zum Nachlesen

Zwei Wochen nichts geschrieben, es fehlt niemanden, aber wir machen das hier ja nur für uns selbst. Und fürs Archiv, zum Nachlesen. Bei Frau Novemberregen nachgelesen, was sie vor fünf Jahren gemacht hat. Ziemlich viele Parallelen: vor fünf Jahren schrieb sie über ihren Balkon, gerade grillt ihr Mann und reicht ihr Würstchen an. Vor fünf Jahren schrieb sie darüber, dass sie nicht zuhause arbeiten kann. Heute macht sie es, sie kann es, aber es gefällt ihr nicht. Vor fünf Jahren schrieb sie über Lebensmittelkisten, heute hat sie eine halbe Kuh geliefert bekommen.

Ich habe im Juni 2016 nichts geschrieben. Es war aber das bislang vielleicht glücklichste Jahr in meinem Leben.

Heute vor etwas weniger als einem Jahr habe ich über 2030 geschrieben. Weil mein Weblog down war, durfte ich sogar bei Novemberregen bloggen. Und ich habe – genauso wie heute – ins Archiv geschaut. Gestern hatte ich ein interessantes Gespräch mit dem Head of Llama, vor einem Jahr auch. Ich habe ihn ein bisschen lieb, den Head of Llama. Gestern habe ich ihm ein klein wenig Rat gegeben, ich möchte nämlich, dass er noch mehr Karriere macht. Zerbrechlicher Moment zwischen uns, es ist da etwas sehr zartes in ihm, da muss ich sehr, sehr vorsichtig sein. Ich hoffe, dass ich es war.

Ich selbst mache mir heute wie auch vor einem Jahr Gedanken über meinen weiteren Weg in meiner Organisation. Ein ganzes Stück bin ich schon gekommen, seit 2016 sowieso, aber im letzten Jahr erst recht. Ich sitze fester im Sattel, und das System so ausgerichtet, dass es für mich noch weitergeht, aber es fehlt eine Zündflamme, ein Anstoss. Ich bin sehr gespannt, was ich nächstes Jahr darüber schreiben werde.

Who am I and what is my work? Das ist mir jetzt klarer. Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Meine Unsicherheit gerade ist weniger, dass ich nicht wüsste, wer ich bin und was ich kann. Ich bin mir unsicher, was ich will und was ich bereit bin, dafür zu geben.

Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Plötzlich werden die Karten neu gemischt, jemand geht, jemand anderes kommt, die Macht verschiebt sich, ein Windhauch irgendwo, oder eine Pandemie. Ich versuche, es zu nehmen, wie es kommt, mir selbst und dem System nicht so viel Druck zu machen, bis es irgendwo hinter einer Dichtung hervorspritzt und der Keller vollläuft. Es gibt vieles, was ich mit meinem Leben machen könnte, mit meiner Zeit, und sehr vieles, das mir Freude macht.

Eine kleine Ratlosigkeit bleibt. In einem Jahr bin ich wieder etwas klüger.

die kleine Normalität

Stimmung recht volatil, gestern sehr schlecht, heute ziemlich gut.

Schlecht heißt, dass mir nichts Spaß macht, kein TikTok, kein Twitter, kein Internet, und mich nichts interessiert, die Arbeit nicht, die Projekte und To-do’s auch nicht, die Bücher langweilen mich und die Musik ist mir zu Jazz. Und das Wetter war auch schlecht.

Auch heute regnet es, grauer Himmel, aber die Laune besser, keine Ahnung, woran es liegt. In sechs Videokonferenzen gewesen, was für acht Stunden Arbeit (plus) schon recht viel ist. Aber die Laune ist gut, und das ein- und wieder auftauchen, der rasche Wechsel von Themen hat mir Spaß gemacht. Alles interessiert mich heute, ich bin ganz im Moment, und die Musik groovt.

Bei einem regelmäßigen Meeting mit Kolleg:innen aus einem anderen Standort werde ich immer ausgesprochen höflich behandelt, gar hofiert, ich kann aber inhaltlich rein gar nichts beitragen. Das verwirrt mich ziemlich, fühlt sich seltsam an, mal sehen, wie ich damit am besten umgehe.

Frau N. sieht auch heute wieder ausgesprochen gut aus, ich mache ihr ein Kompliment für ihre Bluse, die ihren Busen bestmöglichst (und dennoch business casual angemessen) zur Geltung bringt. Ganz kurz chatte ich heute auch mit dem Kind von Frau N., die in Wirklichkeit schon eine junge Erwachsene ist, und ergattere eine Verlinkung auf TikTok. Endlich mit jemanden aus GenZ befreundet! Zumindest virtuell.

