vier Tage

Der erste Tag: ein großes Staunen. Die Straßen überraschend voll, aber ein gutes Gefühl, unterwegs zu sein. Im Büro dann großes Hallo, echte Freude auf allen Seiten. IT hatte mir, das erste Mal seit Pandemiebeginn, den Arbeitsplatz an meinem Schreibtisch aufgebaut, mit zwei Monitoren und einer Dockingstation, alles ordentlich verkabelt. Das ist nicht ganz überraschend, denn es gab eine Veränderung in IT, und anscheinend findet mich IT nun wichtiger als vorher. Es ist aber insofern bemerkenswert, als dass ich einige Monate im Frühjahr und dann wieder im Herbst, jeweils wochenweise das gesamte Equipment hin- und hergewuchtet habe, bis ich im Winter einfach irgendwo zwei weitere Monitore beschlagnahmt hatte und nun also vier Monitore an zwei Orten im Betrieb habe. Seit Montag also auch zwei Dockingstationen, so dass ich jetzt nur noch den Laptop einrasten lassen muss.

Mit den Dokumenten und Papieren war es gar nicht so schlimm, ich habe einfach alles erst einmal in den Konferenzraum gebracht und dann stückweise weggearbeitet. Neue Visitenkarten sind auch für mich gekommen, schöne Titel überall.

Mittags endlich wieder mein Lieblingsgericht mit Vorspeise beim Thai bestellt. Hat leider ein bisschen anders als sonst geschmeckt, zu viel Kaffirblätter. Ob es was mit der Pandemie zu tun hat – Verlust des qualifizierten Personals?

Ein Gebäude in der Nähe wird abgerissen und legt ganz neue Sichtachsen frei. Überhaupt glitzert alles sehr an diesem ersten Tag. Ich wünschte, es könnte immer so sein, dieser Wechsel zwischen der Ruhe zuhause, alles grün und weit, und dem Luxus der Urbanität, dem Funkeln jener Rolle, die ich einnehme, wenn ich physisch vor Ort bin.

So war es einmal, in jenem vorher.

Der zweite Tag ist fast noch schöner. Ich bestelle griechisch, trage meine Dienstagshose, und gehe nachmittags mit einem Lieblingskollegen ein Eis essen. Wir sitzen am Brunnen, es ist belebt, aber nicht vorpandemisch unangenehm voll, gut die Hälfte der Leute trägt auch draußen im Freien Maske. Die Sonne scheint, über zwanzig Grad, aber der Druck nimmt zu. Als ich zurückkomme, bin ich ein paar Minuten zu spät für ein Meeting, auch willentlich, weil der Kollege und das Eis mir wichtiger waren. Die Aufgaben beginnen, sich zu stauen, und ich beginne, wie so oft, Triage zu machen.

Erst so gegen halb acht aus dem Büro, dann großer Feiertagslebensmitteleinkauf, gegen halb zehn nach Hause, um zehn im Bett. Wachgelegen. Zu viel Adrenalin.

Der dritte Tag ist, wie so manche Tage, ein Ritt auf einem schwarzen Hengst, rückwärts, ohne Sattel, ich werde vielen und vielem nicht gerecht und spüre es genau. Manche Tage sind auch zuhause so, es liegt also nicht nur an der physischen Präsenz. Ich weiß, was ich tun müsste, um Abhilfe zu schaffen, aber ich weiß noch nicht, wie ich dahin komme, und welchen Preis der Torwächter von mir verlangt.

Fürs Archiv: wir laufen gerade mitten hinein in die dritte Welle, sehendes Auges. Es müsste einen Lockdown geben, hart, aber es gibt keine Änderung der Maßnahmen. Die Schulen sind offen. Man kann nicht reisen, außer nach Mallorca. Das Leben läuft weiter, nicht wie zuvor, sondern irgendwie stotternd, nicht flüssig und nicht fest. Ich denke derzeit häufig an eine Feststellung, irgendwo gehört: Erdöl ist wertlos ohne Konsum (und ohne Mobilität). Ich denke mir: jetzt einmal hart alles runterfahren, dann wieder ungebremster Konsum. Aber die, die dieses Land regieren, und die, die hinter den Kulissen ihre Interessen durchsetzen, die scheinen nicht so zu denken.

