COVID-19

Jetzt doch ein Text zu COVID-19. Zum einen möchte ich heute, am 28. Juni 2020, schildern, was wir über COVID-19 wissen bzw. was vom Weltwissen bei mir angekommen ist und welche Verhaltensregeln ich für mich selbst abgeleitet und ausgehandelt habe. Zum anderen bin ich sehr bewegt über die hohe Anzahl an COVID-19 Infektionen in Fleischfabriken und möchte ein paar meiner Gedanken dazu niederschreiben. 

COVID-19 kann über drei Wege übertragen werden: droplets, aerosols und fomites. Droplets bedeutet, dass eine infizierte Person, die COVID-19 Viren absondert, dies in Form von Tröpfchen tut, vor allem durch Husten oder Niesen. Droplets sind 5-10 µm groß, Aerosole kleiner als 5 µm. Aerosole werden eher beim Sprechen, ggf. auch beim Singen und natürlich beim Ausatmen produziert. Droplets fallen aufgrund ihrer Größe relativ schnell zu Boden, so dass hier Abstand halten recht wirkungsvoll sein kann. Aerosole sind klein, und können deshalb in Innenräumen länger in der Luft verbleiben (wie lange, wissen wir noch nicht). Fomites sind kontaminierte Oberflächen, zum Beispiel eine Türklinke oder ein Papiertaschentuch. Berührt man eine solche Oberfläche mit der eigenen Hand und fasst sich dann mit der Hand an die Schleimhäute, kann man Viren übertragen und sich anstecken. Hier hilft Händewaschen und Händedesinfektion, Fomites scheint aber von allen Übertragungswegen der am wenigste gefährliche zu sein. Ich habe dazu keine Quelle. Für Aerosole als Hauptübertragungsweg gibt es ebenfalls noch keine Belege, anekdotisch wird von Gottensdiensten und Chorproben berichtet, bei denen trotz Abstand und Händedesinfektion viele Infektionen stattgefunden haben. Lesenswert ist auch dieser recht wütende wissenschaftliche Artikel. Es ist denkbar, dass Aerosole auch daher sehr gefährlich sein könnten, weil über das Einatmen die Viruspartikel direkt tief in der Lunge deponiert werden. Droplets oder Fomites müssen erst den Weg über die Schleimhäute gehen. 

Ich vertrete daher aktuell die Theorie, dass es die Aerosole sind, gefährlich sind. In meiner Vorstellung sind Aktivitäten, die draußen stattfinden, eher ungefährlich, weil sich die Viruspartikel in der Luft stark verdünnen. Außerdem kann es sein, dass das Sonnenlicht die Anzahl an Viruspartikeln reduziert (Quelle: Simulated Sunlight Rapidly Inactivates SARS-CoV-2 on Surfaces). Im Gegensatz dazu erscheint mir alles, was drinnen stattfindet, gefährlich, vor allem, wenn viele Menschen sich wenig Luft teilen (öffentlicher Nahverkehr!), keine Luftzirkulation stattfindet und in den Räumen gesprochen oder gesungen wird. 

Zu Beginn der Pandemie hieß es, Masken (Mund-Nasen-Schutz) würde nichts bringen, da diese nach ca. 15 Minuten von unserer Atemluft durchfeuchtet und damit durchlässig werden. Die Meinung – auch meine – hat sich seitdem stark gewandelt: wer eine Maske trägt, reduziert auf jeden Fall die Anzahl an Droplets, die er oder sie selbst abgibt. Es ist auch vorstellbar, dass Stoffmasken, die z.B. außen aus Baumwolle und innen aus Seide oder Kunststoff bestehen, aufgrund der statischen Aufladung einen zusätzlichen Schutz bieten. Recht sicher sind auf jeden Fall Ffp2/N95 oder Ffp3-Masken, mit denen sich auch medizinisches Personal bei der Behandlung von infizierten Patienten schützt. Mittlerweile ist es möglich, solche Masken über Apotheken zu beziehen. Ich bin hoffnungsvoll, dass man sie nicht dem medizinischen Personal wegkauft. Die Maske kann übrigens zum Fomite an der Außenseite werden, wenn dort die Partikel hängenbleiben, die wir nicht eingeatmet haben.

