Frau Novemberregen sitzt an ihrem Schreibtisch. Ich sehe sie in einem kleinen Videochat-Fenster auf meinem Telefon, das auf einem Tripod montiert ist. Ich bin es jetzt schon sehr gewöhnt, die Menschen durch dieses kleine Fenster zu sehen.
Frau N. ist müde. Ich sehe das an ihren Augen, ich weiß das aus ihren Erzählungen und ihren Tweets und dem, was ich zwischen den Zeilen lese. Ich mache mir ein wenig Sorgen um sie, und sage ihr das auch, aber sie meint, seit heute 15 Uhr sei diese eine große Sache erledigt, und jetzt sei praktisch nichts mehr zu tun, nur noch ungelesene Emails abarbeiten. Sie nennt eine Anzahl an ungelesenen Emails, die ungefähr zwanzig Mal größer ist als die, die ich noch vor einer Woche hatte, und die mich ziemlich gestresst hatte.
Frau N. tippt ziemlich laut. Ihre Balkontür steht auf, und auf dem Balkon stehen zwei Kisten mit Wasser. Ich weiß, dass auf ihrem Balkon ein kleines Apfelbäumchen wuchs, letztes Jahr sogar eine kleine Wassermelone. Wie ihr Balkon wohl jetzt aussieht?
Hinter ihr steht ein Sofa, das sehe ich nicht, aber ich weiß es. Auf dem Sofa schläft man weder besonders gut, noch kann man darauf besonders gut sitzen, aber es ist ohnehin nur das Ersatzsofa, das wahre Leben findet in ihrer Küche statt, zumindest immer, wenn ich da bin. Auf dem Sofa sitzen zwei übergroße Teddybären. Ich kann mich nicht erinnern, sie bei ihr in Natura gesehen zu haben, entweder ich habe das ausgeblendet, oder sie hat sie erst seit wir videochatten, oder ich war wirklich sehr viel in der Küche. Ich finde die Teddybären etwa so gut, wie sie meine Duftkerzensammlung auf dem Fensterbrett. Über dem Sofa hängen schon seit ein paar Jahren gerahmte Kinderbilder, eines davon mag ich ganz besonders. Es zeigt ein großes katzenähnliches Tier mit langem Hals, wie ein Alpaca, und Schnurrbart, und es ist bunt, unter anderem gelb und blau. Das Bild macht mir immer gute Laune.
Frau N. hat gut sitzende Haare heute. Sie trägt ein helles Shirt, das mit zarten Blumen bedruckt ist. Am Hals sitzt es ein bisschen labbrig, aber das ist so gewollt, glaube ich, ein Wasserfallkragen. Darüber trägt sie eine dünne schwarze Strickjacke, wenn man ganz genau hinschaut, sieht man ein feines Strickmuster. Frau N. isst sehr genüsslich Gurkenscheiben. Es knackt so ein bisschen, aber nicht unangenehm. Wir haben eben über unsere jeweiligen Büros gesprochen, sie hat mir eine Begebenheit erzählt, die sie „lustig“ findet, will sagen: absurd. Games people play. An einer Stelle wird ihre Stimme ganz hart, leise und unerbittlich. Ich würde mich mit Frau N. nicht anlegen wollen, würde nicht über diese eine magische Linie gehen wollen. Wenn man drauftritt, klingt ihre Stimme so, hart und kalt, eine letzte Warnung, und wenn man Beobachterin sein darf, so wie ich, kann man gar nicht anders, als Frau N. unglaublich cool zu finden.
Jetzt hat sie sich ein Bier aufgemacht.
In unserer Firmenzentrale gibt es eine Projektmanagerin, die ich bewundere. Sie ist zwar nicht ganz so cool wie Frau N., aber sie hat es immerhin geschafft, unsere doch eher schwerfällige Organisation ein kleines Stück zu verändern und hat, ohne formelle Weisungsbefugnis zu haben, sehr beschäftigte Leute aus operativen Bereichen und sehr eitle Leute aus der Führungsebene dazu gebracht, einigermaßen zeitnah Aufgaben zu erledigen. Diese Projektmanagerin hat auch etwas eingeführt, das ich bis dahin nicht kannte: „Lessons learned“. Das bedeutet, dass man nach einem Projekt zusammenkommt und gemeinsam bespricht, was für die erfolgreiche Durchführung des Projektes besonders hilfreich und was besonders hinderlich war.
