Umwege

Ich kenne mich hier aus, es ist mein Viertel – und doch, ich verpasse eine Abzweigung. Meine Freundin Ruth bog niemals links ab, aus Prinzip nicht. Eine ihrer liebenswerten Schrullen. Sie bog einfach so oft rechts ab, bis sie dennoch an ihr Ziel gelangte.
Ich fahre geradeaus; komme an seltsamen Gewerbegebieten vorbei. Deutsche Post Immobilienverwaltung. Gleise, abgestellte Züge und Waggons. Flachdachbauten. Ein halb abgerissenes Haus, die Bagger stehen still. Schließlich, die Frankfurter Allee, eine große, drei- bis vierspurige Bundesstraße, die schnurgerade durch die Stadt schneidet. Das Linksabbiegen ist verboten. Also biege ich rechts ab, linke Spur, hoffe auf die Möglichkeit, einen U-Turn machen zu können. Es geht geradeaus, immer geradeaus, die beiden Richtungen durch einen weißen Zaun getrennt. Jeder Meter bringt mich weiter weg von dort, wo ich hin will, aber das ist Luxus: an einem sonnigen Spätnachmittag im Auto sitzen, ohne daß es zu etwas nütze sein muß. Ich fühle mich gut, ein wohliges Katzengefühl, ein wenig dekadent vielleicht. Friedrichshain liegt hinter mir, rechts und links von mir die Plattenbauten von Lichtenberg, tausend kleine, identische Fenster. Alt-Biesdorf schließlich, das ist weniger Vorstadt, sondern eher ein Dorf am Rande der Stadt. Wilde Grünflächen zwischen den Häusern. Letztes Jahr im Sommer bin ich hier mit dem Fahrrad entlang gefahren, ich erinnere mich an das Zirpen der Heuschrecken. Ich wäre damals fast gestorben vor Erschöpfung; ich hatte die Distanz unterschätzt.
Dann drehe ich um, fahre zurück in die Stadt, die Plattenbauten wie Riesen, die mich begrüßen.

Äquilibrium

„Du arbeitest viel in letzter Zeit“, sagt mir eine Freundin, sie würde es daran merken, daß ich so wenig blogge. Ein paar Tage später sagt mir eine andere Freundin genau das gleiche. „Es stimmt so nicht“, antworte ich, „daß ich wenig blogge, wenn ich viel zu arbeiten habe. Wenn ich bis zur Erschöpfung arbeite, dann blogge ich viel, um mich zu beschweren, um den Streß zu verarbeiten. Wenn ich wenig arbeite, sondern den Tag vertrödele, dann blogge ich ebenfalls viel, um meine Frustration zu dokumentieren.“
Jetzt aber, jetzt arbeite ich genau richtig. Abends bin ich müde, aber zufrieden. Es gelingt mir generell, meine Zeit richtig einzuteilen, mein Geld richtig einzuteilen. Die richtige Balance zu finden zwischen Zeit, die ich für mich allein brauche, und Zeit mit Freunden. Die Aufgaben, die to-do-Listen sind so weit abgearbeitet, daß nichts unangenehmes oder dringliches über meinem Kopf hängt und mir die Tage vermiest. Es sind reichhaltige Tage.
There are worse things than being alone, schreibt Bukoswki.

Wer hat…

Heute morgen kam der Schornsteinfeger.
Ich habe Angst vor dem Schornsteinfeger.

Als er letztes Jahr da war, fand ich mich plötzlich in seiner Umarmung wieder. Dies stürzte mich in tiefe Verwirrung. Ich glaube, ich stand damals noch auf dem Standpunkt „kein Sex!“. Ungünstig war auch, daß ich seinerzeit dieses Bett hatte, welches hin und wieder zusammenkrachte. Zudem war ich aus irgendwelchen Gründen (möglicherweise die unchristliche morgentliche Stunde, zu der sich Handwerker gewöhnlich anzumelden pflegen) nicht geduscht, hatte die Zähne nicht geputzt und trug keinen Büstenhalter. So mußte ich ihn dann aus meiner Wohnung hinauskomplimentieren, was ihn nicht daran hinderte, wegen irgendetwas, das er angeblich „vergessen“ hatte, noch einmal vorbeizukommen (frostige Stimmung meinerseits).

