die Pizza-Story

In den meisten Abteilungen an den meisten Arbeitsplätzen der Welt ist es üblich, daß, wer Geburstag hat, einen ausgibt. Bei Ruth wird immer gefrühstückt, andernorts gibt es womöglich Alkohol (Sekt! Bier!), bei uns gab es in der Regel Kuchen, manchmal auch Lunch. Mit dem trockenen Kuchen meines Chefs war ich schon recht vertraut, bis er eines Tages beschloss, keinen Kuchen mehr zu backen – zu viel Arbeit, zu wenig Zeit. Ich hätte es in Ordnung und irgendwie auch ehrlich gefunden, wenn der Chef einfach verkündet hätte, daß er keinen Kuchen mehr ausgibt, er ist schließlich Chef und wir sind nicht alle gleich. Indes, er beschloß, statt Kaffeekränzchen seinen Geburtstag mit einem Lunch zu feiern; zu diesem Anlaß sollte Pizza bestellt werden. Wir freuten uns. Der große Tag kam, wir durften Pizza bestellen – allerdings jeder nur ein Viertel. Dem Chef, der etwa das fünffache von uns verdiente, wäre es sonst zu teuer geworden.

An die Pizza-Story mußte ich gestern denken. Mein neuer Chef hatte Geburtstag und hatte Kuchen gekauft. Wir sind jetzt etwa 30. Es war guter Kuchen, es war genug für alle da und es war eine nette, normale Geste.

Mein Coach hat mich immer gebremst, wenn ich eine dieser Stromberg’schen Geschichten von meinem Chef erzählt habe, voll Wut und Verachtung und Lächerlichkeit. Es ist einfach, solche Geschichten zu erzählen, aber es macht es nicht einfacher, mit einem solchen Chef zusammenzuarbeiten, und auch nicht, sich auseinanderzusetzen mit dem, was war. Und auseinandersetzen muß ich mich, will ich mich, früher oder später, bis ich eine Pizza sehen kann und mich nicht mehr daran erinnere, daß man sie vierteln kann.

vor einem Jahr

Ich ging mit meinen Eltern durch einen Wald, der noch nicht grün war, die Bäume kahl, der Vorfrühling mit harter Hand zurückgehalten. Ich fühlte mich sehr nackt – keine Arbeit, kein Geld, vielleicht auch bald keine Wohnung mehr; keine Kategorie, in die ich mich einordnen konnte; kein Label, das meine Identität festlegt. Und dann, ganz plötzlich, empfand ich alles sehr intensiv: die Luft, die Geräusche, die ausgewaschenen Farben, den federnden Boden unter meinen Füßen. Ich spürte eine große Lebendigkeit in mir, eine große Freiheit – kein Halt mehr, aber auch nichts, das mich einengt, und für einen Moment war mir alles klar:
was das alles soll, und warum ich hier bin.

Fehlentscheidungen

Die sauteuren Tomaten, die nach Pappe schmecken. Die Schuhe, die ich nie trug; das Buch, das ich nie las. Die U-Bahn, die ich hätte erwischen; den Anruf, den ich hätte machen sollen. Die Flasche Wasser, die mir fehlt, den Pullover, den ich zu viel trage. Die Verabredung, der ich zu- oder absagen hätte sollen.
Kleine Fehlentscheidungen, die ich jeden Tag treffe. Seitdem ich beginne, darauf zu achten, sehe ich sie überall, und sie ärgern mich, aber sie stimmen mich auch milde gegenüber all den großen.

future self

Ich bin bekanntlich keine Freundin von Ratschlägen. Es gibt jedoch einen, der kommt mir öfter mal in den Sinn, obwohl ich auf den ersten Blick nicht zur Zielgruppe gehöre. Es ist ein Ratschlag an einen Teenager, der sexuelle Erfahrungen machen möchte, aber niemand interessiert sich für ihn:

Worry less about getting your young teenage self laid and start thinking about getting your 18- or 20-year-old self laid. Join a gym and get yourself a body that girls will find irresistible, read—read books—so that you’ll have something to say to girls (the best way to make girls think you’re interesting is to actually be interesting), and get out of the house and do shit—political shit, sporty shit, arty shit—so that you’ll meet different kinds of girls in different kinds of settings and become comfortable talking with them. (Quelle: Savage Love)

In dem Zusammenhang: Joseph Gordon-Levitt, ein Kinderstar aus „hinterm Mond gleich links“ und „10 Dinge, die ich an dir hasse“. Er verschwindet für ein paar Jahre von der Bildfläche, studiert an der Uni, dreht ein paar gute, wenig beachtete Indie-Filme, dann „(500) days of Summer“. Und in Inception steht da plötzlich ein eleganter, ausdrucksstarker Mann, kein Kind mehr, ein Mann, ein Schauspieler, und raubt einem den Atem. Aus so vielen Sternchen in Teenager-Serien ist nichts geworden (Jason Behr aus Roswell? James Van Der Beek aus Dawsons Creek? Irgendjemand aus ALF?), sie dienen viel zu oft letzen Endes als Futter für Skandalmeldungen von Drogensucht, Verhaftungen, psychischen und finanziellem Bankrott.
Was hat Gordon-Levitt anders gemacht? Obwohl ich es nicht mit Sicherheit weiß, gefällt mir der Gedanke, er hätte sich nicht darauf konzentriert, sofort ein berühmter Schauspieler zu werden, sondern später ein guter – indem er zur Uni geht, sich bildet, interessantes erlebt und in kleinen Filmen und harten Rollen sein Handwerk erprobt.