Vor gut einer Woche hat jemand, der wie ich eher Gen X ist, gepostet, dass die Pandemie in 35 Tagen (in Worten: fünfunddreißig) zuende sein wird. Ich finde den Gedanken schön, wenngleich nicht ganz zutreffend. Die Pandemie wird insofern „vorbei“ sein, als dass in Deutschland ausreichend Menschen erst- und teilweise zweitgeimpft sein werden, um eine kleine Normalität zu ermöglichen. Die kleine Normalität heißt: teilweise Rückkehr ins Büro, Wiedereröffnung der Außen- und vielleicht auch Innengastronomie, Soft Opening der Geschäfte und Hotels und Museen mit Maske und Abstand, Auslandsreisen mit negativen Test usw. Es wird sich anfühlen wie letzten Sommer, vielleicht ein bisschen besser, nur manchmal wird noch jemand erkranken, den wir über ein paar Ecken kennen, und auf anderen Kontinenten werden sie Gräber graben. Zum Winter hin wird es entweder wieder schlimmer werden, oder es wird sich auf diesem Niveau noch ein bis zwei Jahre ziehen, mal sehen.

Frau N. und ich werden uns voraussichtlich Mitte Juni wieder persönlich treffen. Gut möglich, dass es das erste Mal in 2021 sein wird.

„Good Omens“ noch einmal angeschaut, also die Verfilmung. Der Dämon versucht den Engel zu überzeugen, sich mit ihm zu verbünden, um das Ende der Welt (Armageddon) abzuwenden. Nach dem Ende der Welt, egal welche Seite gewinnen würde, gäbe es die Welt nicht mehr. Keine Bücher. No old Bookshops. Keine Musik (who do you think has all the musicians?). No more fascinating little restaurants where they know you by name.

Der Engel erschaudert.

Livekonzerte. Karaoke. Mit Francine drei Stunden in der Buchhandlung stöbern. Mit dem ICE nach Berlin oder Amsterdam, durch die Neue Nationalgalerie oder das Rembrandthaus. In der Lounge am Flughafen abhängen. Mit der Truppe aus dem Büro den ganzen Abend beim Libanesen, Mezze essen, Weißwein trinken. Durch die Stadt laufen, blaue Stunde, ein kleiner Moment der Stille zwischen den Bankentürmen, und spüren: alles ist möglich.

Es fehlt mir sehr, aber es fühlt sich fast unanständig an, es zuzugeben.

Einmachglas

Fühlt sich alles sehr angenehm an gerade. Licht scheint golden über das Hausdach gegenüber, ehe die Sonne gleich untergeht. Frau Novemberregen sieht sehr gut aus heute, ich frage sie, ob sie etwas verändert hat – Friseur? Neue Brille? Abgenommen? Sie verneint. Vielleicht ein Filter, der sich weich über alles legt.

Büro ist gut gerade, deutlich weniger zu tun als in den letzten Wochen, und alles recht gut organisiert und einfach von mir wegzudelegieren. Es bleiben genügend spannende, gar sexy Themen für mich, Redezeit mit dem CEO zum Beispiel, da bin selbst ich noch aufgeregt. Dinge lassen sich bewegen, Informationen fließen, ich werde gesehen, manchmal leuchten dabei die Augen, und zwischendurch wasche ich eine Ladung Wäsche.

Sonst passiert ja nicht viel. Draußen ist es sehr grün, immer mal wieder regnet es heftig, dann blauer Himmel. Ich habe immer noch nicht das nächste Buch gefunden, das ich lesen möchte. Die Wohnung ist aufgeräumt, relativ sauber, die interne To-do-Liste in gutem Zustand, und ich bin nur mit einer Sache so richtig im Rückstand.

Das Glücklichsein – oder jetzt gerade ist es vielleicht eher Zufriedenheit – ist erzählerisch relativ langweilig, im Erleben aber wirklich sehr angenehm. Es sind Tage wie diese, die ich herbeisehne und die mir fehlen, wenn ich down bin und mir alles grau vorkommt.

Ich habe ein paar Bilder in mir, die ich in besonderen Momenten aufrufe, um mich zu stärken. Vielleicht mache ich auch diesen Tag heute in ein Einmachglas, für dunklere Zeiten.

