hart aufgeschlagen.

bein6

Treppensturz am Ostbahnhof. Die Sanitäter gehen von einem Bruch aus und bringen mich ins Krankenhaus. Übertriebenerweise mit Blaulicht.
Eine sehr kühl wirkende Ärztin mittleren Alters, leicht ausgebrannt, begutachtet mich drei Minuten lang. Sie glaubt, daß ich mir Unterhaut und Gewebe beim Sturz abgeschabt habe, daher die starke Schwellung. Neues Wort gelernt: „Einblutung“.
Röntgen, zur Sicherheit, darauf warte ich mit fünf bis sechs anderen Unglücklichen, alle auf Liegen in einem langen Gang. Decken und Kissen gibt es nicht. Nach einer Stunde des Wartens erlaube ich mir, nachzufragen. Für das gesamte Klinikum gäbe es genau zwei Röntgenassistentinnen, erfahre ich, die gleichzeitig auch für das CT zuständig sind und gerade mobil auf den Stationen gebraucht werden.
Ich verbringe die Zeit, indem ich lese. Carlos Ruiz Zafón bringt mich in das Barcelona der 50er Jahre. Das funktioniert nicht immer, manchmal lese ich eine ganze Seite, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Ich habe Schmerzen und ich habe Angst. Bei einer Unterschenkelfraktur muß operiert werden, wird mir gesagt. Krankenhausaufenthalt, mehrere Wochen Gipsbein. Meine Eltern würden kommen müssen und wahrscheinlich auch kommen wollen. Meine Wohnung sieht schlimm aus, unordentlich, dreckig, Töpfe und Teller mit angetrockneter Tomatensoße; das würden meine Eltern dann zu sehen bekommen. In meinem Socken ist ein Loch.
In einer ruhigen Minute versammeln sich zwei Krankenschwestern und der Zivi um meine Liege, blicken auf mein verbogenes Bein. Eine der Frauen streicht mir sanft, ganz sanft über die verletzte Stelle. In meinem Kopf geht sofort die Analysemaschine los: ein uralter, unbewußter Impuls, denke ich, einen anderen Menschen durch eine Berührung heilen zu wollen. Mein Herz aber wird mir leicht bei dieser Geste, aus der so viel menschliche Wärme, so viel Mitgefühl spricht.
Nach drei Stunden werde ich geröntgt und vor das Zimmer der behandelnden Ärztin geschoben. Die Tür steht offen, sie telefoniert, ich kann ihren Rücken sehen. Ein Gespräch mit ihrem Vater, der anscheinend der Meinung ist, die Kinder der Ärztin hätten sich beim Weihnachtsfest nicht angemessen verhalten. Die Ärztin verteidigt ihre Kinder, will gleichzeitig ihren Vater beschwichtigen; immer wieder fällt er ihr ins Wort.
Sie legt auf und ruft mich ins Zimmer, ich könne laufen. Kein Bruch also. Auf einmal ist die Atmosphäre sehr gelöst, nicht nur, weil ich enorm erleichtert bin, sondern auch, weil ich viel Sympathie für diese Ärztin empfinde, nachdem ich einen Blick auf ihre Bürden erhascht habe.

Ich nehme mir ein Taxi, zum dritten Mal in meinem Leben, lasse das Klinikum hinter mir, froh, dem institutionalisiertem, fremdbestimmten Krankenhausalltag entkommen zu sein.
Als ich zuhause bin, räume ich erstmal auf.

bein3

Silvester.

Ich hasse Silvester, das bescheuertste Fest überhaupt. Erzwungene Fröhlichkeit, termingenauer Spaß. Ich finde Spaß ja generell schwierig, und dann auch noch auf Kommando.
Nun ja, man muß es irgendwie rumkriegen. Für mich gibt es folgende Möglichkeiten:

a) auf eine große Party gehen, z.B. im Knaack
Vorteile: in großen Menschenmassen erfordert es nur minimale schauspielerische Fähigkeiten, um Fröhlichkeit vorzutäuschen. Außerdem: man kann hinterher behaupten, was cooles gemacht zu haben.
Nachteile: die Hölle, das sind die anderen. Außerdem: mit der BVG und lauter besoffenen, böllerschmeißenden Idioten nach Hause fahren zu müssen.

b) Privatparty mit Freunden
Vorteile: Freunde eben.
Nachteile: schwierig zu organisieren, da sie sich zum Teil untereinander nicht leiden können oder sich nicht kennen. Zudem haben die meisten schon eigene Pläne.

c) alleine zu Hause bleiben
Vorteile: absolut kein Streß (das zählt mindestens doppelt)
Nachteile: hinterher erzählen zu müssen, man hätte Silvester alleine zu Hause verbracht. Wirkt irgendwie armselig. Evt. Depressionsgefahr.

Hoffentlich ist es bald vorbei.