Mein eigener Mix an Maßnahmen ist widersprüchlich. Ich gehe nur einmal die Woche Lebensmittel einkaufen. Ich trage an öffentlichen Orten in der Regel Masken (Ffp2). Ich treffe mich seltener mit Freundinnen, und wenn, dann nur zu zweit und vorwiegend draußen. Wir versuchen Abstand zu halten, gravitieren aber immer mal wieder zueinander hin. Mein größtes Risiko: ich gehe wieder ins Büro, zwar nur reduziert, aber ich trage im Büro keine Maske. Wir versuchen Abstand zu halten, aber wir  – nunja – gravitieren immer mal wieder zueinander hin. Und wir reden viel, sitzen (mit Abstand) im Meetingraum, und sprechen lange. Das ist unvernünftig. Es ist der Kern meiner beruflichen Tätigkeit, dazusein, physisch, zuzuhören und zu reden. Es ist mir so wichtig, dass ich hier ein großes Risiko eingehe, obwohl ich es besser weiss. Dass wir beinahe eine Art von häuslicher Gemeinschaft sind, und ich den Kollegen zutraue, privat sehr vernünftig zu sein, ist hier nur ein kleiner Trost.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Freunde treffen, in kleinen Gruppe, draußen und mit Abstand: das sollte man jetzt machen, die warmen Tage und das Sonnenlicht genießen. Vielleicht wird es im Frühjahr 2021 eine Impfung geben, mit Glück. Der Winter wird lang.

Am 20. Juni 2020 wurde bekannt, dass in der Fleischfabrik Tönnies in der Nähe von Gütersloh über 1.000 Mitarbeiter positiv auf COVID-19 getestet wurden. Die Tests waren behördlich angeordnet worden, von den ca. 7.000 Mitarbeitern sind Stand heute ca. 1.500 infiziert, davon ca. 30 im Krankenhaus, 5 auf der Intensivstation und 2 müssen beatmet werden (Quelle). Fleischfabriken sind schon länger Hot Spots für COVID-19 Infektionen: der Guardian berichtete bereits am 15. Mai über zahlreiche Fälle in den USA, in Großbritannien schreibt die BBC am 21. Juni über 158 Infektionen in einer britischen Fleischfabrik. In Deutschland gab es neben Tönnies auch Ausbrüche bei anderen Fleischproduzenten (Quelle). 

Warum immer wieder in der Fleischindustrie? Das Fleisch wird am Fließband zerlegt, und zwar in einem Kühlraum. Kühlen ist teuer, daher stehen die Arbeiter dicht gedrängt nebeneinander. Die Maschinen sind laut, die Arbeiter müssen laut rufen. Es ist anzunehmen, dass dieselbe gekühlte Luft immer wieder zirkuliert, damit möglichst wenig Luft von außen heruntergekühlt werden muss. In der Kälte bleiben die Aerosole besonders lange in der Luft, weil sie nicht so schnell verdampfen wie bei Wärme. Sonnenlicht gibt es nicht. Die Kälte schwächt das Immunsystem, und die Arbeitszeit ist lang. Es scheint also beinahe unmöglich, sich nicht anzustecken – es sei denn, die Mitarbeiter hätten eine Ffp2-Maske getragen und Abstand gehalten. Vielleicht hätte es auch eine Möglichkeit gegeben, einen Filter in der Klimaanlage einzusetzen? Dass die Mitarbeiter in beengten Unterkünften leben, und viele Stunden in Kleinbussen herantransportiert werden, ist erwähnenswert, scheint aber bei oben genannter Situation kaum noch ins Gewicht zu fallen. 

Wir sollten alle weniger Fleisch essen, das ist klar. Aber zusätzlich zum einzelverantwortlichen Handeln brauchen wir auch einen strukturellen Wandel. Das Vermögen von Clemens Tönnies wird auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt (Quelle). Es scheint also nicht nur darum zu gehen, dass die Bratwurst billig sein muss, damit der Verbraucher spart, sondern sie muss auch billig sein, damit jemand anderes reich werden kann. Vielleicht ist “struktureller Wandel” auch ein zu großes Wort, und es würde reichen, Werkverträge und Subunternehmer zu verbieten, die Einhaltung des Arbeitsschutzes zu kontrollieren und Gewerkschaften und Betriebsräte zuzulassen. So etwas würde auch der Paketbranche gut tun. 

