Lenken

Heute zum zweiten Mal in meinem Leben Motorboot gefahren, und zwar im Rahmen meiner Fahrstunde zur Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung Motorboot Binnen am Samstag. Das mit dem Führerschein ist eigentlich keine große Sache: man bimst sich 253 Multiple-Choice-Fragen ins Hirn, von denen dann 30 in der theoretischen Prüfung drankommen, davon dürfen 7 falsch sein. Man lernt 12 Knoten und ihre Verwendung, vielleicht sind es aber auch nur 9. Und man absolviert eine etwa fünfminütige praktische Prüfung, in der geprüft wird, was mir durchaus wichtig erscheint: ablegen, Kurs ansteuern, Mann über Bord („Mensch über Bord“, wird mit einer Boje simuliert), wenden, anlegen.

Leider hat sich heute gezeigt, dass ich kein Naturtalent bin. Die einzelnen Ablaufschritte, zum Beispiel fürs Ablegen, kann ich mir so einigermaßen merken. Mensch über Bord klappt sehr gut. Ich habe aber ein fundamentales Problem: ich kann nicht gerade aus fahren.

Sehen Sie: so ein Motorboot reagiert anders auf die Lenkung als ein Auto, nämlich mit einiger Verzögerung (weil, naja, Wasser). Das Steuer des Motorboots, mit dem wir üben, ist wie das Steuer eines Autos (rund), und ich drehe und drehe, und es passiert nichts, und dann passiert ganz viel, und dann drehe ich wieder in die andere Richtung, und wir fahren Schlangenlinien. Das ist, wenn man in einem engen Hafen anlegen möchte, recht blöd.

Der Fahrlehrer war so, wie auch manche Fahrlehrer beim Autofahren sind, oder Reitlehrer oder vielleicht auch Klavierlehrer, zumindest in meiner Jugend: dass es falsch ist, was ich mache, hat er mir deutlich gesagt. Warum machst du das? Du sollst nicht so drehen! Halte doch mal den Kurs! Und warum hast du jetzt das gemacht?? (Ja, man duzt sich in der Motorbootszene). Aber wie ich es anders hätte machen können, das habe ich heute nicht gelernt. Du denkst zu viel, ja, da hat er mich gut erkannt.

Als Krönung habe ich nicht nur einmal, sondern zweimal versehentlich Vollgas gegeben (man hat so einen Hebel, als würde man im Auto den ersten Gang einlegen, nur: danach ist nicht Schluss, sondern Vollgas). Riesenstreß beim Fahrlehrer und auch bei mir, und, äh, Kollisionsgefahr.

Nach anderthalb Stunden war ich einfach nur froh, dass es vorbei war. Ich darf – oder muss – noch einmal zur Fahrstunde kommen, viel Zeit ist ja nicht mehr. Der Fahrschüler, der heute mit mir auf dem Boot unterrichtet wurde, braucht auch noch eine Stunde, das ist ein Trost, obwohl er viel besser geradeaus fahren kann, bzw. überhaupt. Er sagt, er macht die Prüfung vielleicht nicht.

Wie ich mich fühle, hat mich heute jemand gefragt, und ich habe geantwortet: niedergeschlagen. Ich stecke das nicht so einfach weg, zumindest jetzt noch nicht. Es kommen alle Prüfungen wieder hoch, durch die ich gefühlt oder real durchgefallen bin: anorganische Chemie im Studium, wo mir heute noch im Traum manchmal der gekachelte Terracottaboden vor dem Aushang mit den Prüfungergebnissen erscheint. Diverse Vorträge während meiner akademischen Laufbahn, bei denen ich lausig vorbereitet war. Die Verteidigung, natürlich. Dann aber im gleichen Atemzug alles, wo ich erfolgreich war: 15 Punkte im Abitur, unter den besten 10% der Mitarbeiter/innen bei meinem Arbeitgeber, Bürgermeisterin von Gurkfeld. Gestern noch den COO von einer Genehmigung einer wichtigen Sache überzeugt.

Bisschen an diesen Eintrag gedacht, wo ich mir schwöre, in nächster Zeit keine Prüfung mehr abzulegen. Und jetzt stehe ich hier, und möchte mit meiner Mutter über Rhein und Main tuckern, der Wind sanft in unserem Haar, ein Lächeln auf dem Gesicht.

Nach der Fahrstunde habe ich mir einen Plan gemacht: ich werde mir die Manöver aufschreiben und gedanklich einüben, ich werde noch eine Fahrstunde absolvieren, ich werde die Prüfung antreten und vielleicht reicht es. Wenn ich durchfalle, werde ich noch eine Fahrstunde nehmen, vielleicht auch ein Skippertraining, dreieinhalb Stunden sind das, und dann werde ich die Prüfung noch einmal machen.

