toxisch

Heute vor zwei Jahren begann das Ende meiner damaligen Arbeitssituation. Es hat dann noch ziemlich lange gedauert, bis sich die Wege und Projekte mit meinem Chef entwirrt haben; das letzte Mal hatten wir vor etwa einem Jahr Kontakt, als er mir ein paar Ratschläge für ein Vorstellungsgespräch gab. Es wurde das Vorstellungsgespräch des Grauens, und ich habe erkannt, dass ich nie mehr in diesem Bereich arbeiten will, und es auch nicht kann – aber das ist eine andere Geschichte.

Ich habe jetzt mehrere neue Chefs und einen Oberchef, vor dem alle mächtig Respekt haben, gelegentlich sogar zittern. Ich schwitze auch manchmal, wenn er in meinem Büro steht, aber… es ist ein gänzlich anderes Miteinander, mit meiner vorherigen Situation einfach nicht zu vergleichen. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr spüre ich all diese kleinen Verbesserungen, all diese Erleichterungen durch das Fehlen dieses alten Chefs. Es ist wie ein Gift, das langsam aus mir herausgespült wurde; er war wie ein Gift, das ich nun endlich los geworden bin, und dass es mir jetzt gut geht, hat auch ein wenig damit zu tun, dass ich mit ihm nichts mehr zu tun habe.

Pferdchen

Ich sitze mit meinen Eltern in einem gut besuchten Lokal; wir genießen die Frühlingssonne. Am Nebentisch fällt mir eine junge Frau auf, vielleicht Mitte zwanzig. Sie isst mit gesundem Appetit und bescheidenen Tischmanieren gemischten Braten, der Mann ihr gegenüber hat nichts bestellt, soviel kann ich sehen, auch wenn der Rest von ihm außerhalb meines Gesichtsfeldes bleibt.
Beide schweigen viel, ein anderes Schweigen als das an unsrem Tisch. Die Gesprächsfetzen zwischen der Stille rauschen an mir vorbei, bis auf einen: die Frau erzählt, dass sie in einer Gaststätte gearbeitet hat, besonders gefallen hat es ihr anscheinend nicht. Sie hat gekündigt und erwähnt, dass ihr Chef „eine große Liebe hatte“. Zu Spielautomaten.
Der Mann an ihrem Tisch entgegnet lässig, er habe auch viel Geld an Spielautomaten verloren, genug für einen Porsche.

Ein wenig später stehen wir auf und gehen. Ich kann einen besseren Blick auf die Frau werfen, sie sieht ganz gut aus, schlank, schmale Taille, ordentlich Busen, und sehr lange, lockige, schwarze Haare.

„Fandest du die nicht auch irgendwie merkwürdig, dieses Paar am Nebentisch?“, frage ich meine Mutter, und sie stimmt mir zu und sagt:

„Vielleicht war sie sein neues Pferdchen.“

Beklemmend, irgendwie.

(ohne Titel)

Mich entspannt, sicher und vor allem gelassen gefühlt in Situationen, die ich vor nicht allzu langer Zeit schwierig gefunden hätte. Woher kommt das? Das Alter? Der vergrößerte Erfahrungshorizont? Die Arbeit am Selbst?
Die Frage werde ich wohl im Rückblick beantworten können, wenn ich weiß, wie lange es hält.

Walzer

„Was habt ihr eigentlich damals so unternommen, bevor ihr geheiratet habt?“, frage ich meine Eltern.

„Ach“, sagen sie, „was man eben so macht. Spazieren gehen, Kaffee trinken, ins Kino, tanzen gehen… einmal waren wir auf einem Fest und haben Walzer getanzt, einfach so, obwohl gar keine Musik spielte.“ Und sie lächeln und leuchten.

(ohne Titel)

Ein guter Tag. Weinberge, Sonne, meine Eltern. Sind die guten Tage nur eine Vorauszahlung, ein Kredit, den man mit Zins und Zinseszins und tausend bleiernen Tagen zurückbezahlen muss? Ein Ausschlag der Hirnchemie nach oben, bevor es wieder steil nach unten geht?

Nicht drüber nachdenken. Leben.
Glücklich sein gibt keine gute Geschichten. Sorry.

Heute für einen Moment glücklich gewesen.

Manchmal bin ich für einen Moment glücklich, wenn ich von der Arbeit zur U-Bahn laufe: ich spüre ddie Stadt um mich herum, eine geschäftige Metropole; blaue Stunde, die Lichter gehen langsam an und die Türme leuchten; ich rieche den Asphalt und höre das tock tock tock meiner Absätze, und bin ganz da.

