(ohne Titel)

In Menschenmengen, auf öffentlichen Plätzen, im Einkaufszentrum, in der Bibliothek, am Hauptbahnhof: in allen Gesichtern suche ich dich.
Ein bisschen Crush, in Wirklichkeit aber der Mann, für den auch Crush nur Platzhalter ist. Der Mann, der richtig für mich ist.
Ich erkenne ihn nicht. Ich kenne ihn nicht.

(ohne Titel)

Er sei in der Nacht aufgewacht, erzählt er, und habe nicht so recht gewußt, wo er sei. Er habe aufstehen und ins Bad gehen wollen und sich dabei in den Schläuchen verheddert, sie versehentlich herausgerissen, eine Riesensauerei hätte es gegeben. Nach der Schwester habe er geklingelt, es sei jemand gekommen und habe den ganzen Boden wischen müssen, literweise Blut, Urin, Spülflüssigkeit. Ihm sei das sehr peinlich gewesen – ich spüre auch jetzt noch seine Scham – und er habe sich bei der Schwester entschuldigen wollen.
„Würden Sie so etwas etwa gerne aufwischen wollen?“, hätte die stämmige, blonde Mittvierzigerin ihn angefahren. Er würde, wenn er könnte, habe er entgegnet.

(keine Kommentare)

eine Ostergeschichte

Am Anfang ist alles rund. Die Welt ist ein Ei. In dieser Welt: ein Ei. Dann bilden sich Richtungen: oben und unten, hinten und vorne. Weil es Richtungen gibt, können sich Segmente formen, und aus den Segmenten Organe, Haut, ein Kopf. Aus dem Ei schlüpft eine Larve. Die Larve wühlt sich durch das feuchte, warme Futter und frißt, scheidet aus, wächst. Die Welt ist weich und ohne harte Kanten, die Larve ein elastischer, formloser Sack in süßem, halb vergorenen Brei.
Lange Zeit bleibt alles gleich, nur die Larve wird größer und größer, bis plötzlich alles anders ist: sie verläßt das Futter und klettert nach oben, soweit es geht, bis sie fast auszutrocknen droht. Ich würde gerne verstehen, woher die Larve weiß, daß es Zeit ist zu gehen. Irgendetwas ändert sich in ihr, obwohl alles gleich aussieht, gleich zu sein scheint. Es treibt sie hinaus, in die Gefahr und Schutzlosigkeit. Ausgerechnet dort baut sie sich einen Kokon aus ihrer eigenen Spucke, und den inneren Veränderungen folgen äußere. Sie löst sich auf, bricht und reißt und wächst: schmerzhaft, glaube ich, so wie Wachstum immer mit Schmerzen verbunden ist.
Eine Zeitlang ist sie nur Zwischenform und baut sich neu zusammen: Kopf und Brust, Beine und Hinterleib. Die Larve gibt es nicht mehr, sie stirbt, und etwas anderes beginnt in ihr: eine Auferstehung, und wenn es fertig ist, dann bricht es unaufhaltsam aus dem Kokon nach draußen. Fühler und Facettenaugen erkunden die Welt. Sie ist voller Luft und Weite. Langsam entfaltet das Insekt seine Flügel, gerüstet für diese Welt mit Schnelligkeit und einem Exoskellet. Und dann fliegt es los.

Auflösungserscheinungen

Es ist alles Theater, und mir gefällt die Rolle nicht, in die ich mich gedrängt fühle. Ich stand vor ihnen wie vor einem Tribunal, in feinen Zwirn und Angstschweiß gehüllt. Sie hatten wenig Gnade mit mir, und irgendwann fehlten mir, der Eloquenten, die Worte.

Seitdem kriege ich die Sätze nicht mehr zuende, alles bleibt Bruchstück, Gedankenfragment.

Mittendrin weiß ich nicht mehr
Klarheit, Stringenz, Pointe, das Fehlen derselben
ich konnte das mal
aber was kann ich überhaupt.

Bin ich der dumme August?
Was ist meine Rolle
und was ist das wirkliche, das echte, das authentische
in der Rolle.

Es steckt eine Chance in all dem
wenn man nicht mehr weiß
wer man ist und wer man sein will
und was man kann und was nicht.

Vor allem aber ist es beunruhigend.