerlich spürbar zueinander hin.
Man vergisst schnell, daß man die Schutzschilde herunternehmen muss, um Nähe zuzulassen, und von sich erzählen, um verstanden zu werden.

***

Wieviele Menschen sind wirklich glücklich, oder auch nur halbwegs glücklich, oder wenigstens zufrieden? Mit wem würde ich tauschen wollen, wen beneide ich mit dieser Art von Neid, die die höchste Form der Anerkennung ist? Die Menschen erscheinen einem glücklicher, je weniger gut man sie kennt.

Und ich? Bin ich glücklich?
Aber ja. In Momenten. In Fragmenten. Egal, was ist, ein Gefühl kommt seltsamerweise immer wieder zu mir zurück:
das Leben als ein vollreifer, sommerwarmer Pfirsich, in den ich hineinbeißen möchte, der Saft läuft mir am Kinn herab. Und meine Bitterkeit ist nichts, daß mir alles vergällt, sondern wie ein feines, exotisches Gewürz, ein zarter Geschmack, der allem eine Tiefe verleiht.

der Fall

Es sind sehr schöne Schuhe: Budapester mit feiner Schnürung und hohen Absätzen. Ich sehe sie zuerst an meiner Kollegin; frage, wo sie sie gekauft hat und ob es okay wäre, wenn ich mir dieselben kaufe. Ein paar Tage später komme ich am richtigen Geschäft vorbei: sie haben noch genau ein Paar, in exakt meiner Größe, das ich anprobiere. Sitzt wie angegossen. Fünfzig Prozent reduziert. Was für ein Glück!, denke ich und bin sehr heiter.

Freitagabend. Nichts läuft rund, das Büro hat Unwucht, ich komme erst um halb acht raus aus dem Bankenturm mit diesem unguten Gefühl nichts geschafft und niemandem helfen gekonnt zu haben. Müde bin ich, fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn, wo jemand erbost in sein Mobiltelefon brüllt. Es braucht Kraft, sich abzugrenzen, die Menschen zu ertragen, und ich merke, dass mein Faß beinahe leer ist, und die Schöpfkelle am Boden entlang schrammt. Ich steige aus, wünschte, ich wäre schon zuhause, muss aber noch zum Supermarkt, den Gehweg durch die Nacht an der vielbefahrenen Straße entlang. Ich knicke mit dem rechten Fuß um, stolpere, versuche mich mit dem anderen Fuß aufzufangen, bleibe hängen und schlage der Länge nach hin, mit dem Gesicht dem Asphalt entgegen wie ein fallender Baumstamm. Ich fange mich mit den Händen ab, spüre den Aufprall trotzdem an meinen Brüsten, nicht überraschend und auch nur eingeschränkt witzig, schabe mit dem Kinn über die Gehwegplatten. Am meisten aber leidet meine Würde, so dass ich sofort wieder aufstehe, weitergehe, vollgepumpt mit Adrenalin, froh, dass keine offensichtlichen Zeugen gab.

All diese Schritte, die mich an diesen Punkt geführt haben, an den Ort, an dem ich gefallen bin. Ich kann es nicht verstehen, kann nicht verstehen, wie ich dort hingekommen bin. Und doch war ich es, die diesen Weg gegangen ist, Schritt für Schritt.

***

Viele Metaphern kann man spinnen aus diesem Fall. Die Freundinnen, denen ich davon erzählt haben, fragten als erstes: hast du dich verletzt? Nein, habe ich nicht, kein Riss in der Hose, das Kinn ein wenig rot, aber kein Blut, die lederbehandschuhten Hände sind auch okay, ebenso die Brüste, vielen Dank. „Dein Leben!“, meint die beste Freundin, andere hätten ins Krankenhaus gemusst. „Du bist ja sofort wieder aufgestanden“, sagt eine weitere, das hört man von einer Freundin lieber als von einem Blogkommentator, der schreibt: „wieder aufstehen ist das allerwichtigste im Leben [mehrere Ausrufezeichen]“. Die hohen Absätze als Symbol für Hybris, oder das scheinbare Glück, das sich als Unglück entpuppt. Märchenmotive.

Als ich jünger war, da war es mir wichtig, das Leben zu beschreiben, festzuhalten. Den roten Faden finden, und Pointen – immer diese Suche nach Pointen. Jetzt denke ich: Dinge passieren, das Leben geht weiter.

Als ich jünger war, da hatte ich nicht immer recht. Die Metaphern, die ich spann, waren oft mehr Poesie als Wahrheit. Ich habe mit beiden Händen nach dem Leben gegriffen. Jetzt zieht es an mir vorbei, und meine Hände bleiben leer.