COVID-19 ist ein Vergrößerungsglas, dass die Ungleichheit der Welt noch deutlich sichtbarer macht, unsere Schwächen hervorhebt und manchmal auch unsere Stärken. Es ist eine großartige Chance, Dinge neu zu denken und neu anzugehen: Fleischkonsum, Klimaschutz, Arbeitsschutz, Tourismus. Ich habe einen Funken Hoffnung und einen Eimer Pessimismus. Und ganz besonders beunruhigen mich die Orte auf der Welt, die so still sind in diesen Tagen: Südafrika, Nigeria, Jemen, und die Flüchtlingslager der Rohingya.

gemischte Tüte

Frau Novemberregen sieht heute unzufrieden aus, beteuert aber, es nicht zu sein. Ihre Haare sitzen sehr gut, ich hingegen habe eine Mischung aus Corona- und Urlaubsfrisur, da müssen wir jetzt durch. Ich sitze im Schlafzimmer, hinter mir Klamotten auf dem Bett, aber eigentlich ist es aufgeräumter, als es aussieht. Hinter Frau N. räkelt sich mal wieder ganz süß eine Katze, und das Licht scheint hell und klar auf ihren Schreibtisch, ganz anders als vor ein paar Monaten, als wir angefangen haben. Es ist Sommer geworden.

Wir sprechen erst über ihr Büro und was da schon wieder alles los ist, mir klappt die Kinnlade herunter, als ich höre, wer sich erdreist, den nOC direkt anzumailen. Dann lachen wir ein bisschen über die Kabelkarte, und sprechen über Gauner und Betrüger, die kleinen wie die großen, mit Anzug oder ohne. Ich erzähle, dass ich einen Führerschein für ein Motorboot machen möchte, gar nicht so schwierig, ein paar Praxisstunden, ein paar hundert Theoriefragen auswendig lernen, und 9 Knoten können, da könnte ich ja Vorwissen aus meiner Vergangenheit einbringen, und die Anspielung hängt kurz zwischen uns im Videochat. Dann aber muss Frau N. ihre rote Beete umrühren. Der Ziegenkäse gratiniert nicht so richtig, lässt sie mich wissen.

Frau N. hat heute gute Nachrichten erhalten von allerhand Ämtern, und auch sonst scheint es gut zu laufen, und ich freue mich aufrichtig und tief für sie. Das hat sie verdient. Schnell bucht sie uns noch zwei Tickets für den Badesee, damit es uns noch besser geht. Ob wohl der Stand für Pommes und Eis geöffnet hat? Nirgendwo schmecken die Pommes so gut wie im Freibad oder am Badesee. Letztes Jahr gab es sogar eine gemischte Tüte zu kaufen, mit Gummitieren und sauren Schlangen.

Ich höre die Schwalben, die vor der offenen Balkontür von Frau N. rufen, während das Abendlicht weicher wird.

Frau N. hat mich gebeten, über mein Fußdings zu berichten. Bei meinem Fußdings handelt es sich um eine Vorrichtung, in der man während des Duschvorgangs seinen Fuß zur Reinigung stecken kann, ohne sich bücken oder auf einem Bein balancieren zu müssen. Ich hatte das Fußdings bei Amazon bestellt und wir hatten darüber bei unserem letzten Videotermin gesprochen, weil sich Frau N. für die Kiste, die im Bildhintergrund zu sehen war, interessiert hat. Das Fußdings hat micht qualitativ leider enttäuscht, es war sehr billig verarbeitet und wirkte außerdem so, als hätte es schon jemand ausprobiert. Ich habe es daher retourniert und bin jetzt wieder fußreinigungs-gadgetlos, es sei denn, ich erwerbe ein Konkurrenzmodell. Mal sehen. Hier ein Produktlink.

Ich hatte Frau N. angekündigt, heute noch über ein Thema zu schreiben, das nicht zu Ton und Thema dieses Weblogs passt. Mich bewegt sehr der Cluster an Covid19-Infektionen in einer Großschlachterei/fleischverarbeitenden Betrieb – es gab bereits mehrere solcher Cluster in genau solchen Betrieben in den USA, und es wird auch noch weitere in Deutschland geben. Es ist ein spannendes Thema an der Schnittstelle zwischen Biologie, Physik, Menschen- und Tierrechten, Gesellschaftspolitik und Kapitalismuskritik. Für heute abend auf jeden Fall zu groß, aber ich hoffe, ich komme in den nächsten Tagen dazu, aufzuschreiben, was aus meiner Sicht wichtig ist. Und sei es auch nur für das Archiv und die Erinnerung.