Heute fuhr ich im Auto, es war früher Nachmittag, die Sonne schien, der Himmel ganz blau, das erste satte Frühlingsgrün der Wiesen, in meiner Nase der Ledergeruch des Autos und im Radio ein guter Song, und ich war glücklich.

Ich bin überdurchschnittlich oft glücklich, wenn ich unterwegs bin. Es ist diese Art von Unterwegssein, die nichts von einem fordert, außer unterwegs sein: keine Termine, kein Zeitdruck, keine Hektik; keine innere Vorbereitung auf das, was einem am Ziel erwartet. Man kann gar nichts anderes tun.. außer zu sein.

Und ich bin dann einfach, bin glücklich, spüre meine Sinne und eine gewisse Dankbarkeit, weil mir mein Leben priviligiert vorkommt, und weil ich dankbar bin, es leben zu dürfen.

die Stille

Ich liebe meine Wohnung. Das Parkett, der Balkon, die Nachtmittagssonne, die großen Fenster, das frisch renovierte Bad, der Aufzug, warmes Wasser, gute Heizung.
Was ich aber am allermeisten liebe, das ist die Stille. Es gibt sicherlich stillere Orte, aber mir kommt es still vor. Die Straßenbahn hört sich an wie ein Rauschen, und dazwischen ist es so still, dass ich den Lüfter des Notebooks höre oder den Kompressor des Kühlschrankes. Am schönsten ist die Stille, wenn ich sie nicht höre, weil ich schlafe. Kein Basswummern von HipHopBaby, kein Fernseher der Alkoholikerin, keine Polizei mehr, auch kein stilles Erdulden, keine Furcht mehr.
Seit einigen Wochen höre ich aber auch in der neuen Wohnung etwas. Ich höre eine Frau beim Sex. Sie sagt: „es ist so geil! Ja! So geil ist das! So geil! Ja! Das ist so geil!“. Wenn es besonders geil ist, erzählt sie es fünfundvierzig Minuten lang, ohne Pause. Manchmal stöhnt sie auch ein bisschen. Einen Mann hört man nie. Welche Nachbarin das ist, blieb mir bislang verborgen, auch, warum man den Mann nicht hört. Oralsex? Für einen Pornofilm variiert es zu sehr. Eine Webcam oder Telefonsex? Es bleibt ein Rätsel. Nur eines weiß ich: sie begehren einander ziemlich oft – nachts um halb zwei, morgens um fünf, vormittags um neun. Nicht jeden Tag, aber gelegentlich mit nur ein paar Stunden Abstand. Manchmal wache ich auf, das T-Shirt halb hochgeschoben, und höre sie. Manchmal denke ich an Schultern, Schlüsselbeine, Hände zwischen meinen Beinen, und höre sie. Und manchmal fühle ich mich allein, wenn ich sie höre, während ich im Bett liege, der Wand zugewandt, aber meistens muß ich schmunzeln, und kann es ganz gut aushalten.

Es ist eben nichts perfekt, auch nicht die Stille.

Drei Tage, drei Ideen

1) Woher kommt das Bedürfnis, zu prokrastinieren, Dinge aufzuschieben?

Prokrastination ist ein fast schon im Übermaß durchgenudeltes Thema. Dieses Erklärungsmodell kannte ich noch nicht: als Erwachsene/r fehlt uns eine autoritäre Figur, die von uns bestimmte Dinge verlangt – zum Beispiel schreiben. Dabei stimmt das gar nicht: natürlich gibt es jemand oder etwas, dem sich jeder von uns beugen muss: der Zeit. Einen ähnlichen Gedanken hatte ich hier schon geäußert, ich war aber zu ironisch in meiner Haltung, um es ernst zu nehmen und annehmen zu können.
Von der Erkenntnis zur Veränderung ist es ohnehin ein weiter Weg. Vielleicht sollte man regelmäßig vor dem Rechner knien wie vor einem Altar, das Haupt beugen, Demut üben. Die meisten Schreibenden kennen den permanenten Drang, das Textdokument zu verlassen und im Internet zu surfen. Warum ist es so schmerzhaft, zu schreiben? Weil das, was man in Bits und Tinte festhält, niemals so gut sein kann wie das, was man im Kopf hat oder im Herz, wie die Vorstellung von der Geschichte, die man erzählen will? Wie mag es da erst den Filmschaffenden gehen… Ich versuche, zu üben, den Schmerz auszuhalten, zu umarmen, ihn mir wie eine Wolke vorzustellen, zu deren Mitte ich mich bewege. Bislang funktioniert das, und je mehr ich tippe, desto peripherer wird der Schmerz.