Ripples

Erfahren, dass eine Abteilung geschlossen wird, zum Glück nicht in Deutschland, aber mit ordentlich Stellenabbau. Ein ungewöhnlicher Schritt für die Organisation, für die ich arbeite, aber kein ganz überraschender. Wenn man sein Ohr an die Schienen hielt, konnte man den Zug kommen hören, vor ein paar Wochen oder Monaten schon. Da wurden Prozesse gemappt, externe Berater erstellten Flowcharts, und einmal hat jemand in der Videokonferenz seinen Bildschirm mit mir geteilt, und ich habe was gesehen, das nicht für mich bestimmt war.

Gefährliches Ding, diese Screenshare-Funktion.

Mein Geschäftsführer wurde hochoffiziell in einem Meeting informiert, ich ungefährt drei Stunden früher, weniger offiziell und mit einer Menge an Details und dreckiger Wäsche. Strategie oder Zufall? Diejenigen, die bald keinen Job mehr haben werden, werden wohl noch eine Weile ahnungslos bleiben.

Ich ahne, dass dies der Vorläufer ist für einen Kampf, den wir wohl bald auch an unserem Standort austragen werden müssen. Unklar, ob wir gewinnen, oder ob wir es dann sein müssen, die Gespräche führt, mit jedem einzeln, im Konferenzraum, Tränen beim rausgehen und ein brauner Umschlag.

Vielleicht bin es irgendwann auch ich, die in einen Konferenzraum gerufen wird, und als eine andere herauskommt.

Ich habe noch so etwa 20 Jahre vor mir, und hatte gehofft, zumindest die nächsten zehn Jahre noch hier verbringen zu können, natürlich in einem Umfeld, das sich nie ändert und das ich mehr und mehr meistern werde. Aber es ändert sich ja alles, immer. Auch vorstellbar, dass ich mich irgendwann nicht mehr zugehörig fühle. So ist es mir ja ein paar Mal gegangen, ich habe tief Luft geholt und gesagt: „ich habe mich entschlossen, das Unternehmen zu verlassen.“ Beim letzten Mal ist der damalige Chef ein kleines bisschen in die Höhe gesprungen vor Schreck, das hat meiner Eitelkeit gut getan, aber ersetzbar sind wir alle, auch ich, und manche auch leichter ausbeutbar und mit weniger zufrieden.

Im Moment sieht es ein bisschen aus, als würde mein Standort, und damit Kontinentaleuropa insgesamt, an Bedeutung gewinnen. Die Andeutungen, European Head of werden zu können, gibt es ja schon eine Weile, wie ein attraktiver Mann, der verspricht, aber nicht liefert. Ich beschäftige mich nicht mehr damit.

Mich beschäftigt eher die Frage, was ich will – und das ist ein großes Privileg, sich diese Frage stellen zu dürfen. Viele Jahre ging es ja nur darum, was verfügbar war, und das musste ergriffen werden. Jetzt scheint es Möglichkeiten zu geben, die Welt ein Stück weit zu gestalten, das tickt natürlich alle Boxen in mir und schaltet die intrinsische Motivation auf ein Maximum.

Aber – will ich das überhaupt? Noch mehr arbeiten, noch mehr an die Arbeit denken, noch weniger Zeit für mich, mit größeren Jungs spielen, die nicht immer nett sind? Gehalt steigt natürlich nicht proportional zur Verantwortung.

Ich spüre mich ja selbst stets nur ungern im Scheitern, mäßig gerne im Lernen, und gar nicht gerne, wenn ich etwas nicht kann. Ja, es ist ein großes Gefühl, dann irgendwann etwas gemeistert zu haben, in schwierigen Situationen bestanden zu haben. Ich muss mir nichts mehr beweisen. Mich interessieren die Geschichten, und die Menschen dahinter, das Zusammenspiel und Zusammenwirken, die ineinandergreifenden Zahnrädchen von Kausalitäten und wo es hängt und klemmt. Die Wellen von Steinen, die längst versunken sind, und doch alles ins Schwanken bringen können. Die Organisation, wie sie sich schüttelt und dehnt, wie ein schläfriger Dinosaurier, und mir manchmal, wenn es Nacht ist und ganz still, die Stelle zeigt, an der es weh tut. An der ich einen kleinen Stachel herausziehe, ein wohliges Seufzen vernehme, und weiß, es geht gerade alles gut. Und ich kann auch schlafen, bis es wieder weitergeht, hochfrequent und außer Atem und spannender, als es ein Buch je sein könnte.

