KW 30

Am Sonntag war ich sehr traurig. Ich hatte mit Jonathan geredet, und er rechnete mir vor, daß ich, angenommen ich würde mein Problem morgen lösen, immer noch mindestens ein Jahr brauchen würde, um das Projekt abzuschließen. Ein Jahr! Niemals werde ich das Problem lösen, das Projekt abschließen können, dachte ich. Die Wohnung war sehr still, als ich nach Hause kam, und niemand, mich zu trösten. Nur mein Kissen.

Am Montag hatte ich Halsschmerzen. Ich zählte mein Experiment aus, und es sah ganz gut aus.
Am Dienstag hatte ich Schnupfen und einen dicken Kopf, schlecht geschlafen, alle zwei Stunden aufgewacht. Ich blieb zuhause.
Am Mittwoch war ich immer noch total erkältet. Ich ging zur Arbeit, zählte mein Experiment aus und es sah ganz gut aus. Es tat mir leid um den Baum, der für die Taschentücher hatte sterben müssen, die ich wegrotze.
Am Donnerstag konnte ich wieder durch die Nase atmen, hatte aber Husten. Abends ließ ich mir Ratschläge geben.
Am Freitag wachte ich um vier Uhr morgens auf, mußte husten und hatte Nasenbluten. Einschlafen konnte ich dann nicht mehr, also stand ich um halb sechs auf und ging arbeiten. Ich zählte mein Experiment aus und machte eine Menge anderer Sachen. Abends war ich alleine im Labor und erschreckte mich dauernd vor meinem eigenen Schatten. Wenn ich husten mußte, brannte meine Lunge wie Feuer. Als die Excel-Tabelle fertig war, sah ich, daß ich mein Problem gelöst hatte.

Einfach so, in der 30. Kalenderwoche im Jahr 2007.

für später.