Jahrmarkttricks

Die Haare von Frau Novemberregen stehen heute auf der rechten Seite (also von mir aus links gesehen) beinahe rechtwinklig ab, als hätte sie sie sich an diesem Mittwoch schon mehrfach und mit zunehmender Verzweiflung gerauft. Ich glaube, Frau Novemberregen würde manchmal gerne mit Profis arbeiten. Indes, die Welt und insbesondere die Bankentürme sind voller Schlawiner, und dazwischen hier und da eine Diva und ein Clown.

Hinter Frau Novemberregen sitzt ein großer Teddybär, wie man ihn manchmal auf dem Rummel gewinnen kann. Ob sie ihn wohl von dort her hat? Ich kann mir nicht so richtig vorstellen, dass Frau N. Spaß an Jahrmarktspielen hat, wo einem das Geld aus der Tasche gezogen wird, und mit gezinkten Karten, gefälschten Losen und festgeschraubten Konservendosen gearbeitet wird.

Im Schoß des Teddys liegt hin und wieder einmal eine ihrer beiden Katzen, deshalb hat sie ihn, damit sich die Katzen nicht einsam fühlen, wenn niemand zuhause ist, um mit ihnen zu kuscheln. Jetzt gerade liegt keine darin, und ich sehe einen Katzenschwanz, interessiert zu einem kleinen ? geformt, auf dem Weg auf den Balkon durch die offene Balkontür, links von Frau N. Also von mir aus gesehen rechts.

Was Frau N. auch ein bisschen stresst, das ist die Gemüsekiste: es kam ein sehr großes Brot und insgesamt eine recht große Menge an Gemüse, so dass Frau N. jetzt Platz im Kühl- und Gefrierschrank schaffen musste und in absehbarer Zeit ein Eis verzehren muss, sowie Wassermelone, Bananensmoothie, Schlangengurke, und ein paar Äpfel wären auch nicht schlecht.

Frau N. wohnt ja mit einem Teenager und einer weiteren Person zusammen, und insbesondere die Verzehrmengen des Teenagers sind wohl sehr unvorhersehrbar – und hängen natürlich auch start von der An- und Abwesenheiten jenes Teenagers ab.

Frau N. und ich haben uns bereits am Montag gesehen. Es war – wir haben das soeben noch einmal in einem kurzen Gespräch überprüft – das erste Mal seit Corona, meint das erste Mal seit Ende März. Wir hatten das aber beide gar nicht mehr präsent, wahrscheinlich, weil wir praktisch dauern in Kontakt sind: nicht nur einmal die Woche per Video zum bloggen, sondern aus verschiedenen Anlässen auch dazwischen per Video, täglich per Twitter, manchmal per WhatsApp, oder wir rufen uns im Büro an. Frau N. hat kürzlich sogar begonnen, mir beruflich klingende Emails auf meine berufliche Email-Adresse zu schreiben.

Jetzt gerade tippt Frau N. gar nix. Sie tippt normalerweise sehr laut, KLACK KLACK KLACK, wie ein kleiner Hagelsturm, das kann man gar nicht verpassen. Jetzt gerade isst Frau N., es muss nämlich auch die Ananas weg, mit Ahornsirup. Zum Abendessen gab es Bohnensuppe mit Paprika, scharf angebratener Chorizo und Tabasco. Nicht mein Ding, aber ich habe ja auch nicht mitgegessen.

Am Montag haben Frau N. und ich uns zum Lunch getroffen. Frau N. trug eine ankle length Hose, die ich hasse und die sie liebt. Wir haben früher Hochwasserhose dazu gesagt. Um mich noch weiter zu quälen, hatte Frau N. die Hose mit Schnürschuhen kombiniert und trug Söckchen dazu, die halbtransparent, schwarz gepunket und mit umgeschlagenen Ringelsaum verziert waren. Auf Knöchelhöhe natürlich.

Frau N. hat einen Stylisten, einen virtuellen natürlich, der Zeit angemessen. Er arbeitet für ein großes Versandhaus, das zwei gaunerhaften Brüdern gehört, die einst mit einem blauen Frosch auf einem Motorrad berühmt geworden sind. Frau N. hat einige Zeit überlegt, ob es den Stylisten wirklich gibt, oder ob es sich um eine AI handelt, aber es scheint tatsächlich ein Mensch zu sein. Man denkt sofort an einen prekär lebenden Hipster in Berlin, der auf seinen großen Durchbruch mit irgendwas anderem wartet, unter Mindestlohn verdient und nebenbei schwarz kellnern geht.