Rückenwind

Ich träume, dass ich zum Gericht gehe, nicht ängstlich, nur neugierig und interessiert: die Wohnungsbaugesellschaft IGW, bei der auch ich einen Mietvertrag habe, wird wegen falscher Nebenkostenabrechnungen verklagt, und das will ich mir ansehen.
Wie das in Träumen so ist, kann ich den richtigen Verhandlungssaal nicht finden, laufe ratlos durch das Gebäude, bis sich eine Mitarbeiterin mir annimmt: ihre Kollegin sei etwas nachlässig mit den Aushängen, sie müsse selbst erstmal schauen, in welchen Raum das ist. Sie bringt mich in einen Warteraum und schreitet davon.
Der Warteraum ist behördlich und voll von Menschen im Transit. Ich setze mich. Ein Mann begrüßt mich freundlich. Er ist langhaarig und ein wenig hager, so gar nicht mein Typ, doch etwas klickt zwischen ihm und mir. Seine Freunde sind auch da, sie kennen ihn als einen, der manchmal was riskiert. Manchmal klappts, und manchmal nicht, so daß er liebenswerter Durchschnitt bleibt. Heute aber, heute hat er Rückenwind, und bevor mans sich versieht, sind wir verliebt. Er streichelt meine Hände, liebkost und hält sie. Ich trage einen schwarzen Rock, so wie ich einen hatte, als ich jung war, und ich bin schön, so schön, wie ich eben war.
Es ist ein schönes Gefühl, das Verliebtsein, warm und hell und federleicht. Es trägt mich auch im Wachen durch den Tag, und überrascht mich – daß ich trotz meiner Bitterkeit zu solch hoffnungsvolle, optimistischen Träumen fähig bin.

(ohne Titel)

Ich stehe an der Kasse, nehme beiläufig aus den Augenwinkeln einen Mann wahr, der sich hinter mir anstellt. Er seufzt tief, das ist so einer, dem alles zu viel ist, das Einkaufen, das Leben, und jetzt auch noch so eine lange Schlange. Seine Atemwolke trifft mich wie eine kompakte Masse in meinem Nacken, die Haare hochgesteckt. Mich schaudert.

Ich sitze am Schreibtisch, er steht hinter mir. Ich blättere in Dokumenten, er versucht zu erklären und deutet dabei auf bestimmte Textteile. Dabei berühren seine großen Hände ein paar Mal die meinen, aus Versehen. Sie fühlen sich kalt an und glatt, auf eine angenehme, marmorne Weise. Ich schaudere.

Berührungen, die bleiben, und doch unterschiedlicher nicht sein könnten.

(ohne Titel)

„Eine Art, es zu betrachten, ist, dass Sie sterben in der Welt. Eine andere ist, dass nicht nur Sie in der Welt sterben, sondern auch all jene Welten, die in Ihnen geboren wurden, als Sie geboren wurden, in Ihnen sterben, wenn Sie sterben“, meint mein Coach, und Buddha lächelt uns an.

Krümel

Diese Momente, erzähle ich, in denen alles ganz großartig ist, das Leben wunderbar, die Krispheit der Tage, Wind auf der Haut, das tock tock tock der Schritte. Wie mich dann eine große Freude ergreift, am Leben zu sein, eine Lebenslust, eine Lust am Leben, aber auch eine Nachdenklichkeit – keine Angst vor dem Tod, nein. Wenn man tot ist, dann ist man tot. Aber wie es wohl ist, wenn man weiß, dass sich diese Momente dem Ende zuneigen? Wenn man in die Tüte schaut und es sind nur noch ein paar Krümel drin?

„Wenn du dir alte Menschen anschaust“, meint er, „dann wirst du sehen, dass sie meist erledigt haben, was ihnen wichtig war, und das macht es einfach für sie, Abschied zu nehmen.“

„Inbox Zero?“, scherze ich, und nicke dann, weil ich verstehe: ich bin noch nicht fertig.

(ohne Titel)

Nach achteinhalb Stunden Schlaf auf dem Bettrand sitzend der erste Kaffee, das schöne Parkett unter den frisch pedikürten Zehen, die Wohnung angenehm beheizt. Der iPod spielt melancholische Lieder.

Warum bist du nicht glücklich?

Weil ich vieles habe, aber nicht alles haben kann.

Ich bin glücklich. Nur eben nicht jetzt.

Sonntagnachmittag

Diese Leere. Inbox Zero. Die Wohnung tiptop. Vorgekocht, getuppert, eingefroren. Erwägungen, den Telefon- und Internetprovider zu wechseln, dann ist man wieder drei Monate beschäftigt, kann sich aufregen und die Kollegen in der Mittagspause mit guten Geschichten unterhalten.

Im Oktober Urlaub. Die beste Freundin sehen, Leute im Ruhrgebiet treffen, Party bei Stijlroyal, meinen Geburtstag mit meinen Eltern feiern und dazwischen noch ein Date. Vielleicht noch ein paar Tage wegfahren, aber ich wüßte nicht, wohin, es brennt keine Sehnsucht in mir, es zieht mich nirgendwohin.

Es ist wohl keine Leere, sondern eine Sättigung, alle Bedürfnisse gedeckt, ein paar Lustmomente und Zerstreuungen als Zuckerstreusel obendrauf. Das ist ein Glück, irgendwie, aber Glück ist gar nicht so wichtig. Sinn ist, worauf es ankommt.