Das Spice muss fließen – ist es das?

in der Rückschau

Frau Novemberregen sieht heute sehr gut aus, in einem altrose, sehr elegant geschnittenem Business-Oberteil, drüber ein schwarzes Jäckchen, die Haare akkurat geschnitten. Im Hintergrund läuft mal wieder ihre Waschmaschine, gerade hat sich ihr Mann ein Bier vom Balkon geholt, und eine der beiden Katzen liegt hinter ihr zusammengerollt. Wir sind – wie fast das ganze letzte Jahr – per Videokonferenz miteinander verbunden.

Den März über, vielleicht auch schon seit Februar, bin ich in so einem seltsamen Rückschaumodus. Nicht unbedingt nostalgisch, nein. Ich erinnere mich intensiv daran zurück, wie vor gut einem Jahr die Pandemie hochgekocht ist. Wie ich das letzte Mal mit einer Freundin essen war. Wie wir einen Faschingsumzug angeschaut haben. Wie ich im Büro ins Komitee aufgenommen wurde. Wie wir damals noch dachten, das wird wie die Schweine- oder Vogelgrippe, jede Menge Notfallpläne, die in der Schublade verschwinden werden. Wie die Meetings dann häufiger wurden, größer, prominenter besetzt, und dann, beinahe schlagartig, aufgehört haben. Eingebrannt in mich, wie bei einer der letzten Meetings ein sehr erfahrener Kollege aus Italien beinahe geheult hat, oder vielleicht auch tatsächlich.

Ich habe darüber geschrieben, wie es für mich war – am Tiefpunkt oder am Beginn davon: for want of a screw. Es erschien mir damals möglich, dass wir untergehen könnten. Darüber hinaus gab es für mich vor allem eine absolut bedrohliche Sorge: was mache ich, wenn jemand von denen, für die ich mich verantwortlich fühle, stirbt?

Ich kann es nicht verhindern.

Ich habe es vielleicht verhindert, ohne es je zu wissen.

Ich habe getan, was mir zum jeweiligen Zeitpunkt vernünftig, richtig und angemessen vorkam.

So ein Archiv hilft jedenfalls bei der Rückschau, und der Blick zurück kann helfen, das semitraumatische besser verarbeiten zu können, auch wenn alle immer nur sagen, man solle nach vorne schauen.

Fürs Archiv also: die Stimmung in Deutschland – zumindest in dem, in dem ich lebe – ist gerade außergewöhnlich schlecht. Der Impfstoff von Astrazeneca wurde aus dem Verkehr gezogen, unklar, ob kurz- oder langfristig. Große Diskussion ob der Verhältnismäßigkeit, und woran man lieber stirbt. Großbritannien hat über 40% aller Erwachsenen zumindest einmal geimpft, Deutschland ungefähr 6%, erstickt in Bürokratie.

Meine Mutter hat heute ihren ersten Impftermin zugeteilt bekommen. Damit hat sich mein derzeit größtes Problem nahezu aufgelöst.

Ich erwarte, heute Nacht gut zu schlafen. Ich erwarte, dass sich eine Last von meinen Schultern hebt, zumindest ein bisschen, dass die bleierne Zeit sich dem Ende entgegenneigt, dass die Erstarrung Risse bekommt und ich wieder Lust, etwas neues zu erleben.

Wir werden sehen, wie gut meine Worte altern werden, in der Rückschau.

zu Archivzwecken

Heute ein bisschen über die Liebe nachgedacht, also meine Liebe zu Männern. Ich lebe ja schon sehr lange ohne Männer und bin, wie meine zauberhafte Freundin Sarah einst sagte, „der glücklichste Single, den ich kenne“. Mir fehlt aber auch was, das ist ganz klar: Schultern und Lippen, Umarmungen, halten und gehalten werden, jemanden anschauen und ganz hin und weg sein von ihm. Jemanden berühren und beobachten, wie sich die Atmung ändert. In Ekstase geraten, sich selbst verlieren, nebeneinander liegen, wachsweich. Vielleicht auch mich selbst in einer anderen Rolle spüren, nicht nur die, die ich im Beruf bin, die, die ich als Freundin bin, oder die, die ich als Tochter bin.