5. Mai 2021

Müde, aber nicht unangenehm, nicht erschöpft und nicht ausgebrannt müde, auch nicht wohlig entspannt müde, irgendwas dazwischen.

Der Monatsfünfte ist heute, was machst du eigentlich den ganzen Tag.

Ich bin aufgestanden. Ich bin aufgestanden, habe mich über den Sonnenschein gefreut (nur kurz). Ich habe mir einen Kaffee gemacht, dabei die Spülmaschine ausgeräumt, dann im Internet gesurft, mich angezogen, den Müll runter gebracht, meiner Mutter die Zeitung vorbeigebracht, mich kurz mit ihr unterhalten, und bin wieder in meine eigenen Wohnung gegangen. Ich habe den Computer hochgefahren und angefangen zu arbeiten.

You either have an emails job, or you have a boxes job, heißt es ja so schön, ich glaube, ich habe das schon einmal zitiert. Bei mir ist es eher ein Email-Job. Heute war ein guter Tag, mit 60-70 eingehenden Emails, etwa 35 habe ich selbst geschrieben. Wenig Termine, ein Gespräch mit einem externen Dienstleister, sehr produktiv, und ein Gespräch mit einem Kandidaten. Außerdem ein Gespräch mit meinem Chef, eher beschwerlich, denn wir sind nicht einer Meinung, brechen an den allzu bekannten Kanten auseinander. Ich sage ihm, er soll strukturiert führen, er hält das alles für Blödsinn. Wir haben uns aber nicht so sehr gestritten, wie das manchmal der Fall ist; er war mir gegenüber nicht ganz so garstig, ich habe nicht gestichelt, wir werden den Streitpunkt nächste Woche im Meeting noch einmal besprechen, und ich habe mir dann einfach Lammkoteletts gemacht.

Was war sonst noch. Das Wetter war sehr intensiv, Gewitter mit Donner, Platzregen, schwarze Wolken, dann wieder Sonnenschein, nur einen Moment später Sturm, eine Email später ist es wieder ganz anders.

Ich spiele ein Retro-Klickspiel, Zuma heißt es, man schließt mit farbigen Kugeln auf eine Kette von farbigen Kugeln, ehe diese im Abgrund verschwinden. Es gibt zehn Levels, ich hänge auf 9-4 fest, Tage oder Wochen schon, weiß nicht genau, woran es liegt, keine Geduld, kein Glück?

Bisschen kaltes Lamm zum Abendessen, dann mit Novemberregen über die vierte Verordnung zum Infektionsschutzgesetz, mein neues Auto, den Mann von Frau Herzbruch, eine gemeinsame Freundin, unser jeweiliges Büro und die Notwendigkeit und Ausführung regelmäßiger Teamgespräche gesprochen. Auf Twitter gefragt, worüber ich bloggen soll, Antworten wenig nützlich (Pastaformen, Lady Gaga, Neuwagengeruch, Muttertag, Karaoke, Bäckereibesuche).

Gebloggt.

Vielleicht noch fürs Archiv: es fühlt sich gerade ganz leicht hoffnungsvoll an. Immer mehr Menschen werden geimpft, auch im nahen Umfeld. Beruflich und privat sprechen wir vermehrt darüber, wie es sein wird, wenn ein Großteil vollständig geimpft ist, und es entsteht im Kopf eine Vorstellung der neuen Normalität. In meine Hoffnung mischt sich eine große Portion Vorsicht, es könnte noch so allerhand passieren bis dahin – Stichwort: Varianten – aber auch ich fühle mich ein bisschen.. optimistisch. Das mag aber auch am Frühling liegen, oder den Hormonen, oder daran, dass ich gerade einen einigermaßen bewältigbaren Workload habe. Mal sehen, wie gut dieser Absatz altert.

Ego Shooter

Was mir fehlt, das ist, mich so richtig ärgern zu dürfen. Nicht nur im inneren Monolog, sondern auch nach außen. Jemandem zu sagen: „jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, oder „so geht das aber nicht!“, oder „was hast du dir dabei eigentlich gedacht??“. Auch sowas wie „ich hätte mehr von dir erwartet“, „ich kann nicht verstehen, wie jemand wie du, der [Eigenschaft, Lebenserfahrung und/oder herausgehobene berufliche Position] besitzt, sich so verhält!“, oder „fällt dir ernsthaft keine andere Lösung ein?“, liegt mir oft auf der Zunge.

