Weihnachten 2005

Ein Drama in mehreren Akten.

1. Akt: September. Frau Fragmente glaubt, sie sei ganz besonders schlau. Die Eltern sind zu Besuch, das Weihnachtsthema wird angeschnitten und Frau F. verkündet, dieses Jahr Weihnachten nicht nach Hause zu kommen (dafür aber über Silverster).

2. Akt: September bis Oktober Frau Fragmente hat ein schlechtes Gewissen.

3. Akt: Ende Oktober Frau Fragmente trifft sich mit ihrer Schwester. Die Schwester regt an, ob die Eltern & Frau F. nicht zu Weihnachten in die schwesterliche Nähe kommen wollen, denn die Schwester könne nicht weg und so könnten wir „Weihnachten zusammen sein“. (Die Schwester lebt im Osten, die Eltern leben im Süden, Frau F. lebt im Westen.) Frau F. ist entzückt und wirft sofort das Internet an, um nette Hotels/ Kurorte / Unesco Weltkulturerbe in schwesterlicher Nähe zu finden, wo die Familie Weihnachten verbringen könnte.

4. Akt: Mitte November. Frau F. besucht die Eltern, Schwester samt schwesterlichen Ehegatten sind auch da. Alle fünf plus schwesterlicher Hund sitzen im schwäbischen in einer ökologischer Landbau/ Demeter/ Vollwert/ Lesben-Gaststätte. (Es schmeckt vorzüglich). Das Thema „Weihnachten 2005“ kommt auf den Tisch. Frau F. legt treuherzig einen Stapel ausgedruckter Weihnachtsarrangements auf den Tisch. Die Fürs und Widers werden diskutert. Meine Mutter ist schwer gereizt ob des Weihnachtsthemas. Als ich erwähne, daß sie (wie die meisten aus unserem Genpool) zu Weihnachten immer etwas schwermütig wird, streitet sie das heftig ab. Die ganze Sache läuft total schief, und ich verstehe mal wieder nicht, was los ist. Meine Schwester hat sich über meine Eltern in einer anderen Sache geärgert und macht sich darüber in unangemessener Weise (nämlich: Sarkasmus) Luft. Ich bin erst zweieinhalb Stunden wieder zuhause und möchte am liebsten sofort wieder gehen. Und wenn ich eines hasse, dann Konflikte, die beim Essen ausgetragen werden. Ich starre auf meine Spätzle. Ich bin wieder zwölf Jahre alt.

Abends bezieht mir meine Mutter mein Bett, ich nehme sie zur Seite und spreche nochmals „Weihnachten 2005“ an. Die Mutter ist sauer, und unter ihrem Ärger verletzt, vielleicht wünscht sie sich manchmal eine andere Familie, andere Töchter. Ich wollte nie andere Eltern, auch nicht, als sie wieder mit dieser großen, alten Ungerechtigkeit kommt, die es gibt, seit es mich gibt: die Sippenhaft der Töchter, dieses Vermischen von Ärger auf meine Schwester und mich. Meine Mutter will Töchter, die freudig und freiwillig an Weihnachten nach Hause kommen. Sie will keine Tochter, die nach Hause kommt, um es ihr recht zu machen. Wir wissen aber beide, daß es irgendwie blöd wäre, wenn wir Weihnachten nicht gemeinsam verbringen würden. „Familie“, sage ich, „Familie funktioniert nicht einfach so, da muß man auch mal was tun dafür“. Damit sage ich nicht, was sie hören möchte. Ich will doch nur, daß es ihr gut geht, daß sie sich wohl fühlt, daß sie zufrieden ist mit mir als Tochter, denke ich trotzig.
Die Mutter läßt noch ein paar Spitzen los über Weihnachten 2004, das wir in einem edlen Hotel verbrachten. Leider mußte ich beim Weihnachtsbüffett beinahe heulen wegen der Schwierigkeiten, die meine Eltern und ich zu dieser Zeit miteinander hatten. „Und was das gekostet hat!“, sagt sie, und meint, ich hätte es nicht zu schätzen gewußt.

5. Akt: wenig später Meine Schwester, ach, meine Schwester. Das große logistische Problem besteht darin, daß der schwesterliche Ehemann, seines Zeichens Workaholic, über Weihnachten kaum bis gar nicht frei bekommt, plus Kinder aus erster Ehe, plus seiner Eltern. Meine Schwester will Weihnachten mit unseren Eltern UND mit ihren Ehegatten feiern. Dies geht rein technisch in einer Welt ohne Beamen nur, wenn Opfer gebracht werden, aber meine Schwester will nicht diejenige sein, die Opfer bringt. Ich, ganz Opferlamm, bin zu allem bereit, aber meine Eltern haben die Schauze voll.

Meine Mutter schlägt „Weihnachten 2005“ im Süden ohne die Schwester vor. Ich buche lieber noch keine Bahntickets. Es könnte noch der eine oder andere Akt folgen.
(Robert Smith wünscht sich immer love, peace and happiness zu Weihnachten.)

Beobachtungen

Ich beobachtete: Es gibt einen Vorteil, den das Wissen bietet, aber nicht das Unwissen, wie es einen Vorteil gibt, den das Licht bietet, aber nicht die Dunkelheit:
Der Gebildete hat Augen im Kopf, der Ungebildete tappt im Dunkeln. Aber ich erkannte auch: Beide trifft ein und dasselbe Geschick.
(Koh 2,13-14)


Wenn ich aufschreibe, was mir durch den Kopf geht, was ich empfinde, vielleicht gelingt es mir dann, Verknüpfungen zu machen, eine Serie zu bilden, die Punkte zu einer Kurve zu verbinden und zu interpretieren, Konsequenzen zu ziehen: das Leben festhalten.