Ich bin ein bisschen vernarbt, was die Männer angeht, innendrin, oder vielleicht das Gegenteil, wund und roh. Ich habe deswegen beschlossen, so gut wie man das überhaupt kann, mich aus allem rauszuhalten. Ich bin nämlich – und das ist mir selbst unerklärlich – sehr begeisterungsfähig, und stehe bei schönen und interessanten Männern sofort meterhoch in Flammen. Kann dann an nichts anderes mehr denken, die Arbeit leidet, erotische Gedanken quälen mich, ich gehe unnötige Risiken ein, und dann endet sie, die Liebe, oder das, was ich dafür gehalten habe. Es endet immer, manchmal früher, manchmal später, meistens in Trümmern.

Es hat sich daher in meiner jetzigen Lebensphase eine interessante Gleichzeitigkeit herausgebildet: ein interessanter Mann sagt hallo, ich gehe sofort in Flammen auf, und wende mich schnellstmöglichst aus Angst um mein ruhiges Leben ab. Mein Leben bleibt ruhig, aber die scharfen Kanten der Fehlstellen drücken ein paar Tage schmerzhaft.

Die Angst, die ich spüre, kommt mir ein bisschen außerhalb des Normalbereichs vor – aber noch nicht therapiebedürftig. Ich halte es trotzdem zu Archivzwecken hier einmal fest.

Es gilt auch hier die Parabel vom Torwächter. Welchen Preis bin ich bereit zu zahlen? So wie es aussieht, bleibe ich lieber draußen.

swimming the same deep water as you is hard

Mein Einstieg ist heute ein bisschen langweilig, zumindest für Aussenstehende, aber bear with me:

The Cure hatten mal ein Bandmitglied namens Lol (Abkürzung für Laurence). Lol ist Gründungsmitglied von The Cure, denn er hatte das Glück, mit Robert Smith zur Schule gehen zu dürfen. Das ist ja oft so bei den Bands, einer hat Talent, und ein paar andere gelangen Huckepack zum Erfolg, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort etc.

Bei Lol war es sicherlich nicht das musikalische Können, das ihn ausgezeichnet hat. Erschwerend kam hinzu, dass in der Band immer viel gesoffen wurde, und Lol wohl ganz besonders viel, er war Alkoholiker. Seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit wurde dadurch kompensiert, dass er vom Schlagzeug zum Keyboard (einem weniger wichtigen und möglicherweise auch automatisierbaren Instrument in der Musik von The Cure) wechselte, in den späteren Jahren wurde dann ein zweiter Keyboarder eingestellt, gerüchteweise wurde das Keyboard von Lol während der Konzerte nicht mehr an die Lautsprecher angeschlossen.

Zum Bruch kam es während den Aufnahmen zu Disintegration 1989: seine Meinung zum neuen Album, nämlich dass es Shit wäre, brüllte er im Studio hemmungslos heraus. Dann, und erst dann, konnte sich Robert von ihm trennen, und hat ihn gefeuert. Lols eigener Beitrag zum Album war praktisch nichtexistent. Disintegration gilt bis heute als das beste Album von The Cure und möglicherweise als eines des besten Alben der Musikgeschichte.