Jedenfalls: Frau N. und ich waren am Montag essen. Da ich Lust auf Burger hatte, sind wir einen Burger essen gegangen. Der Burgerladen hatte ein recht durchdachtes Hygienekonzept: am Eingang hat eine Frau kontrolliert, dass nur hineinging, wer seine Kontaktdaten abgegeben hatte und eine Maske trug. Kontaktdaten konnte man auch über eine App abgeben, die man sich per QR-Code laden konnte. Mit einem Kärtchen wies einem die Frau dann auch direkt einen Tisch zu. Bestellen durfte man wie immer an der Theke. Die Bestellung wurde einem dann an den Tisch gebracht, die Stationen für Ketchup und Mayo waren abgebaut, das gab es jetzt auch in der Tüte. Burger mit Pommes ist übrigens kein so gutes Coronaessen, weil man beides ja gerne mit der Hand essen möchte. Ich konnte mir die Hände aber mit Desinfektionsgel desinfizieren, und auch Besteck gab es auf Nachfrage. Der Burger war sehr gut, die Pommes etwas labbrig, und mir hat es an Mayo gefehlt.

Wir saßen natürlich draußen, an dem uns zugeteilten Tisch, und wurden während der relativ kurzen Zeit drei Mal angebettelt: ein mal von einem Drogensüchtigen auf Entzug (mit Beschimpfung), zwei mal von derselben Sintifrau (Frau N: „Sie waren doch gerade eben erst hier!“). Corona muss sehr hart sein, insbesondere für die Drogensüchtigen, denn wie bei Trockenhefe und Klopapier gibt es auch hier eine Lieferkette, die es ganz schön durcheinander gewirbelt hat; außerdem wie in der Gastronomie einen sehr starken Rückgang der Einnahmequellen.

Ich muss es neu lernen, das essen gehen, die neuen sozialen Spielregeln. Als wäre ich in einem neuen Land. Es ist nicht schwer, und ich fand, dass sich am Montag auch alle sehr bemüht haben, auch wenn niemand perfekt war. Aber eben noch alles sehr ungewohnt.

Den Rest der Woche viel Regen. Ich mag das gerne, wenn die Stadt still wird, reingewaschen, das tock tock tock auf dem schwarzen Regenschirm. Überhaupt hat sie mir gefehlt, zumindest ein bisschen, diese Stadt mit mir darin, und das Büro, und der Lunch mit Frau N. oder Sarah oder Francine oder meiner syrischen Freundin. Nice little restaurants where they know your name.

Gestern noch bis spätabends mit der Geschäftsführung zusammengesessen, bisschen Abstand, ein lockeres gleichschenkliches Dreieck. Die Wolken verschwinden, die Abendsonne scheint goldenes Licht in das Büro des Geschäftsführers. Unsere Themen sind dunkel, nein, pechschwarz, aber wir lachen, so wie man es nur kann, wenn alles sehr bitter ist. Könnte sein, dass das hier alles bald vorbei ist, denn wir werden wohl in einem anderen Land einen Vorturner bekommen, mit dem nicht gut Kirschen essen ist – nein, schlimmer: vor dem wir keine Achtung haben. Es gibt Videokonferenzen zum Thema Cost Savings, und in anderen Ländern brennen die Banken.

Aber jetzt blinken die Lichter, bunt, ich habe eine Zuckerwatte in der Hand, und das Riesenrad dreht sich. Mal ist man oben, dann wieder unten. Dann wieder oben, und immer so weiter, und weiter, und weiter.

Bis das Licht ausgeht.

2030

Mein Weblog war down, hat aber niemand vermisst, außer mir. Blog like nobody is reading.

„Warum machen wir das eigentlich?“, frage ich Novemberregen, und sie macht unverbindliche Laute und beißt in ihre Schlangengurke. „Darauf weißt du auch keine Antwort, hm?“ sage ich, und wir nicken und fangen an zu tippen.