Aber so geht das eben nicht. Ich koche innerlich, mindestens ein paar Stunden, gerne auch länger. Dann stelle ich mich und meinen Ärger hinten an, und suche professionell oder – im privaten – erwachsen das Gespräch. Erfrage Gründe. „Ich würde gerne erfahren, an welchem Punkt wir unterschiedlich abgebogen sind“, „ich möchte verstehen, weshalb du dies oder jenes gemacht, dich so verhalten hast“. Öffne Perspektiven, schaffe buy-in: „für mich ist es wichtig, dass [dies und jenes]. Kannst du mich dabei unterstützen?“.

Es zählt zu den Dingen, die mich am meisten Kraft kosten. Nicht direkt und klar sagen zu dürfen, was ich fühle, was ich über jemanden denke. Es herunterschlucken müssen, verpacken, umschreiben, höchstens eine kleine Ecke hervorblitzen zu lassen, und meistens ist es genau dieses hervorblitzen, was mich am Ende in den Hintern beißt. Ich habe gelernt, dass es in der Konfliktsituation nicht besonders viel bringt, dieses jetzt sage ich dir mal, wie es wirklich ist. Es hinterläßt verbrannte Erde, es brüskiert, auch wenn es wahr ist.

Zum Glück kommt es selten vor, dass ich so wütend werde, mich so über jemanden ärgere. Das mag an einer Kombination aus einer guten Blase um mich herum und einem weichzeichnenden Blick liegen. Wohin aber mit dem Ärger? Frau Novemberregen meint, der Ärger muss raus, aber natürlich nicht gegenüber der Person, denn die Personen tun ja laut Frau N. „ihr bestes“. Auch so ein Knackpunkt, denn ich denke häufig, wenn ich mich ärgere: ich hätte mehr von dir erwartet.

Frau N. geht Treppensteigen, um den Ärger los zu werden. Ich muss mir etwas eigenes überlegen, agressiv gärtnern vielleicht, oder besonders schnell Motorboot fahren. Man versteht, weshalb die Stimmung auf den deutschen Autobahnen oft so gereizt ist, aber ich möchte dazu nicht beitragen. Computerspiel vielleicht, Ego Shooter oder Grand Theft Auto oder so. Mal sehen.

Schweißnähte

Beruflich und privat viel verhandelt, als Verkäuferin und potentielle Käuferin. Ich denke von mir, dass ich das nicht besonders gut kann: handeln, feilschen, bluffen. Auf dem Basar fühle ich mich nicht besonders wohl. Madam! Madam!, rief mir mal einer hinterher, Handbags! Gucci Prada Hermes! Handbags! HANDBAGS! Aber der Glitzer, das Gold und die Marken, das interessiert mich nicht so. Mir geht es eher um das nicht-haptische, wie Leistung, oder die großen Beträge, eine halbe Million, und dann schiebt man noch 20k links oder rechts.

Das mit dem nicht-haptischen stimmt nicht ganz, denn ich interessiere mich gerade für ein Auto, schwarz und geschwungen, geschmeidig und elegant. Ich bin dafür heute nach Mannheim gefahren, vorbei an Industrieanlagen, gewundenen Leitungen aus Metall, der Horizont verbaut mit rätselhaften Gebilden, und obendrauf brennt eine Flamme. Die Luft schmeckt ein bisschen sauer, und am Straßenrand warten die Menschen auf den Bus, oder fahren Fahrrad. Es heißt ja so schön, dass die Menschen heute entweder in einem Email-Beruf arbeiten, oder in einem Karton-Beruf, aber es gibt auch noch andere, die in großen Werksgebäuden verschwinden und dort weder das eine noch das andere tun.

Ich habe ja eher einen Email-Job, 150 sind es pro Tag, wenn es kein guter Tag ist. Aktuell habe ich eher einen Videokonferenz-Job, fünf bis sieben hintereinander, man wird dann die, die immer sagt „sorry for being late, the previous meeting has run over„, und ist ganz froh, wenn man zwischendurch mal aufs Klo kann. Die wirkliche Arbeit macht man an solchen Tagen morgens um sieben oder abends um acht.

Ich würde über mich selbst sagen, dass ich einen nicht-haptischen Job habe. Die Emails, die ich produziere, sind nicht das wichtigste, und nichts von dem, was ich tue, passt in einen Karton. Ich stelle Strategien her, ich verfolge sie, ohne nachzulassen, und ich verändere ganz leise, zart und langsam, Werte und Kultur.