Wie aber kam es überhaupt dazu, daß mich der Schornsteinfeger an sein Herz drückte?
Das frage ich mich auch.

Rückblickend rekonstruierte ich, daß unser Gespräch irgendwie aufs duschen kam. Möglicherweise habe ich mich dafür entschuldigt, daß ich noch nicht geduscht hatte, oder die Heizungswartung verhinderte, daß ich duschen konnte, oder dergleichen. Ich verstehe ja nichts von Männern, aber vielleicht dachte er: Frau unter der Dusche + Handwerker = Porno. Nun ist mein körperliches Erscheinungsbild ja recht weit von dem eines Pornstars entfernt, die Brüste mal abgesehen. Möglicherweise hat der Schornsteinfeger gute Erfahrungen mit der Anmache von alleinlebenden, frustrierten Frauen in Berlin gemacht. Wer weiß.

Dieses Mal witzelten wir nur über meine zum Trocknen aufgehängte Unterwäsche. Frau Changes, die leider schon seit längeren offline ist und eine exzellente Quelle wahrer Wahrheiten war, erzählte mir, nie sei es so gut gewesen wie mit einem Handwerker. Vielleicht habe ich da was verpasst? Nur leider hat der Mann mit dem Bärenfellumhang die Latte hoch gelegt, wenn es darum geht, sich mit jemandem wohl zu fühlen, da kann der Schornsteinfeger gar nicht gegen anstinken, wa. Er fehlt mir, aber wenn er hier wäre, dann würde ich ihn vermissen.

Bahn Fahrn V

Zwischen Braunschweig und Kassel-Wilhelmshöhe Bilanz meines Lebens gezogen. Gar nicht so schlecht. Da ist eben diese eine Fehlstelle, diese offene Wunde, rohes Fleisch, die weh tut, wenn man nur drauf schaut. Es gibt diesen einen Satz, und jedes Mal, wenn ich ihn nur in meinem Kopf sage, steigen mir die Tränen in die Augen. Ganze Packungen Kosmetiktücher habe ich schon weggeheult deswegen. Jedes Jahr ein Wort aus diesem Satz, habe ich mir gedacht, bis ich es in ein paar Jahren gelassen aussprechen kann, angenommen habe. Ich werde mir ein Bahnwärterhäuschen kaufen und ein schönes Leben führen.

Bahn Fahrn IV

Immer wieder interessant: das wechselnde modische Empfinden der Dorfjugend. Beobachtete ich die letzten Jahre noch einen starken Hang zu Bufalo-Schuhen (das sind diese Plateau-Sportschuhe – ein Widerspruch in sich), sind jetzt auf Hüfte geschnittene Jeans der letzte Schrei. Ganz wichtig: ein Stoffgürtel, der sich farblich stark abhebt (weiß oder rosa).
Dafür habe ich bei meiner Ankunft in Berlin (Warschauer Straße) gleich drei Frauen mit einer schwarzgefärbten Ponyfrisur gesehen (ungefähr so wie Mieze von Mia, aber ich kenne mich da nicht aus).

Bahn Fahrn III

Goldrichtige Entscheidung, meinen Vater zu besuchen, und vielleicht deshalb nicht halb so anstrengend wie befürchtet. Überhaupt gefällt mir das Verhältnis zu meinen Eltern im Moment sehr gut. Es ist nicht mehr so eng, hat sich gelockert, ist dadurch aber nicht weniger liebevoll geworden. Es gibt weniger Kritik, weniger Sorgen, mehr Vertrauen in mich. Ob das so gut ist? Ja. Denn ich habe schon genug kritische Stimmen in mir.