Was von dem, was ich im Zuge dieser Pandemie gemacht habe – beruflich und privat – war im Nachhinein hilfreich, und was war hinderlich? Wo war ich schnell, wo war ich zu langsam? Was waren gute Entscheidungen, und was eher schlechte?
Beruflich gesehen war eine der besten Entscheidungen, dass wir relativ früh weitere Laptops gekauft haben. Es gab da auf dem deutschen Markt schon keine mehr, aber der für das Procurement zuständige Kollege in der Firmenzentrale konnte welche von genau der Marke kaufen, die wir nutzen. Er hat die letzten 11 Exemplare auf dem Markt aufgekauft, und wir haben 10 davon bekommen. Zu dem Kollegen aus dem Procurement – ein eigentlich eher wenig sexy Bereich – habe ich über die Jahre ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut. Ihm Pralinen zu Weihnachten geschickt und so. Alles, was er brauchte, sehr zeitnah erledigt. Viele freundliche Telefonate und Emails. Es war leicht, weil ich ihn gerne mag, aber sagen wir mal so: für unseren Standort habe ich alles bekommen, worum ich ihn gebeten habe. Bei den IT Guys habe ich auch ein passables Standing.
Schlechte Entscheidung: wir haben zu spät gecheckt, dass wir auch die stationären PCs abbauen und den Leuten zuhause hinstellen können. Auch schlecht, aber kaum vermeidbar: wir haben Laptops aus einer Reserve eingesetzt, die nicht gut genug vorbereitet waren. Und einige IT-Probleme hätten wir schneller als den Hauptsitz der Gruppe melden sollen, die waren für uns einfach unlösbar.
Generelle Kommunikation war sehr gut, der Kontakt lief beinahe nahtlos per Videokonferenz mit allen weiter, Stimmung und Engagement war klasse, da zeigt sich, was man über Jahre aufgebaut hat, oder eben auch nicht.
Einen richtigen Riecher hatte ich, als ich am letzten Abend vor dem Home Office alles, aber auch wirklich alles aus meinem Sitzplatz im Büro eingepackt und zuhause wieder nahezu identisch aufgebaut habe: zwei Bildschirme, kabellose Tastatur, Notizbuch, Blöcke, Stifte, Fidget Gadgets, Ich hätte mehr Verlängerungskabel hamstern sollen.
Wahnsinnig viel Verknappung habe ich in meinem Leben noch nicht erlebt. Der Online-Handel (Amazon!) trat zwar erst in mein Leben, als ich schon Mitte zwanzig war, aber die meisten Dinge liessen sich stets zeitnah erwerben. An Verknappung habe ich vor allem drei Erinnerungen:
Zum einen, wie ich 1990 mein erstes Cure-Albm gekauft habe, natürlich Disintegration. Es gab zwar schon CDs, aber ich hatte noch keinen CD-Spieler und war insgesamt von dem Konzept auch nicht so überzeugt. Ich habe Disintegration also auf Kassette gekauft, und zwar in einem Elektrofachgeschäft in der Fußgängerzone. Es war nicht nur ein Elektrofachgeschäft, es war „das“ Elektrofachgeschäft, es hiess nach seinem Besitzer „Kwast“, und man sagte nicht: ich gehe ins Elektrofachgeschäft, man sagte: ich gehe zum Kwast. Der Kwast hatte rechts Staubsauger, geradeaus CD-Spieler, links einen Tresen und hinter dem Tresen eine Musikabteilung, die Kassetten und CDs fein säuberlich nach Namen und Genre („Kinderhörspiele“) sortiert. Eine Musikkassette kostete 20 DM, Taschengeld von einem ganzen Monat. Dass es von The Cure mehr Kassetten geben könnte, als der Kwast vorrätig hatte, sollte ich erst bei unserer Klassenfahrt nach Hamburg entdecken, da konnte ich mehr durch Zufall eine Biografie von The Cure erwerben, hinten mit Diskografie. Wikipedia gab es ja auch noch nicht. Ich habe dann jeden Monat, oder jeden zweiten, wenn ich schwach war und auch mal Geld für Eis oder ein Buch ausgegeben habe, eine Kassette von The Cure gekauft. Was der Kwast nicht hatte, konnte man bestellen. So rückblickend bin ich mir gar nicht sicher, ob das Verknappung war, oder nur eine enorme Verlangsamung des Kaufprozesses in einem Alter, in dem man keine Geduld hatte.