Dabei hätte gar nicht viel gefehlt, und ich hätte im weißen Kittel in einem dieser Werke gearbeitet, mit einer kleinen Flamme obendrauf. Ich denke da manchmal drüber nach, an welchen Stellen mein Leben ganz anders weitergegangen wäre, wenn eine winzige kleine Veränderung passiert oder nicht passiert wäre, eine Verschiebung nach links oder rechts, wenn die Würfel ein klein wenig anders aus dem Würfelbecher gefallen wären. Vielleicht würde ich dann dasselbe Auto kaufen wollen, bei demselben Autohändler, aber ich selbst wäre eine ganz andere.

Sollbruchstellen, nannte das mal Hotelmama, ich denke eher an Schweißnähte, die die Fragmente zusammenhalten. Sollbruchstellen, Schweißnähte, eine rauhe Stelle, an der man hängenbleibt, wenn man mit dem Finger drüber fährt. Ich überlege, wo es in mir drin Schweißnähte gibt, oder bei so einem Auto, das von außen schwarz und glänzend, geschwungen und ganz glatt aussieht.

Ich kann nicht besonders gut handeln, aber ich kann gut zuhören, Pausen zulassen, etwas unausgesprochenes mitschwingen lassen, Druck widerstehen, Risiko eingehen und bin erfahren in delayed gratification. Ich glaube, am Ende werden wir beide einen guten Deal gemacht haben.

Perform or die

Sehr schlechte Tage gehabt, alles schlecht, bis auf das Licht. Am Tiefpunkt ist das Gefühl innendrin so stark, dass es sich als dumpfer Schmerz hinter dem Brustbein manifestiert. Verzweiflung & Überforderung.

Es gibt so bestimmte Fragen, zum Beispiel: bin ich depressiv? Ist das noch normal oder schon eine Suchterkrankung? Ist das ein toxisches Verhalten? Wenn man sich so Fragen stellt, ist die Antwort meistens: ja.

Außer vielleicht bei der Depression, ich glaube, das fühlt sich noch anders an, bei dem, was ich fühle, ist mir zu viel Selbstmitleid dabei, und zu viel, was von außen kommt, unter anderem ein Termin, wo ich etwas machen muss, auf das ich wirklich absolut keinen Bock habe.

Ich reflektiere ein wenig, und mache dann das Münchhausen-Ding mit dem eigenen Schopf. Ich erstelle eine To-do-Liste und einen Wecker, der erste Punkt ist: 15 Minuten liegen. Ich liegen 15 Minuten, ich atme ein, ich atme aus. Ich spüre den Schmerz, ich spüre mich, werde ruhiger, und der Schmerz weniger. Dann fällt mir tatsächlich etwas ein, das ich gerne mache, das mache ich dann, 15 Minuten lang, und dann was, das ich nicht so gerne mache, aber ein Haken auf der To-do-Liste und ein bisschen Serotonin, und so weiter, ein Schritt nach dem anderen.

Ich würde gerne einen Ratgeber schreiben, Hochfunktional durch die Depression, aber ich bin ja nicht depressiv.

Dann der Termin, auf den ich wirklich absolut gar keinen Bock habe. Es ist ein seltsamer Trost, im mittleren Alter zu sein und schon ein paar solcher Scheißtermine absolviert zu haben. Es ist Zeit, und ich performe, volles Abrufen des Leistungspotential, es ist ein Segen, es ist ein Fluch.

Ich fahre nach Hause, Autobahn, Weinberge und Wald im Abendlicht, Rücklichter, leuchtend. Ich bin so hart geworden, ich wundere mich selbst, eine knallharte Businessfrau, und innendrin ganz roh und weich. Hart, weil alles andere alternativlos erscheint, perform or die, dabei wäre der geheimste Wunsch, einmal ganz schwach zu sein, völlig zu versagen, alles fahren zu lassen und gerettet zu werden. Ich kann sie sehr gut verstehen, die Frauen, die sich fesseln lassen und an der Decke schweben. Indes, ich wollte es nie sein, sondern wollte schöne junge Männer vor mir knien und Schmerzen ertragen sehen, sie sollten leiden und ich liebte sie dafür, und so war dann in einer einzigen Szene auf einmal alles, was auch in mir drin ist.

