Wish

Von einer Bibliothek geträumt. Sehr groß, ein klassizistischer Bau, vielleicht in London. Ich muss erst Schlange stehen, gehe dann durch einen Garten mit sehr schönen Beeten – vielleicht kann man die Pflanzen auch ausleihen – und dann in eine Halle mit Galerien und Winkeln, ein Füllhorn an Medien, mit einem Blick gar nicht zu erfassen. Es ist eine angenehm pulsierende Aktivität zu spüren, Menschen laufen herum, stöbern, nehmen Dinge aus den Regalen und stellen sie wieder zurück, setzen sich hin und lesen.

Hinter einer Säule ein langes Regal mit Zeitschriften. Plötzlich habe ich ein Comic mit Robert Smith in der Hand – interessant, denke ich. Daneben eine ganze Reihe von Musikzeitschriften mit The Cure auf dem Cover, Robert im blauen Hemd mit den gekämmten Haaren (ungefähr so). Nach einer Weile verstehe ich, dass die Bibliothek in dieser Abteilung immer Zeitschriften ausstellt, die „on this day“ vor einigen Jahren oder Jahrzehnten veröffentlicht wurden. Im Traum denke ich „ah, vor 25 Jahren“, es sind aber tatsächlich beinahe auf den Tag 30 Jahre.

Im Traum habe ich so ein Glücksgefühl, weil ich diese Bibliothek entdeckt habe und darin etwas von The Cure, das mich sehr interessiert und mir Freude macht. Beides sind wiederkehrende Elemente in meinen Träumen, normalerweise aber nicht zusammen.

Ich träume gelegentlich, dass ich in einem Plattenladen bin, so wie es sie in den späten 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Camden, London, gab. Man geht eine unscheinbare Treppe hinunter und steht dann in einem Kellerraum, der ohne Zwischenwände über die gesamte Länge des Gebäudes geht, Reihe um Reihe um Reihe mit Tonträgern. Ich gehe zielstrebig zum Reiter „C“, finde die Sektion für „The Cure“ und dahinter jede Menge Bootlegs, Konzertmitschnitte, B-Seiten und Interviews, die ich noch nie gehört habe. Es ist eine Metapher für all das Unbekannte im Leben, auf das ich noch neugierig bin, das ich noch nicht erlebt habe, aber erleben möchte.

Bibliotheken haben etwa zwanzig Jahre eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Zuerst die Stadtbücherei – es gab ja damals noch kein Internet. Für ein oder zwei Jahre auch die Schulbücherei als Rückzugsort, denn ich war einige Zeit lang ganz und gar nicht beliebt in meiner Klasse. Im Studium dann die Universitätsbibliotheken mit ihren komplexen Ausleih- und Suchfunktionen, zu der Zeit gerade im Prozess der Umstellung auf digitale Prozesse. Ich erinnere mich an die Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin und an die Bibliothek des Instituts für Organische Chemie, in der ich viele Stunden gelernt oder das Lernen prokrastiniert habe. Wunderbare Fensterplätze hatten die. Ich möchte irgendwann noch einmal hin und mir anschauen, wie das heute alles aussieht. Ich glaube, das Gebäude des Instituts gibt es gar nicht mehr.

Das Bibliotheksgefühl ist kein rein positives. Es ist verbunden mit der Erinnerung, noch nicht so richtig zu wissen, wer ich bin und wer ich sein möchte, was ich kann und worin meine Stärke liegt. Alles ist ein wenig fragil, vielleicht auch ein bisschen prekär, das Scheitern eine reale Möglichkeit.

Also ganz so, wie es ist, wenn man etwas Neues wagt.

Ich mag an meinen Unterbewusstsein, dass es so ganz und gar nicht subtil ist.

23

Aus dem Büro gegangen, nicht rechts und dann mit dem Aufzug in die Tiefgarage, sondern durch die Drehtür und dann über die Straße. Die kleine Gasse hinter Prada, Dior, Gucci und Louis Vuitton entlang, wo die Angestellten rauchen, sich die Pappkartons stapeln, die Desk-Sharer auf cool machen und zwei afrikanische Frauen über Gott sprechen. Ich hatte lange überlegt, ob ich meinen Wintermantel aus dem Auto holen soll, ein Gedanke, der mir jetzt absurd vorkommt.

Heute eine Transaktion von etwas mehr als einer Million Euro abgewickelt. Ich denke darüber nach, ob ich das viel finde oder wenig, und komme zu keiner Antwort. Eine Wohnung würde man dafür schon bekommen, und sie wäre vielleicht sogar schön, oder zumindest ganz nett.

Handtaschen oder Chanel interessieren mich nicht. Ich gehe in die Buchhandlung, kurz nur, denn ich bin bald mit Frau Novemberregen wartet. Der Kassierer trägt ein Schild mit der Aufschrift “ich kann nicht sprechen“. Wir kommunizieren einseitig.

Ich überlege, immer mal wieder, gerade jetzt auch, was mich glücklich macht. Was mich noch etwas mehr glücklich macht. Was fehlt. Was der Punkt ist, oder die Pointe.

Und dann bin ich, ohne es so richtig zu wollen und ohne es geplant zu haben, ein bisschen verzaubert von der Stadt, wie sie sich präsentiert heute, wie sie aufgetaucht ist aus dem Wintergrau. Als wäre es eine andere, heimliche Stadt – aber das stimmt nicht, es ist einfach nur die Sommerstadt, die Fünf-Uhr-Stadt, und wir sehen uns nicht so oft. Ich wäre heute beinahe nicht rausgegangen, es ist ein beinahe absurder Zufall, denn Amazon – ausgerechnet! – hat nicht geliefert.

