Jetzt doch ein Text zu COVID-19. Zum einen möchte ich heute, am 28. Juni 2020, schildern, was wir über COVID-19 wissen bzw. was vom Weltwissen bei mir angekommen ist und welche Verhaltensregeln ich für mich selbst abgeleitet und ausgehandelt habe. Zum anderen bin ich sehr bewegt über die hohe Anzahl an COVID-19 Infektionen in Fleischfabriken und möchte ein paar meiner Gedanken dazu niederschreiben.
COVID-19 kann über drei Wege übertragen werden: droplets, aerosols und fomites. Droplets bedeutet, dass eine infizierte Person, die COVID-19 Viren absondert, dies in Form von Tröpfchen tut, vor allem durch Husten oder Niesen. Droplets sind 5-10 µm groß, Aerosole kleiner als 5 µm. Aerosole werden eher beim Sprechen, ggf. auch beim Singen und natürlich beim Ausatmen produziert. Droplets fallen aufgrund ihrer Größe relativ schnell zu Boden, so dass hier Abstand halten recht wirkungsvoll sein kann. Aerosole sind klein, und können deshalb in Innenräumen länger in der Luft verbleiben (wie lange, wissen wir noch nicht). Fomites sind kontaminierte Oberflächen, zum Beispiel eine Türklinke oder ein Papiertaschentuch. Berührt man eine solche Oberfläche mit der eigenen Hand und fasst sich dann mit der Hand an die Schleimhäute, kann man Viren übertragen und sich anstecken. Hier hilft Händewaschen und Händedesinfektion, Fomites scheint aber von allen Übertragungswegen der am wenigste gefährliche zu sein. Ich habe dazu keine Quelle. Für Aerosole als Hauptübertragungsweg gibt es ebenfalls noch keine Belege, anekdotisch wird von Gottensdiensten und Chorproben berichtet, bei denen trotz Abstand und Händedesinfektion viele Infektionen stattgefunden haben. Lesenswert ist auch dieser recht wütende wissenschaftliche Artikel. Es ist denkbar, dass Aerosole auch daher sehr gefährlich sein könnten, weil über das Einatmen die Viruspartikel direkt tief in der Lunge deponiert werden. Droplets oder Fomites müssen erst den Weg über die Schleimhäute gehen.
Ich vertrete daher aktuell die Theorie, dass es die Aerosole sind, gefährlich sind. In meiner Vorstellung sind Aktivitäten, die draußen stattfinden, eher ungefährlich, weil sich die Viruspartikel in der Luft stark verdünnen. Außerdem kann es sein, dass das Sonnenlicht die Anzahl an Viruspartikeln reduziert (Quelle: Simulated Sunlight Rapidly Inactivates SARS-CoV-2 on Surfaces). Im Gegensatz dazu erscheint mir alles, was drinnen stattfindet, gefährlich, vor allem, wenn viele Menschen sich wenig Luft teilen (öffentlicher Nahverkehr!), keine Luftzirkulation stattfindet und in den Räumen gesprochen oder gesungen wird.
Zu Beginn der Pandemie hieß es, Masken (Mund-Nasen-Schutz) würde nichts bringen, da diese nach ca. 15 Minuten von unserer Atemluft durchfeuchtet und damit durchlässig werden. Die Meinung – auch meine – hat sich seitdem stark gewandelt: wer eine Maske trägt, reduziert auf jeden Fall die Anzahl an Droplets, die er oder sie selbst abgibt. Es ist auch vorstellbar, dass Stoffmasken, die z.B. außen aus Baumwolle und innen aus Seide oder Kunststoff bestehen, aufgrund der statischen Aufladung einen zusätzlichen Schutz bieten. Recht sicher sind auf jeden Fall Ffp2/N95 oder Ffp3-Masken, mit denen sich auch medizinisches Personal bei der Behandlung von infizierten Patienten schützt. Mittlerweile ist es möglich, solche Masken über Apotheken zu beziehen. Ich bin hoffnungsvoll, dass man sie nicht dem medizinischen Personal wegkauft. Die Maske kann übrigens zum Fomite an der Außenseite werden, wenn dort die Partikel hängenbleiben, die wir nicht eingeatmet haben.