Es war wunderbar, berauschend und groß – und ich konnte, wollte es nicht festhalten. Es krümelte mir so weg – war es mir letztendlich doch zu viel Arbeit? Vielleicht ist es das, mein großes Versagen, aber wenn ich drüber nachdenke, fällt mir sicher noch mehr ein.

Wartung & Inspektion

Urlaubstage, die nicht mit Reisen oder Feiertagen verbunden sind, nehmen stets einen seltsamen Charakter an, nämlich einen werktäglichen, wie zwei Speisen, die zu nah und zu lange unverpackt nebeneinander im Kühlschrank liegen.

Ich mache an solchen Tagen, ohne es so recht zu wollen, das, was irgendwie liegengeblieben ist: Überweisungen, Ablage, ein Bild aufhängen, Wäsche waschen, Backup des Computers, Bett beziehen, ein Geburtstagsgeschenk organisieren, einen Beistelltisch für den Balkon kaufen, die Treppe wischen. Ganz nett ist es, ohne allzugroßen Zeitdruck und nicht erst kurz vor Ladenschluss durch den Supermarkt zu schlendern.

Nehmen wir an, ich arbeite etwa 50 Stunden die Woche. Die Arbeit findet aber nicht einfach so statt, es braucht eine Art von Wartung, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Die Wartung bezieht sich auf einen rund laufenden Haushalt, der Arbeit ermöglicht, indem er mich sauber, satt, warm und bekleidet hält. Dazuhin braucht der Körper Schlaf und ein bisschen Erholung, um die Arbeitskraft zu regenerieren, vorzugsweise in einer aufgeräumten Wohnung und mit einem gut gefüllten Kühlschrank.

Aus einem bestimmten Blickwinkel scheint es mir, als würde fast die gesamte Lebenszeit für Arbeit & Aufrechterhaltung der Arbeitskraft draufgehen. Die Zeit „nur für mich“ kommen mir wie Krümel vor. Oder erlebe ich diese Zeit einfach nicht bewusst genug?

Jedenfalls. Den Urlaub auch dazu genutzt, ein weiteres Thema anzugehen, nämlich einen möglichen Autokauf. Das Auto brauche ich, um zur Arbeit zu kommen (so diese im Büro stattfindet), um meinen Status auf der Arbeit zu festigen und ein kleines bisschen auch: nur für mich.

Der erste Autoverkäufer hat das Renteneintrittsalter deutlich überschritten, lässt mich im Eingangsbereich warten, und wirkt insgesamt leicht depressiv. Die Probefahrt ist interessant, das Auto fährt spritzig, die Ausstattung und die Sicherheitssysteme finde ich allerdings etwas karg. Der Autoverkäufer bittet mich anschließend zu sich ins Büro, beide mit Maske natürlich, aber ohne Spuckschutz. Jede Fläche in seinem kleinen Büro ist mit Papieren übersäht, keine Ordnung erkennbar. Er benutzt einen Wochenkalender gespickt mit gelben Post-Its, darauf die personenbezogenen Daten der Kaufinteressenten. Der Computer sieht eingestaubt aus, die Tastatur klebrig. Email läge ihm nicht so, sagt er. Neben einem Osterhasen und mehreren Schoko-Ostereiern liegt ein großer Schokoweihnachtsmann. Es ist alles aus der Zeit gefallen, und wirkt wie eine kurze Szene aus einem großen Roman, deren Hauptfigur nicht ich bin.

Der zweite Autoverkäufer macht es geschickter, erwartet mich im Eingangsbereich, gut gelaunt und jovial. Das Auto ist luxuriöser, besser ausgestattet, mit einer Menge fürsorglicher Sicherheitssysteme, aber ohne die Spritzigkeit des ersten Wagens. Ein bisschen zu groß, eigentlich, aber sehr akkurat bei niedrigen Geschwindigkeiten, und bei hohen ruhig wie Segelboot bei glatter See. Der zweite Autoverkäufer hat kein eigenes Büro, sondern einen Schreibtisch in einer Ecke der Verkaufshalle, er bietet mir einen Kaffee an, den ich aus COVID-19-Gründen natürlich ablehne. Der Spuckschutz aus Sperrholz und Klarsichtfolie bricht das Corporate Design der Verkaufshalle auf beinahe erfrischende Art. Der Autoverkäufer und ich plaudern ein wenig, er druckt mir ein Angebot aus, das war’s, und ich sage danke und werde ein bisschen nachdenken.