Zweitens. So richtig arm war ich nie. 2000 habe ich The Cure auf einem Teil ihrer Tour begleitet, von Februar bis Juni (Werchter), meine ich, müsste ich aber nochmal nachrecherchieren. Danach hatte ich dann wirklich kein Geld mehr, Dispo überzogen, Kreditkarte überzogen, und als Studentin kein richtiges Einkommen. Ein paar Monate lang oder vielleicht länger stand ich dann mit 5 Euro im Supermarkt, aber noch fünf oder zehn Tage, bis ich wieder Geld abheben konnte. Zum Glück esse ich gerne Nudeln, bis heute, zum Beispiel zwei Esslöffel saure Sahne vermischt mit einem Esslöffel Tomatenmarkt, alles kalt, und dann die warmen Nudeln drüber.
Drittens. Als es anfing mit den Hitzewellen im Sommer, also regelmäßig ab 2012 und nicht nur enfach so wie 2003, da wollte ich einen Ventilator kaufen. Und zwar an dem Tag, an dem es bereits 38 Grad hatte, und an dem 40 Grad und mehr für die nächsten Tage angesagt war. Ich musste feststellen, dass Ventilatoren ausverkauft waren. Bei Saturn und Media Markt hat man mich ausgelacht, und ich wohnte schon lange nicht mehr dort, wo es einen Kwast gab. Bei Amazon waren die Lieferzeiten enorm lang, und es gab nur noch Modelle, die eher kritische Bewertungen hatten. Ich habe dann ein Modell gekauft, von dem ich nicht überzeugt war und das sich nur sehr schlecht zusammenbauen liess. Als es geleifert wurde, war die Hitzewelle beinahe vorbei. So richtig im Einsatz war es nie, bis ich es dann entsorgt habe.
Da ich aber wusste oder zumindest vermutete, dass es im nächsten Sommer wieder so eine Hitzewelle geben würde, habe ich ein Jahr später im Frühjahr einen sehr preisgünstigen und leistungsstarken Ventilator erworben, der wunderbar funktioniert und mir gute Dienste leistet, bis heute.
Wenn ich wüsste, dass eine zweite Welle an COVID-19 Infektionen käme, und dies einen erneuten Lockdown nötig machen würde, was würde ich dann kaufen?
Lebensmittel scheinen mir in Deutschland kein so großes Problem zu sein. Die Supermärkte sind immer offen, und wenn sie es nicht sind, haben wir viel größere Probleme als dass wir nicht genügend Nudeln zuhause haben. Aber vielleicht möchte ich nicht in den Supermarkt gehen, oder zumindest nicht so häufig. Für so einen Fall hilft ein „aktiver Vorrat“, also das aufstocken, was man ohnehin verbraucht. Pickelsteiner Eintopf in der Dose ist sehr lange haltbar, aber das esse ich nicht, auch nicht im Jahr 2025, wenn es abläuft. So ein leckeres finnisches Knäckebrot schon eher. Wichtig sind für mich auch Gewürze, eingelegter Knoblauch, Zitronensaft, Waschmittel, Tabs für die Spülmaschine, ein paar Kräuter auf dem Balkon. Alles, was das Home Office noch angenehmer machen könnte. Bargeld, kleine Scheine, Trinkgeldfähig. Bandbreite und Volumen. Geburtstagskarten, Geschenkpapier, Briefpapier.
Ich hab es leider verpasst, zum Optiker zu gehen und meine Brillenstärke neu vermessen zu lassen. Mit Kontaktlinsen sehe ich zwar gut, aber mit den richtigen Werten hätte ich online eine neue Brille bestellen können. Dafür habe ich großes Glück, weil ich mit allen Zahnbehandlungen durch bin, letztes Jahr zwei Wurzelkanalbehandlungen.
Was ich wirklich bereue: ich habe mich am Anfang zu sehr darauf konzentriert, dass der Virus auf Oberflächen nachgewiesen werden kann. Dabei habe ich die Meldung, dass der Großteil der Infektionen über die Tröpfcheninfektion erfolgt, erst spät wahrgenommen, und erst spät verstanden, wie hilfreich Masken sein können.
Frau N. zählt die Katzen durch. Es ist spät, und sie ist müde. Mir ist, als hätte ich hier noch etwas vergessen. Ich habe eine ganze Menge vergessen, man wird blind für die eigenen Privilegien. Aber für heute soll es reichen.
Ich wünsche Frau N., dass die nächste Welle nicht so bald kommt, und sie sich ein bisschen ausruhen kann, bis es wieder wild wird.