zwölf

Schwester, die du mir die liebste bist, weil du die einzige bist.
Es ist lange her, daß wir uns das letzte Mal gesehen haben. Weißt du’s noch? Ich mußte lange nachdenken: es war kurz nach Weihnachten – ich ging gerade, du kamst und brachtest die Frau, mit der du jetzt zusammenlebst, mit.
Wie bei allen deinen Partnern, ob Mann, ob Frau, habe ich mich unwohl gefühlt. Es ist nicht deine Schuld, daß ich mich aufführe, als wäre ich zwölf. Vielleicht bin ich eifersüchtig, weil es zwischen dir und deinen Partnern immer so viel mehr Nähe gab als zwischen dir und unserer Familie. Deine Partner hast du dir ausgesucht. Manchmal hast du schlecht gewählt.
Vielleicht bin ich neidisch, weil es für mich nichts zu wählen gibt.

Mein Vater, also unser Vater, hat mir neulich erzählt, er hätte sich darüber Gedanken gemacht, wer von seinen beiden Töchtern glücklicher wäre. Er sei zu dem Schluß gekommen, seine beiden Kinder wären beide glücklich, aber auf unterschiedliche Weise: während du, Schwester, dein Glück in der Liebe fändest, würde meines in der Wissenschaft liegen. Wissenschaft, Schwester! Ich sah mich selbst für einen kurzen Moment, alt und vertrocknet, und erschauderte.

Nichts wird besser. Du und ich, wir haben uns entfernt. Als du umgezogen bist, hast du mir deine neue Adresse nicht gegeben. Sicher, ich könnte unsere Eltern fragen, aber das ist nicht der Punkt.
Nichts wird besser. Unsere Eltern besuchen mich in ein paar Tagen, und ich mache mir schon wieder Gedanken, daß sie an mir rumnörgeln, mich zu dick finden, sich Sorgen machen und bestenfalls Mitleid mit mir haben. Warum kann ich nach all diesen Jahren nur wieder mit stiller Wut und Trotz reagieren, als wäre ich zwölf?
Es wäre schön, wenn wir uns mal wieder sehen würden, Schwester. Dann denke ich, daß du keine Zeit für mich haben wirst, daß du dich nicht für mich interessierst. Die Gedanken einer Zwölfjährigen.

Nichts wird besser. Ich habe alles schon einmal erzählt.

I’m not there.

Heute werde ich dreißig. Aber ich bin gar nicht da. Toller Trick, oder?

Naja, natürlich bin ich hier, aber ich bin nicht da, sondern auf der Biotechnica. Dieser Beitrag wurde in der Vergangenheit geschrieben, ich weiß also nicht sicher, wo genau ich bin, vermute mich selbst aber gegen 8 Uhr im Auto auf der Autobahn nach Hannover.
Irgendwie ist mir das ganz recht – offline und allein mit mir sein in einem Meer aus Menschen. Ich habe schon angekündigt, daß ich telefonisch nicht zu erreichen sein werde. So kann ich die Post, die Geschenke, die eMails und die Telefonanrufe ganz in Ruhe und zu meiner Zeit aufmachen, lesen und anhören.
Robert Smith – ich glaube, ich erwähnte es bereits ein paar Mal – hat an seinem dreißigsten Geburtstag Disintegration geschrieben, das beste Album aller Zeiten. Ich habe an meinem dreißigsten Geburtstag einen Brief an meine Eltern geschrieben, um mich bei ihnen zu bedanken. Nicht so sehr, weil sie mich in die Welt gesetzt haben – Kinder in die Welt setzten kann ja jeder – sondern weil sie mich großgezogen und mir eine Menge mitgegeben haben. Ich finde, sie haben fast nichts falsch, aber unglaublich viel richtig gemacht.

Disintegration versus Brief an die Eltern? Ich glaube, ich finde mich cooler. Unentschieden.

Sammeln Sie Punkte?

Letztes Jahr habe ich ein paar Tage vor meinem Geburtstag den Link zu meinem Amazon-Wunschzettel veröffentlicht. Drei meiner Leser haben mir tatsächlich etwas geschenkt und ich habe mich gefreut wie Bolle.
Dieses Jahr habe ich etwas gezögert. Die aufmerksamkeitsheischende Buhlerei um Geschenke ist schon ein wenig würdelos, der eine oder andere denkt bestimmt die Frau Fragmente, die muß es aber nötig haben.
Dann habe ich gedacht: völlig richtig. Ich habe es sowas von nötig. Die Depression sitzt mir im Nacken, meine Haut ist so dünn wie Papier und ich bin verdammt verletzlich. Jetzt wäre es genau das richtige, mit einem glückseligen Lächeln in meinem Auto vor der Post zu sitzen, ein Geschenk auszupacken und mich zu freuen wie bekloppt.