So richtig scharf darauf, mir ein Auto zu verkaufen, war keiner von beiden. Ist das die derzeit angesagte Verkaufsstrategie, oder haben sie einfach gewartet, bis der Termin vorbei ist und sie wieder Zeit haben für anderes, oder sich selbst?

vier Tage

Der erste Tag: ein großes Staunen. Die Straßen überraschend voll, aber ein gutes Gefühl, unterwegs zu sein. Im Büro dann großes Hallo, echte Freude auf allen Seiten. IT hatte mir, das erste Mal seit Pandemiebeginn, den Arbeitsplatz an meinem Schreibtisch aufgebaut, mit zwei Monitoren und einer Dockingstation, alles ordentlich verkabelt. Das ist nicht ganz überraschend, denn es gab eine Veränderung in IT, und anscheinend findet mich IT nun wichtiger als vorher. Es ist aber insofern bemerkenswert, als dass ich einige Monate im Frühjahr und dann wieder im Herbst, jeweils wochenweise das gesamte Equipment hin- und hergewuchtet habe, bis ich im Winter einfach irgendwo zwei weitere Monitore beschlagnahmt hatte und nun also vier Monitore an zwei Orten im Betrieb habe. Seit Montag also auch zwei Dockingstationen, so dass ich jetzt nur noch den Laptop einrasten lassen muss.

Mit den Dokumenten und Papieren war es gar nicht so schlimm, ich habe einfach alles erst einmal in den Konferenzraum gebracht und dann stückweise weggearbeitet. Neue Visitenkarten sind auch für mich gekommen, schöne Titel überall.

Mittags endlich wieder mein Lieblingsgericht mit Vorspeise beim Thai bestellt. Hat leider ein bisschen anders als sonst geschmeckt, zu viel Kaffirblätter. Ob es was mit der Pandemie zu tun hat – Verlust des qualifizierten Personals?

Ein Gebäude in der Nähe wird abgerissen und legt ganz neue Sichtachsen frei. Überhaupt glitzert alles sehr an diesem ersten Tag. Ich wünschte, es könnte immer so sein, dieser Wechsel zwischen der Ruhe zuhause, alles grün und weit, und dem Luxus der Urbanität, dem Funkeln jener Rolle, die ich einnehme, wenn ich physisch vor Ort bin.

So war es einmal, in jenem vorher.

Der zweite Tag ist fast noch schöner. Ich bestelle griechisch, trage meine Dienstagshose, und gehe nachmittags mit einem Lieblingskollegen ein Eis essen. Wir sitzen am Brunnen, es ist belebt, aber nicht vorpandemisch unangenehm voll, gut die Hälfte der Leute trägt auch draußen im Freien Maske. Die Sonne scheint, über zwanzig Grad, aber der Druck nimmt zu. Als ich zurückkomme, bin ich ein paar Minuten zu spät für ein Meeting, auch willentlich, weil der Kollege und das Eis mir wichtiger waren. Die Aufgaben beginnen, sich zu stauen, und ich beginne, wie so oft, Triage zu machen.

Erst so gegen halb acht aus dem Büro, dann großer Feiertagslebensmitteleinkauf, gegen halb zehn nach Hause, um zehn im Bett. Wachgelegen. Zu viel Adrenalin.

Der dritte Tag ist, wie so manche Tage, ein Ritt auf einem schwarzen Hengst, rückwärts, ohne Sattel, ich werde vielen und vielem nicht gerecht und spüre es genau. Manche Tage sind auch zuhause so, es liegt also nicht nur an der physischen Präsenz. Ich weiß, was ich tun müsste, um Abhilfe zu schaffen, aber ich weiß noch nicht, wie ich dahin komme, und welchen Preis der Torwächter von mir verlangt.

Fürs Archiv: wir laufen gerade mitten hinein in die dritte Welle, sehendes Auges. Es müsste einen Lockdown geben, hart, aber es gibt keine Änderung der Maßnahmen. Die Schulen sind offen. Man kann nicht reisen, außer nach Mallorca. Das Leben läuft weiter, nicht wie zuvor, sondern irgendwie stotternd, nicht flüssig und nicht fest. Ich denke derzeit häufig an eine Feststellung, irgendwo gehört: Erdöl ist wertlos ohne Konsum (und ohne Mobilität). Ich denke mir: jetzt einmal hart alles runterfahren, dann wieder ungebremster Konsum. Aber die, die dieses Land regieren, und die, die hinter den Kulissen ihre Interessen durchsetzen, die scheinen nicht so zu denken.

Das Spice muss fließen – ist es das?