Beim Reparieren meines Weblos hab ich ein bisschen ins Archiv geschaut. Was so war, 2010, 2013 oder so. Wenn ich 2030 in mein Weblog schaue und mich frage, was mich so bewegt hat – gestern, heute, und morgen – dann werde ich hier folgendes lesen:

Lange mit Novemberregen unterhalten, über die Arbeit vor allem, und die Welt und die Menschen darin. Frau N. war heute ungewohnt ruhig, fast schon in sich gekehrt am Anfang unseres Gesprächs. Sie war vorher in einer Videokonferenz, und der Inhalt hat sie sehr beschäftigt. Ich sah es so richtig in ihr denken, das ist immer sehr schön.

Später hat sie mir dann von ihrem Problem erzählt, das ihr über den Kopf gewachsen ist. Es geht – ich denke, das darf ich verraten – um Sozialversicherungen. Mir scheint es so zu sein, dass das Problem Frau N. nicht über den Kopf gewachsen ist, nein, es handelt sich um eine Mischung aus Expertenwissen und Entscheidungskompetenz, die eben mal ausnahmsweise nicht in zwei halben Tagen, sondern eher nach ein bis zwei Dekaden relevanter Berufserfahrung erreicht wird. Und Frau N. macht eben hauptsächlich andere Dinge als Sozialversicherungen. Ich kam dann noch in den Genuß eines ca. 15minütigen, sehr detailreichen Vortrags von Frau N. zu diesem Thema. Etwa 8 Minuten lang konnte ich mithalten, dann düste Frau N. roadrunnermäßig gedanklich ab und ließ mich mit großen, verständnislosen Augen im Staub zurück.

Frau N. sah heute übrigens sehr gut aus, der Haarschritt steht ihr. Aber sehen Sie selbst:

Was war sonst noch. Sehr gutes Gespräch mit dem Head of Llama am Wochenbeginn. Hat mir Kraft gegeben für einige notwendige Schritte. Nächste Woche Gespräch über Kostenreduzierung mit dem Headquarter. Bei Frau N. war das schon, die sind uns immer etwa drei Wochen voraus, in allem. Es wird oft gesagt, dass wir keine Leute entlassen werden, beinahe schon zu oft. 2030 werde ich wissen, wie es ausgegangen ist.

Nach der Arbeit mit meiner Mutter spazieren gegangen. Ein Mann mit Hund an der Leine hat lange gewartet, bis wir endlich an ihm vorbeigegangen sind. Der Hund hat uns angebellt, er hat ja gemerkt, dass sein Halter ganz auf uns konzentriert war. Der Mann hat den Hund dann sehr angeschrien, ins Platz gezwungen, ist ihm dabei auf die Pfote getreten, und der Hund hat gejault. Wie eben ein Hund jault, wenn er oft geschlagen wird. Bricht mir das Herz.

Viele Bilder auch auf Twitter, die mir wehtun: George Floyd, wie er erstickt. Tränengas auf Demonstranten. Ein älterer Mann, der von Polizisten gestoßen wird, nach hinten fällt, mit dem Kopf aufschlägt, eine Blutlache bildet sich an seinem Hinterkopf, während sich der Griff seiner Hand um sein Mobiltelefon lockert und er ohnmächtig wird. Die Polizisten gehen weiter, niemand hilft ihm.

Wird sich 2030 etwas geändert haben? Oder werden die USA bis dahin eine Art von failed state sein, irgendwo zwischen Libanon und Russland?

Ein Bild von einem Mann aus dem Kongo, aufgenommen vor mehr als einhundert Jahren, der mit einem thousand yard stare auf abgetrennten Fuß und Hand seiner etwa fünfjährigen Tochter blickt. Kongogräuel auf wikipedia nachgelesen.

BoJack Horseman geguckt. Morgen dann die beiden letzten Episoden, the view from halfway down. BoJack, eine gezeichnete Figur mit dem Kopf eines Pferdes und dem Körper eines Mannes, war in den 1990ern Hauptdarsteller in einer berühmten Sitcom („Hey, aren‘t you the horse from Horsin’ around?“). Jetzt, beinahe am Ende der Serie, hat er so gut wie alles verloren, mehr als wir es uns als Zuschauer hätten vorstellen können. Vor allem sein Ruhm ist gänzlich zerstört. Ob er genau das braucht, um endlich frei zu sein?

Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Vielleicht machen wir es deshalb, Frau N. und ich, mit diesem aufschreiben. Um einen Moment innezuhalten, Bestandsaufnahme, sehen und fühlen, was ist, reflektieren, bevor sich alles, unvermeidlich, so wie es sein muss, weiterdreht.