Vor ein paar Jahren ist Lol wieder aufgetaucht, er hat ein Buch geschrieben über seine Zeit in der Band und über seine Alkoholkrankheit. Es ist ein mittelmäßiges Buch, stark im ersten Fünftel, als es um das Heranwachsen im Thatcher-England der 1970er geht; dann hauptsächlich auf die Suchterkrankung abzielend, mit kurzen Momenten der Selbsterkenntnis und Selbstreflektion, letztendlich aber voller Entschuldigungen und Ausflüchte, wo ich mir die Übernahmen von Verantwortung gewünscht hätte. Über seine Zeit in der Band erzählt er wenig, und fast nichts, dass ich nicht anderswo schon besser gelesen hätte. Ich hoffe, dass er sich mit seiner Erzählung zurückgehalten hat, um die Privatsphäre von Robert und den anderen zu wahren, vermute aber, dass er schlicht keine Erinnerungen mehr hat an mehr als zwei Dekanden in einer großartigen Band.

Was mich an der Geschichte fasziniert, das ist, dass die Band Lol sehr lange mitgetragen hat, jahrelang sogar, ohne dass er etwas beigetragen hat. Und dass es so noch jahrelang hätte weitergehen können, wenn Lol sich nur ein winziges kleines bisschen zusammengerissen hätte.

Dieses Phänomen, dass jemand durch Glück und Privileg in eine Rolle hineinrutscht, um die ihn viele beneiden, und dies dann grob fahrlässig zerschlägt, das beobachte ich interessanterweise auch im beruflichen Kontext, zum Beispiel in meiner eigenen Organisation. Die mit den Privilegien sind meist ältere, weiße Männer – keine Ahnung, ob das Zufall ist oder eine Regel. Die Organisation hält an ihnen fest, jahrelang, es gelten allerhand Ausnahmen, Leistung wird schon längst keine mehr erbracht. Die Männer benehmen sich schlecht, sie machen anderen das Leben schwer, sie sind lästig, sie sind peinlich, alle reden hinter vorgehaltener Hand schlecht über sie. Aber man hat sich auch irgendwie an sie gewöhnt. Zur späten Stunde und im vertrauten Kreis sagt man man müsste mal und dem müsste man es mal so richtig zeigen, aber dann wird es Morgen, und man macht es doch nicht.

Die Trennung kommt, wenn sie überhaupt kommt, erst sehr spät, und erst nach dem Eklat, wenn wirklich alle Masken gefallen, alle Worte gesprochen und nichts mehr zurückgenommen werden kann.

Danke, liebe Lesenden, dass sie bis hier durchgehalten haben, ich komme nun zum Punkt:

Ich frage mich, was in diesen Menschen, in diesen Männern vorgeht. Ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen, es gelingt mir ganz besonders schlecht, weil ich als Charakter recht leistungsorientiert bin. Ich versuche es trotzdem. Ich versuche mich in jemand hineinzuversetzen, der nicht dumm ist, und der – aus den unterschiedlichsten Gründen – beschlossen hat, nur noch das absolute Minimum zu tun, um gerade so durchzurutschen. Und gerade hier scheitere ich, denn sie tun ja nicht einmal mehr das absolute Minimum, die Limbostange liegt praktisch auf dem Boden, und dann wird sie abgefackelt und draufgepinkelt.

Warum? Wo ist der Gewinn? Cui bono?

Wenn du gehen willst, dann geh doch? Geh und mach eine eigene Band, die viel bessere Musik macht, geh zu einer anderen Frau, die viel schöner und interessanter ist, oder geh zu einem anderen Arbeitgeber, der dir einen besseren Titel und viel mehr Geld gibt. Geh, und halte den Kopf oben, aber geh.

Warum also? Geht es darum, geliebt werden zu wollen, dazuzugehören, auch wenn man alles immer nur kaputtschlägt? Ich kenne solche Leute auch, instabile Bindungen in der Kindheit, aber hier wechseln sich Phasen der Leistung, gar der Brillianz, mit Phasen der Verweigerung und Unzugänglichkeit ab. Die Unzuverlässigkeit, die als Kind erlebt wurde, wird abgebildet.

Aber diese komplette Leistungsverweigerung, die absolute Non-Compliance, being a pain in the ass, jahrzentelang – was hat es damit auf sich? Wenn es so viel zu verlieren gibt?

Vielleicht weiss jemand eine Antwort in den Kommentaren.