Wenn ich später einmal nachlesen wollen würde, wie mein Sommer 2007 gewesen ist…der Sommer, in dem ich so wenig geschrieben habe. Zum einen, weil ich den mittlerweile etwas aufgeweichten Grundsatz habe, nicht über meinen Beruf zu schreiben. Zum anderen, weil mir dieser Beruf im Sommer 2007 kaum Zeit, und schon gar keine Kraft übrig gelassen hat, um zu schreiben, zu reflektieren, zu mir selbst zu kommen.
Fragmente, wenn du das hier liest, erinnere dich. Wie schrecklich es gewesen ist. Wie du Steine den Berg hinaufgerollt hast, immer wieder. Wie deine Hoffnung enttäuscht wurde, immer wieder. Wie du alle Energie verbraucht hast: zum arbeiten oder um dich innerlich vorzubereiten, jetzt gleich wieder arbeiten zu müssen. Wie du abends nur noch wie ein Zombie vor dem Fernseher sitzen konntest, schon erschöpft allein von dem Gedanken daran, jetzt gleich die Waschmaschine anstellen zu müssen. Wie die Wohnung um dich herum immer mehr versiffte. Wie du sonntags arbeiten gegangen bist, Steine hinaufgerollt hast, die montags wieder unten im Tal lagen. Wie sehr du dir gewünscht hast, mal wieder so etwas wie Sommerferien zu haben, anstatt alle Sommer seit 2003 immer durchzuarbeiten. Wie sehr du dich wenigstens nach einem Moment der Stille geseht und keinen gefunden hast: auf der Arbeit summen die Maschinen, auf dem Balkon hört man die Asozialen gröhlen, das Schlafzimmer vibriert, wenn draußen die Lastwagen vorbeifahren. Selbst beim Spaziergang mit den Eltern in Süddeutschland lärmte eine Motorsense.
Im Sommer 2007 ist deine Lieblingstante gestorben. Sie, die damals, als bei deinem Vater ein erhöhter PSA-Wert festgestellt wurde, meinte wir haben keinen Krebs: sie ist an Krebs gestorben. Erinnere dich daran, Fragmente, wenn du glaubst, dir könne das nicht passieren, wenn du glaubst, du bräuchtest deine Leberflecken nicht untersuchen lassen, denn die sind eh alle gutartig. Herr, lehre uns, daß wir sterben müssen stand auf schwarzen Tuch gestickt auf dem Überwurf des Rednerpultes in der Aussegnungshalle.
Vergiß nicht, Fragmente, daß deine liebste Tante zuhause, gut betreut, im Kreise ihrer Freunde gestorben ist, daß sie nicht noch einmal in die Maschinerie des Krankenhauses geraten ist, sondern immer umgeben war von Menschen, die ihr Zuneigung entgegengebracht haben. Nicht zuletzt du selbst. Erinnere dich daran, wenn es bei dir selbst oder denen, die du liebst, soweit ist: daß es möglich ist, in Würde zu sterben. Selbst für eine Kratzbürste wie deine liebste Tante.
Erinnere dich an den Morgen nach der Beerdigung. Am Vorabend hattest du mit deinen Eltern über deine berufliche Situation gesprochen. Grundsätzlich wissen sie Bescheid, aber die Nähe, die du zu ihnen in diesen Tagen gefühlt hat, hat dich dazu geführt, mehr ins Detail zu gehen, als du eigentlich wolltest. Erinnere dich an diesen Morgen, als dir dein Vater, noch bevor der erste Tropfen Kaffee deine Lippen berüht hatte, eine Standpauke gehalten hat. Wie er viele Sätze gebildet hat, die mit du mußt! angefangen haben. Du mußt härter arbeiten. Du mußt dich mehr anstrengen. Dir kam das sehr bizarr vor, denn gerne kommt von deinen Eltern auch die Botschaft arbeite nicht zu viel, du sollst dich nicht kaputt machen. Erinnere dich an deinen Vater: wie er völlig außer sich war, die Nacht kaum geschlafen, aus Sorge um seine Tochter. Vergiß nicht, daß dies ein Zeichen seiner Liebe ist. Versuche, nicht gekränkt zu sein, weil deine Eltern glauben, du könntest deine Probleme nicht lösen. Erinnere dich, daß der Punkt überschritten ist, an dem deine Eltern wirklich verstehen können, wie dein Leben ist. Das konnten sie schon nicht, als du fünfzehn warst, und oft genug kannst noch nicht einmal du selbst es verstehen, heute wie damals. Du mußt deinen Eltern nicht alles erzählen. Sieh, wie du selbst Sätze formst, die mit du mußt beginnen… Tochter deines Vaters.
Erinnere dich an den Sommer 2007 als Teil eines Jahres, in dem dir menschliche Beziehungen geglückt sind. Das Jahr, in dem Du gesegnet warst mit guten Freunden: Ruth, Glam, Midori, Justyna und viele andere. Erinnere dich, daß du gelitten hast, weil du immer, immer zu wenig Zeit und zu wenig Kraft für sie hattest, und wie schade das ist.
Vergiß nicht, wie dieser Sommer war. Vielleicht kannst du später einmal in einem Bewerbungsgespräch davon erzählen, wenn die Frage kommt sind Sie schon einmal gescheitert? Besser wäre jedoch die Frage, erzählen Sie von einer Krise, die sie erfolgreich gemeistert haben.
Das Richtige ist nicht der Umkehrschluß des Falschen. Aber so wie in diesem Sommer willst du nicht leben. Versuche in der Zukunft, dies zu vermeiden.
Hier geht es weniger um gute Geschichten. Es geht darum, sich zu erinnern, die Punkte zu verbinden: Konsequenzen zu ziehen.

Sisyphos

Ich könnte tausend tolle Sachen machen, aber ich stecke hier fest, ich komme nicht weg, seit Jahren schon. Steine, die ich den Berg hinaufrolle, und immer wieder dachte ich: diesmal klapps! Dann rollt der Stein wieder hinunter, und ich ihn wieder hinauf, bis aller Mut, und alle Hoffnung dünn geworden ist. Die Lösung, die wir schon mit siebzehn inm Religionsunterricht lernten, lautet: lieben, was ist.
Meine Liebe ist aufgebraucht, auch der Schlaf regeneriert mich nicht.
Ich bin müde.