(ohne Titel)

Der Bruder meines ehemaligen WG-Mitbewohners hat sich vor ein paar Jahren erhängt, im verschneiten Wald. Ich kann das gut verstehen. Ein Teil von mir würde manchmal auch gerne hinausgehen und sich in den Schnee legen, bis aller Schmerz betäubt ist, eingefroren, wie ein Eisbeutel auf einem verletzten Gelenk.
Seit etwa einem Jahr bemühe ich mich, intensiver zu leben und die Sehnsüchte, die ich habe, zu erfüllen. Langsam wird mir klar, daß sie wohl unerfüllbar sind. Mein Weg ist eine Sackgasse.

weiß

In konzentrischen Kreisen breitet sich das Weiß aus; in seiner Mitte meine Hand zwischen meinen Schenkeln. Das Weiß, die Stille, die Ruhe fließt über den Dielenboden, durch die Wand, über Pflastersteine hinweg bis zur Warschauer Straße, bis zum Ostkreuz, bis zur Frankfurter Allee und darüber hinaus. Am Anfang ist es Arbeit, diesen Zustand aufrecht zu erhalten. Die Gedanken, die kleinen Ärgernisse lecken am Rand der weißen Fläche und müssen zurückgedrängt werden: falsch gebuchte Bahntickets, falsch gebuchte Konzertkarten, Schuhe mit Löchern in den Sohlen und immer wieder Geld, Geld. Kleine Ungerechtigkeiten im Arbeitsalltag, mißmutig genehmigte Urlaubsanträge, falsche Ratschläge, bevorzugte Kollegen.

Dann bin ich nur noch Körper, Gefühl, gereizte Nervenenden. Frei von Gedanken. Schwerelos.

Noch bevor mein Atem wieder ruhiger geht, sehe ich, wie meine kleinen Probleme zu mir zurückschwappen. Ich sehe auch, wie klein sie sind, nichtig eigentlich. Viel lieber möchte ich das kleine Glück genießen: ein Mensch, der sich mir wieder zuwendet, eine berufliche Aufgabe, deren Lösung sich abzeichnet. Das ist es doch, was Beachtung verdient.

180°

Er sagt, er glaube an die Macht der Autosuggestion. Er hätte sich in den letzten Jahren um 180° gedreht. Er würde jetzt genau das Leben leben, von dem er immer geträumt hätte.
Er sagt, er glaube, daß nichts irreversibel sei. Alles könne man wieder reparieren, wiedergutmachen. Deshalb habe er auch wenig Angst. Was soll schon schiefgehen.

Er ist sehr lustig, macht viele Witze. Da ist auch viel Ironie, sogar Ironie in der Ironie. Wenn er etwas sagt, dann weiß man nie: meint er das jetzt ironisch, also genau das Gegenteil, oder ist er doppelt ironisch, also das Gegenteil vom Gegenteil?

Ich kann keine Ironie. Ich kann auch nicht lustig.
Ich weiß, daß alles irreversibel ist, jede Entscheidung, die ich treffe, bringt mich an einen anderen Punkt. Jede Erfahrung verändert mich, ich kann nicht an den Ausgangspunkt zurück, kann nicht wieder der Mensch x an einem Ort y zur Zeit z sein, das geht nur einmal.
Für mich ist alles 180° anders als für ihn.

Sorgen.

Ungewollt angespanntes Telefongespräch mit meinen Eltern. Meine Eltern machen sich Sorgen, sie können nicht anders, das gehört wohl zum Elternsein dazu. Sie machen sich Sorgen, daß ich beruflich scheitern könnte. Sie machen sich Sorgen, daß ich keinen Partner finde. Sie machen sich Sorgen, weil ich so füllig bin. Sie machen sich Sorgen, weil ich mich nicht gut mit meiner Schwester verstehe. Dahinter steckt nicht der Wunsch, eine perfekte Tochter zu haben. Dahinter steckt der Wunsch, daß es mir möglichst gut gehen soll in diesem Leben. Sie wollen nicht, daß ich leide. Sie wissen, wie hart es in dieser Welt sein kann, wenn man partnerlos, dick, arbeitslos, schwesternlos ist.
Zwei Dinge passieren mit mir, wenn meine Eltern mir Fragen stellen, aus denen ihre Sorge spricht. Zum einen: ich werde sehr wütend, diese Art von Wut, die man spürt, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Es fühlt sich an, als würden sie mir unterstellen, ich wäre gescheitert. Seht ihr nicht, möchte ich schreien, was ich alles richtig gemacht habe? Seht ihr nicht, was ich für eine gute Tochter bin?
Zum anderen werde ich sehr, sehr traurig. Die Kehle schnürt sich mir zu und ich muß jämmerlich weinen. Ich leide nicht an meinen Makeln. Ich leide, weil es mir so weh tut, meine Eltern besorgt zu sehen, leidend zu sehen, der Grund dafür: ich. Und nichts, was ich tue, wird daran etwas ändern, es würde nur die eine Sorge durch eine andere ersetzten.

Ich werde ihnen heute einen Brief schreiben, ihnen erzählen, wie das für mich ist. Ihnen sagen, daß ich es so schade finde, weil es unsere gemeinsame Zeit beschwerlich macht. Viel ändern wird das nicht. Wir können alle nicht aus unserer Haut.