Ich sollte es öfter tun. Rausgehen, den Alltag durchbrechen, neue Welten in die kleine Welt in mir drin hineinlassen.

Ich ziehe die Strickjacke aus, und laufe an einem Thermometer vorbei: 23 Grad.

Flat white

Der Starbucks zwischen den Bürotürmen hatte den ersten Lockdown nicht überlebt. Dort gibt es jetzt eine Art Hipstercafé, aber mehr so im mid-century modern-Stil (also zwischen Mad Men und dem Helmut Kohl`schen Kanzlerbungalow). Zwei junge Männer – vielleicht Brüder – in einer Uniform, die dem von Stewards auf einem Atlantiküberquerung ähneln, machen sehr guten Kaffee. Ihre Mutter backt Croissants und einige Croissant-ähnliche Gebäckstücke mit komplizierten Namen. Die Espressomaschine ist ganz Stahl und Chrom. Die Preise sind in vollen Euro, und es gibt vier Kaffeespezialitäten, frisch gepressten Orangensaft und vier alkoholische Getränke. Sonst nix. Irgendwo steht ein DJ-Pult. Es gibt keine Sitzplätze, nur eine Theke zum Stehen.

Ich war erst sehr skeptisch und beobachte diesen Laden weiterhin mit einer gewissen Verwunderung. Der Kaffee ist aber wirklich gut, es ist nur ein Block vom meinem Büro entfernt und als Treffpunkt für ein kurzes Gespräch draußen ist es ideal, insbesondere da ich ja pandemiebedingt kein indoor dining mache.

Jedenfalls, ich komme zum Punkt: ich war gestern das erste Mal seit etwa einem Monat wieder da (Urlaub etc.), und als ich die Tür aufmachte, ging ein großes Strahlen über das Gesicht eines der beiden Männer. Ich scheine also einen gewissen Stammgaststatus erreicht zu haben. Der junge Mann und ich hatten recht am Anfang meiner Besuche eine Interaktion, wo er mir versehentlich falsch rausgegeben hatte, nämlich 5€ zu wenig. Es war mir nicht aufgefallen, er hat mich darauf angesprochen. Ich habe den Schein dann wieder zu ihm rübergeschoben, was anscheinend nicht herablassend, sondern charmant rüberkam (und ja auch so gemeint war).

Viel mehr als das Trinkgeldthema frage ich mich aber, wie meine wechselnde Begleitung auf den Steward wirkt: ich bin dauernd in anderer Begleitung da. Am konstantesten mit Frau Novemberregen, ein paar Mal mit dem IT-Leiter, und ansonsten mit den verschiedensten Mitarbeiter:innen und gelegentlich mit Freundinnen.

Welchen Eindruck das wohl hinterlässt, wenn man den Hintergrund nicht kennt?

Ich bin neugierig, aber mir natürlich auch im Klaren, dass andere Leute gar nicht so viel über einen nachdenken, wie man manchmal meint.

Dinge ohne Ort

Frau N. hat heute wieder ein besonderes Getränk, und zwar brasilianische Passionsfrucht (mitgebracht von einem Bekannten direkt aus Brasilien), das sie sich mit Sekt aufgegossen hat. Sieht nicht appetitlich aus, schmeckt aber bestimmt gut.

Ansonsten hatte Frau N. heute ein Issue mit der Pünktlichkeit, obwohl wir unseren Termin bereits regulär eine Stunde nach hinten verschoben hatten und OBWOHL sie zuhause in (freiwilliger) Quarantäne sitzt und eigentlich gar nicht so viel anderes machen kann. Darüber hinaus bemängele ich noch ihr technisches Equipment, denn obwohl Frau N. einen Computer, einen Laptop, ein Tablet und einen Arbeitsrechner besitzt, nimmt sie an unserem Gespräch auf der schlechtesten aller technischen Ebenen teil, nämlich per Handy. Und ohne Kopfhörer. Und das in Pandemiemonat 26!

Ich seufze, und sie sagt: „was ist das für ein Geräusch?“, und wir kabbeln uns ein bisschen, wer von uns beiden für die Soundqualität verantwortlich ist.

Es ist schön, sie zu sehen. Und es geht allen einigermaßen gut, größtes Problem scheint die Langeweile zu sein.

Wir sprechen ein bisschen über die Reduzierung der Möglichkeiten in der Selbstisolation, und dass es auch etwas befreiendes hat. Erinnert mich an den Pandemiebeginn, als ich dachte, dass es ja auch mal ganz schön ist, so viel zuhause zu sein. Ich ging viel mit meiner Mutter spazieren, man war den Jahreszeiten näher, wir haben Rehe gesehen und Hasen und einmal sogar eine Natter, und kannten alle Vorgärten und Briefkästen in der Nachbarschaft.

Ich bin durch mit der Reduktion der Möglichkeiten und gehe demnächst wieder auf ein Konzert (mit Maske). Beim Ticketkauf habe ich mich sehr gefreut. Es hat mir gefehlt.

Ich arbeite normalerweise in den Büroräumen, heute aber nochmal Home Office. Ich habe es aus Gründen ruhig angehen lassen und zwischendurch immer mal wieder aufgeräumt. Nach nur sechs Jahren in dieser Wohnung ist bald alles an seinem Platz und ordentlich per Etikettiergerät beschriftet. Es war sehr zufriedenstellend.

Für ein bekanntes Organisationsproblem habe ich eine ungewöhnliche Lösung gefunden. Ganz okay, denke ich, solange die Kiste nicht zu groß wird.