Mein eigener Mix an Maßnahmen ist widersprüchlich. Ich gehe nur einmal die Woche Lebensmittel einkaufen. Ich trage an öffentlichen Orten in der Regel Masken (Ffp2). Ich treffe mich seltener mit Freundinnen, und wenn, dann nur zu zweit und vorwiegend draußen. Wir versuchen Abstand zu halten, gravitieren aber immer mal wieder zueinander hin. Mein größtes Risiko: ich gehe wieder ins Büro, zwar nur reduziert, aber ich trage im Büro keine Maske. Wir versuchen Abstand zu halten, aber wir – nunja – gravitieren immer mal wieder zueinander hin. Und wir reden viel, sitzen (mit Abstand) im Meetingraum, und sprechen lange. Das ist unvernünftig. Es ist der Kern meiner beruflichen Tätigkeit, dazusein, physisch, zuzuhören und zu reden. Es ist mir so wichtig, dass ich hier ein großes Risiko eingehe, obwohl ich es besser weiss. Dass wir beinahe eine Art von häuslicher Gemeinschaft sind, und ich den Kollegen zutraue, privat sehr vernünftig zu sein, ist hier nur ein kleiner Trost.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Freunde treffen, in kleinen Gruppe, draußen und mit Abstand: das sollte man jetzt machen, die warmen Tage und das Sonnenlicht genießen. Vielleicht wird es im Frühjahr 2021 eine Impfung geben, mit Glück. Der Winter wird lang.
Am 20. Juni 2020 wurde bekannt, dass in der Fleischfabrik Tönnies in der Nähe von Gütersloh über 1.000 Mitarbeiter positiv auf COVID-19 getestet wurden. Die Tests waren behördlich angeordnet worden, von den ca. 7.000 Mitarbeitern sind Stand heute ca. 1.500 infiziert, davon ca. 30 im Krankenhaus, 5 auf der Intensivstation und 2 müssen beatmet werden (Quelle). Fleischfabriken sind schon länger Hot Spots für COVID-19 Infektionen: der Guardian berichtete bereits am 15. Mai über zahlreiche Fälle in den USA, in Großbritannien schreibt die BBC am 21. Juni über 158 Infektionen in einer britischen Fleischfabrik. In Deutschland gab es neben Tönnies auch Ausbrüche bei anderen Fleischproduzenten (Quelle).
Warum immer wieder in der Fleischindustrie? Das Fleisch wird am Fließband zerlegt, und zwar in einem Kühlraum. Kühlen ist teuer, daher stehen die Arbeiter dicht gedrängt nebeneinander. Die Maschinen sind laut, die Arbeiter müssen laut rufen. Es ist anzunehmen, dass dieselbe gekühlte Luft immer wieder zirkuliert, damit möglichst wenig Luft von außen heruntergekühlt werden muss. In der Kälte bleiben die Aerosole besonders lange in der Luft, weil sie nicht so schnell verdampfen wie bei Wärme. Sonnenlicht gibt es nicht. Die Kälte schwächt das Immunsystem, und die Arbeitszeit ist lang. Es scheint also beinahe unmöglich, sich nicht anzustecken – es sei denn, die Mitarbeiter hätten eine Ffp2-Maske getragen und Abstand gehalten. Vielleicht hätte es auch eine Möglichkeit gegeben, einen Filter in der Klimaanlage einzusetzen? Dass die Mitarbeiter in beengten Unterkünften leben, und viele Stunden in Kleinbussen herantransportiert werden, ist erwähnenswert, scheint aber bei oben genannter Situation kaum noch ins Gewicht zu fallen.
Wir sollten alle weniger Fleisch essen, das ist klar. Aber zusätzlich zum einzelverantwortlichen Handeln brauchen wir auch einen strukturellen Wandel. Das Vermögen von Clemens Tönnies wird auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt (Quelle). Es scheint also nicht nur darum zu gehen, dass die Bratwurst billig sein muss, damit der Verbraucher spart, sondern sie muss auch billig sein, damit jemand anderes reich werden kann. Vielleicht ist “struktureller Wandel” auch ein zu großes Wort, und es würde reichen, Werkverträge und Subunternehmer zu verbieten, die Einhaltung des Arbeitsschutzes zu kontrollieren und Gewerkschaften und Betriebsräte zuzulassen. So etwas würde auch der Paketbranche gut tun.
COVID-19 ist ein Vergrößerungsglas, dass die Ungleichheit der Welt noch deutlich sichtbarer macht, unsere Schwächen hervorhebt und manchmal auch unsere Stärken. Es ist eine großartige Chance, Dinge neu zu denken und neu anzugehen: Fleischkonsum, Klimaschutz, Arbeitsschutz, Tourismus. Ich habe einen Funken Hoffnung und einen Eimer Pessimismus. Und ganz besonders beunruhigen mich die Orte auf der Welt, die so still sind in diesen Tagen: Südafrika, Nigeria, Jemen, und die Flüchtlingslager der Rohingya.