(der erste Beitrag in diesem Weblog).

Ja, ich habe Erkenntnisse gezogen aus diesem Weblog. Ja, dieses Wissen hat mich dazu gebracht, das eine oder andere zu verändern. Doch in meinen Aufzeichnungen finde ich viele Ereignisse, die sich meinem Einfluß ganz und gar entzogen haben. Der Spielraum, den man hat, ist begrenzt von Schicksal und Zufall, von Arbeit- und Gesetzgebern, von wirtschaftlicher Lage und sozialem Umfeld. Das Licht meines Verstandes ist schwach, meine Einsicht gering, aber: ich lerne dazu. Und lerne auch, anzunehmen, was ich nicht ändern kann.

Ich, Kohelet, war in Jerusalem König über Israel

Es gibt viele Worte, die nur den Windhauch vermehren. Was nützt das dem Menschen? [Koh 6,11]

„Was ist der Sinn des Lebens?“, fragt mich Justyna, und ich sage: es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch findet Freude an seinem Tun.
Freude finde ich, wenn ich etwas schönes erschaffen kann. Einen schönen, einen guten Text zum Beispiel, selbst wenn die Geschichte oder der Anlaß traurig ist.
Nur manchmal erscheint mir alles so sinnlos, so wertlos, daß ich keine Kraft finde, etwas aufzuschreiben.

cool blonde

Meine Schwester trägt einen Trenchcoat, ganz die Reporterin. Sie bindet sich den Gürtel enger um ihre Taille, die ich mit zwei Händen umfassen könnte. Ingrid Bergmann, Lauren Bacall. Das Land ist trist und flach. Die Braunkohle lohnt nicht mehr und hat die Arbeiter arbeitslos gemacht. Wir fahren lange durch die dunklen Dörfer auf der Suche nach einer Gaststätte und finden endlich eine Pizzeria.
Dann passieren seltsame Dinge. Ich erzähle, und meine Schwester hört mir zu. In meinem Gepäck der Satz bitte keine Ratschläge, aber es kommen gar keine. Nur Wärme, Verständnis, Unterstützung. Ich kotze mir das schwarze, klebrige Zeugs von der Seele; all meine beruflichen Sorgen, über die ich noch nichtmal hier schreiben kann.
Meine Schwester, müde, ausgebrannt, nickt wissend mit dem Kopf. She’s been there, too. So unterschiedlich sind wir gar nicht. Was ich jedoch in ihren Nebensätzen spüre, in ihrem Blick auf die Welt, das ist ihr Temperament, weitaus lodernder als meines, das ihr manchmal, einem wilden Pferde gleich, durchgeht. (Ich bin eher ein Esel.)
Nach unserem Gespräch fühle ich mich erleichtert wie schon lange nicht mehr. In der Nacht zuvor hatte ich geträumt, mein Vater sei gestorben und sein Sarg sei hochkant ins Grab hinuntergelassen worden. Ich stand entsetzt & heulend davor und protestierte, daß das so nicht richtig sei.
Wenn wir uns bemühen, meine Schwester und ich, dann werden wir einander haben, auch wenn unsere Eltern nicht mehr da sind.

Ehrfurcht.

Regionalzug, Provinz, abends. Zwei Herren um die Fünfzig setzten sich zu mir ins Abteil („ist hier noch frei?“, „aber sicher!“). Beide tragen Flanellhemden, derbe Schuhe, Allwetterjacken – Wanderer vielleicht. Es riecht nach Schweiß. Den ersten Versuch nach Smalltalk würge ich ab („was für ein modernder Zug! Sonst fährt hier immer ein ganz alter.“ „Aha.“), lese meine Zeitung, setzte dann Kopfhörer auf. Der Jüngere der beiden ist ein wenig schrullig. Er bewegt sich ruckartig, starrt auf die blinkende Anzeige des Discmans, bohrt in der Nase und dann isst er auch noch den Popel. Ich fühle mich unwohl, blicke aus dem Fenster, draußen ist es dunkel und ich sehe nur die Reflektion des Mannes in der Scheibe. Er sieht nicht, daß ich ihn sehe, wippt hin und her, liest nichts, schläft nicht, tut nicht, was normale Reisende so tun. Nach einer halben Stunde begreife ich endlich: der Mann ist geistig behindert. Sofort kann ich mich entspannen und bin auf einmal ganz fröhlich. In einer Vietelstunde werde ich aussteigen, also nehme ich die Kopfhörer ab und fange doch noch eine Unterhaltung an („Sie fahren auch nach xxxdorf?“). Ich erfahre, woher die beiden kommen, was sie heute unternommen haben, und erzähle ein wenig von meinem Beruf. Der Ältere las ein christlich angehauchtes Magazin und ich punkte bei ihm mit einem Bibelzitat („es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch findet Freude an seinem Tun“). „Ich arbeite im Wald“, sagt der Mann, den ich für seltsam hielt, und der andere sagt: „ja, wir sorgen dafür, daß die Bäume gerade wachsen, damit man daraus Balken und Bretter machen kann.“
Wir kommen an, und ich verlasse die beiden mit einem seltsamen Gefühl. Könnte sowas wie Ehrfurcht sein.