Dieser Rat, sich weniger Sorgen zu machen um eine sofortige Veränderung, sondern kleine Schritte hin zu dem future self, das man gerne sein möchte, der erscheint mir wirklich gut.
Auch für mich selbst.

nichts.

Heute blogge ich nichts. Heute ist ein blöder Tag. An nichts habe ich Freude, betäube mich mit Lachs und Nougateiern, Masturbation und Glee.
So blöde Tage kenne ich schon, da hilft nichts außer sie auszusitzen, sie gehen vorbei. Auch blöd: den Fernseher einschalten und ein explodierendes Atomkraftwerk sehen. Eigentlich sollte danach alles besser schmecken, unverseucht, man sollte sich freuen über das Wasser aus der Leitung, den Strom aus der Steckdose, dem Anruf der liebsten Freundin. Stattdessen sitzt man freudlos blöde Tage aus. Ein weiterer Tag aus den 30 000, die mir zu Verfügung gestellt wurden von irgendwem, der mich in diese Welt geworfen hat. 12 000 habe ich schon aufgebraucht. Wieder einer weniger, mit dem ich anderes hätte machen können mit einem gesunden Körper in einem Land, das nicht in Trümmern liegt.

unberührbar

Oh, wie ich es hasse zu schreiben. Wörter zäh wie… Metaphern, die mir nicht einfallen oder zu abgelutscht sind oder nicht passen. Buchstaben, die sich mit aller Kraft dagegen wehren, heruntergepresst zu werden, hineingepresst in mein digitales Lehmtäfelchen. Bevor ich irgendwas schreiben kann, muss ich erst das ganze Internet leer gelesen haben, bis all diese Stimmen meine eigene überschreien. Dann kann ich einen ersten Satz schreiben und mich fühlen wie Virginia Woolf („ich habe einen ersten Satz!“). Zwischen den Sätzen muss ich aufstehen und Zahnseide benutzen, das ist ja auch ganz wichtig. Und bei allem immer schön ironisch bleiben. Ironisch sein ist einfach. Man kann sich über alles äußern, ohne dass es einen selbst betrifft, unberührt, unverletzlich, unveränderlich, und dazu singt MC Hammer „can’t touch this“.

Aufschreiben heißt, etwas festzuhalten. Mich selbst festhalten, mich erkennen, in Fragmenten. Ich will das, und ich will das doch nicht, sonst wäre es nicht so schwer, sonst würde ich mich mir selbst nicht entwinden wollen. Wenn ich es nicht aufschreibe, bin ich nicht zufrieden, weil ich so bequem bin, die einfache Lösung wähle; wenn ich es aufschreibe, bin ich nicht zufrieden, weil es mir nicht genau genug ist. Ich kann nicht gewinnen.

Ich habe eine Zeitlang nicht geschrieben. War auch nicht besser. Also schreibe ich wieder, und ich hasse es.

Talisman

Ich benutze dich gelegentlich als Talisman – genauer: meine Erinnerung an dich. Weniger, wie wir uns in der Dunkelheit von Hauseingängen geküsst haben, nein; mehr das gleißend weiße Zimmer, die weiße Bettwäsche, die weißen Vorhänge, kolonial und tropisch heiß, dreckiger Sex, der mich rein gemacht hat wie weißes Papier, mich ausgewischt hat, mich formatiert hat wie einen korrupten Chip. Ein Reset, der mich befreit hat von all dem Ballast. Von allen Schwänzen war deiner der Schönste.

Eine Erinnerung wie ein Talisman, der Glaube daran gibt dieses extra bisschen Kraft, das weit trägt, das die Schritte federn lässt, das sich wie ein Schutzfilm mich legt und mich an manchen Tagen all diese Menschen, ihre Dummheit und die Tristesse von U-Bahnhöfen vergessen lässt.

überdreht

Die Linie seiner Schultern ist wie eine Bogensehne bis zum Anschlag gespannt. Der Körper unter Strom, sein linkes Bein vibriert staccato. Das Café um ums herum ist bis zum letzten Platz belegt, die Kellner hetzen zwischen Tischen und Menschen umher. Ein wilder Tanz, ein Rausch, der einen betäubt.

Da nehme ich seine Hände, die linke mit meiner linken, die rechte mit meiner rechten, fest, aber nicht zu fest. Halte gegen seinen Druck. Er will sprechen, will lachen, ein Fisch sein, der sich herauswindet. Ich bitte ihn zu schweigen. Wir schauen uns an. Ich atme ein, langsam. Atme aus. Atme ein, atme aus. Es wird gedämpfter um uns herum, langsamer, als hätte man den Regler eine Viertel Umdrehung zurückgedreht. Er ist jetzt ganz da, bei mir, und wir sind uns nah.

Ich denke oft an ihn, wenn ich in mir jenen flügelschlagenden Kolibri spüre, mich überdreht und überspannt fühle wie eine Spule. Windup Woman. Es fehlt ein zweites Paar Hände.