2) das Konzept des Schatten

Der Schatten ist ein Teil des Selbst, in dem sich alle negativen Eigenschaften, alle Schwächen und Makel eines Menschen konzentrieren, und den man vor anderen zu verbergen versucht. Gleichzeitig ist der Schatten eine Verbindung zum Unterbewusstsein und verwebt mit Kreativität und Lebendigkeit. Wer seinen eigenen Schatten kennt, schreibt besser Geschichten: Geschichten, die berühren, Tiefe besitzen und bei vielen Menschen Resonanz finden, weil sie von Archetypen erzählen.
Eine dieser Geschichten ist Ursula K. Le Guin’s „Erdsee-Zyklus“: der Zauberlehrling Ged öffnet ein verbotenes Buch, daraus entschlüpft ein Schatten, der nur unter größter Anstrengung von einem Meister zurückgedrängt werden kann. Der Zauberlehrling lernt, wird erwachsen und geht schließlich hinaus in die Welt, um Aufgaben zu meistern. Über allem scheint immer der Schatten zu liegen, eine kaum auszublendende Bedrohung. Eines Tages beschließt Ged, den Schatten zu konfrontieren und zu besiegen. Die beiden jagen einander um die halbe Welt. Schließlich können sie einander nicht mehr entkommen, und Ged gibt dem Schatten seinen eigenen Namen. Er erkennt, dass es sich um einen Teil von sich selbst handelt, und sagt: „ich bin [nun] ein ganzer Mensch, ich bin frei“.*
C. G. Jung, von dem das Konzept des Schattens stammt, begreift die Integration des Schattens in die Persönlichkeit als wichtiges Ziel innerhalb der analytischen Psychologie.

Der Therapeut Barry Michels arbeitet schwerpunktmäßig mit Drehbuchautoren aus Los Angeles. Deren höchste Hürde ist es, ihre Idee für einen Film oder eine Fernsehshow vor Produzenten zu pitchen. Michels schlägt folgende Übung vor:

To help a patient avoid freezing during a pitch—a problem that Michels attributes to trying to hide your Shadow from development executives—he’ll tell him to reassure his Shadow with the words “I love you and I care more about you than I do whether this pitch sells.” That is step one. Then he must invite the Shadow into the conference room, so that together they can address a silent scream—“Listen!”—to the assembled suits. “What it does is assert our—me and my Shadow’s—authority and right to have something to say,” Michels says. The third step takes place afterward, when, regardless of the outcome, the patient thanks the Shadow for its time, so that it knows the ego wasn’t just using it to get money. For writers, the analogy is clear: give the Shadow the respect you long for.

3) Part X

Part X beschreibt jenen Teil der Persönlichkeit, der voller Arroganz, Hypersentitivät und Launenhaftigkeit ist, der will, dass die Welt genau so ist, wie er sie haben will. Der innere Zweijährige, der Wutanfälle bekommt, weil der Trinkbecher nicht die richtige Farbe hat – es fallen einem zahlreiche Hollywoodpersönlichkeiten ein, die einen starken Part X haben. Warum eigentlich? Macht Part X die Menschen erfolgreicher, oder stärkt der Erfolg den Part X? Die meisten von uns müssen sich nämlich irgendwann damit abfinden, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie haben wollen. Aber auch ohne ein Hollywoodstar zu sein, kenne ich die Wutanfälle des inneren Zweijährigen: kraftzehrend und völlig sinnlos. Michels meint, Part X sei der Teil in uns, der sich der Veränderung verweigert. Auch gut zu wissen.

Drei Tage, drei Ideen, die ich interessant finde und die viele neue Fragen aufwerfen.

Quellen:
Dieser Eintrag beruht in großen Teilen auf „Barry Michels, Therapist for Blocked Screenwriters“ und zitiert teilweise wörtlich daraus.
Der Erdsee-Zyklus von Ursula K. Le Guin ist bei Amazon zu finden und bei Wikipedia erklärt.
Der mit * bezeichnete Satz ist aus der 5. Auflage des bei Heyne erschienenen Sammelbad „Erdsee“ zitiert.