Man kann darüber streiten, ob ich es verdient habe, dieses Jahr etwas zu bekommen. Ich habe nicht besonders gut oder viel geschrieben, aber immerhin: vier gute Texte waren dabei. (eins, zwei, drei, vier).
Und bringen Geschenke nicht gerade der Person, die sie verschenkt, ganz viele Karmapunkte?

Hier also: der Wunschzettel von Fragmente.

(ohne Titel)

Der Punkt, an dem mir nichts mehr einfällt. Der Punkt, an dem sich alle Geschichten endlos wiederholt haben.
Es ist nicht schlimm, daß ich nichts mehr zu erzählen habe. Schlimm ist, daß mir nichts mehr einfällt, was ich anders machen könnte.

Dann bleibt mir nur noch, meine Zeit abzusitzen wie eine Strafe.

Ich denke, wir haben Potential

Ostbahnhof: bei jedem Schritt die Erinnerung, wie ich die Stufen hinuntergefallen bin, damals.
Friedrichstraße: meine alte Arbeit, die Kollegen von früher. Nichts hat sich verändert. In der Kantine weiß ich immer noch, welcher Pudding gut schmeckt.
Görlitzer Bahnhof: „gerade eben habe ich jemanden gesehen, der nur in ein Bettlaken gehüllt war und ständig auf den Gehweg spuckte“, erzähle ich Glam und Kitty. Sie nicken und sagen: „es ist Ramadan. Die Strenggläubigen schlucken ihre Spucke nicht.“ Wir hingegen fasten nicht. Das Essen ist köstlich, die Gesellschaft noch besser.
Warschauer Straße: ein Punk steht auf der Brücke und pinkelt im hohen Bogen auf den S-Bahnsteig.
Ostbahnhof: die Vertrautheit des Hotelzimmers, das an allen Orten der Welt gleich aussieht. Nachts wache ich auf, weil mich das Hämmern der Regentropfen auf dem Fensterbett erschreckt.
Friedrichstraße: Komplimente bekommen. Komplimente muß man sich merken.
Ostkreuz: er wippt mit dem Fuß, staccato, und bringt den Tisch zum Vibrieren, bringt mich zum Vibrieren. Er entschuldigt sich, aber ich finde, es paßt ganz gut. „Das Bild von Dir im Internet ist ziemlich unvorteilhaft“, sagt er. Auch ein Kompliment, irgendwie. Zum Abschied gibt er mir die Hand.
Ostbahnhof, dann Friedrichstraße: nach 36 Stunden ist alles schon Routine.
Mehringdamm: die lustigen Blumenverkäufer, die grummeligen Zeitungsverkäufer, die schönen, türkischen Frauen, die kleinen, günstigen Bäckereien mit Stehcafé bedienen. Meine unfehlbare innere Landkarte von Geschäften.
Hermannplatz: Unwohlsein, Enge, zu viele Leute, und endlich die Tür zu meiner Freundin.
Ostbahnhof: ein letzter Stop beim Asiaimbiß. Vor meiner Reise hatte ich Sorge, Berlin könnte mir das Herz brechen wie eine alte Liebe, die man nur überleben kann, wenn man sich nie wieder sieht. Die Stadt ist mir vertraut, aber sie hat mir nicht den Atem geraubt. Sie ist einzigartig: schön, häßlich, heruntergekommen, charmant, voll und weit. Es ist nicht schlecht, in ihr zu leben.
Ich denke, wir haben Potential, denke ich, während mich der Zug aus Berlin herausträgt.

Was ich in den nächsten dreißig Jahren machen möchte:

– Bouillabaisse essen, vorzugsweise am Gare du Nord
– eine Kreuzfahrt
– business class fliegen
– first class fliegen
– einen Hund haben
– einen Porsche 944 probefahren
– eine bestimmte Sextechnik
– beim Karaoke die Bar rocken
– eine Reise durch Amerika
– mit Rome von Rounders einen Whiskey trinken
– tauchen lernen
– einen Diamantring mit Marquiseschliff besitzen
– meine Eltern einladen, Weihnachten bei mir zu verbringen
– fließend französisch sprechen
– in Schwaben leben, aber wieder wegziehen können
– rausfinden, was mein Großvater in der Nazizeit so gemacht hat
– das Dorf in Ungarn besuchen, in dem mein Vater geboren wurde
– mich gut mit meiner Schwester verstehen
– Schlittschuhlaufen lernen
– ein paar Lieder von The Cure auf dem Klavier spielen können
– weniger besserwisserisch sein

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