Es gibt also wirklich gar keinen Grund, sich aufzuregen, sich so niedergeschlagen zu fühlen. Aber ich merke, dass da eine Diskrepanz in mir ist, zwischen zwei Wahrheiten vielleicht, zwischen backbord und steuerbord, und ich möchte so gerne dagegenlenken, denn es ist eigentlich gar nicht die Prüfung, die mich so aufregt, sondern meine eigene nicht angepasste emotionale Reaktion. Ich möchte mich so nicht fühlen, ich möchte die Mitte finden, gerade aus blicken, lenken, aber ich weiß gerade nicht, wie.

eine Prise Magie

Ich sitze am Küchentisch von Frau Novemberregen und blogge. Frau Novemberregen telefoniert mit ihrer Mutter und macht User Support („was ist denn in der linken unteren Ecke?“… „ist der Bildschirm grün oder ist das so ein grünes Muster?“.. „wenn du das Kennwort eingibst, ist ja ganz rechts ein Pfeil,und vor dem Pfeil ist noch ein Kreis… jetzt sag mir bitte noch einmal, was genau dort steht…“). Um meine Beine schleicht der schwarze Kater, denn er weiß, dass ich weiß, wo die Schublade mit den Leckerchen ist, er lässt sich ein bisschen streicheln, und schon öffnet sie sich.

Ich bin müde gerade, auf so eine ganz wohlige Art. Frau N. und ich sind durch den Regen zum Steakrestaurant gelaufen, ein großer Regen, so groß, dass wir uns einen Moment in einen Hauseingang stellen mussten. Wir hatten beide Regenschirme dabei, das ist selbstverständlich, ich einen Schirm, den mein Vater mal vor ein paar Jahren bei einer Veranstaltung hat mitgehen lassen, es ist nicht ganz klar, ob es ein Versehen war oder ob er ihn schlichtweg geklaut hat. Es ist ein toller Schirm, groß und mit Holzgriff, mit grünem Stoff bezogen, für den großen Regen. Die Tropfen machen tock tock tock darauf, aber die Hosenbeine werden trotzdem nass, wenn es so dolle regnet, deshalb bleiben wir einen Moment stehen, während die Stadt im Schleudergang gewaschen wird, alles leer bis auf vereinzelte Gestalten, die irgendwo hin müssen oder wollen oder gänzlich über den Dingen stehen.

Ich mag es sehr, wenn es in der Stadt regnet, weil sich für eine kurze Zeit fast so eine Art von Parallellwelt öffnet, etwas leicht magisches, aber ich wiederhole mich. In der Autowaschanlage mit dem gigantischen Staubsaugerplatz war heute nichts magisch, aber ich konnte einem der Mitarbeiter ein Trinkgeld geben, und sein Lächeln hat hell gestrahlt. Es sind so feine soziale Konventionen, die es manchmal möglich machen, etwas zu geben, und manchmal gar nicht – neben dem magischen Realismus der Stadt auch ein spannendes Thema für einen kleinen Aufsatz, sollte ich irgendwann einmal dafür Zeit haben.

Im Steakrestaurant habe ich vor etwas mehr als einem Jahr das beste Steak meines Lebens gegessen. Ich habe dies sogar für die Ewigkeit mit einem Tweet festgehalten:

Ich habe seitdem mehrfach versucht, dieses Erlebnis zu replizieren. In diesem Lokal, in seinem Schwesterlokal, in anderen Lokalen. Es war nie wieder so gut, auch heute nicht. Ich beklage dies nicht, denn es war nichtsdestotrotz ein wirklich sehr gutes Essen, ich stelle es nur fest, denn es ist ja oft so, dass die wirklich magischen Momente nicht käuflich sind oder planbar oder herbeiführbar. Man kann nur versuchen, offen zu bleiben, Gelegenheiten zu schaffen, wie Frau N. immer so schön sagt, und es wertzuschätzen, wenn es passiert.

Auf dem Rückweg kein Regen mehr, wir schlendern vorbei an dem Einrichtungsgeschäft mit den sehr ausdrucksstarken, pompösen orientalischen Möbeln, dem großen libanesischen Imbiss mit separater Baklava-Theke, und dem Hinterhof, der sich plötzlich zwischen den Bäumen öffnet, und in dem sich letztes Jahr ein paar Jungs gerauft haben, weißt du das noch, frage ich Frau N, und sie haben uns mit einem lachen gefragt, ob wir die Polizei rufen werden, es bleibt im Gedächtnis, weil es nicht so recht einzuordnen ist, vielleicht als erster Satz in einem Roman.

Ich bin müde, auf eine angenehme Weise, satt von allem, auf die beste Art. Im Büro heute viel nachgedacht, so richtig tief überlegt, so dass auch mein Gehirn angenehm müde ist, wie ein Greyhound, der mal wieder kilometerweit gerannt ist. Viele Eindrücke heute, vergangenes wie auch gegenwärtiges. In den letzten Tagen hatte ich hin und wieder den Gedanken, dass ein glückliches und erfülltes Leben daraus besteht, das Glück und die Erfüllung im Alltag zu finden, im ganz gewöhnlichen – und nicht primär in den Errungenschaften, Meilensteinen oder Gipfeln, die wir erklimmen. Vielleicht ist da was dran, mal sehen, was ich darüber in 15 Jahren denke.

Frau N. sagt:“ dann ist euer Passwort jetzt geändert! Mach‘s gut, Küsschen, Grüße!“, legt auf, seufzt leicht und verschwindet im Badezimmer. Sie ist eine gute Tochter. Dann kommt sie zurück und fängt sehr schnell an zu tippen. Sie ist bestimmt gleich fertig, und ich – naja, ich auch.

Narbengeschichten

Frau Novemberregen ist nicht da, sie hat besseres zu tun. Wir sind für morgen verabredet und werden ein Steak essen gehen, also jeweils jede eines, da freue ich mich schon die ganze Woche drauf. Was sag ich – noch länger!

Vorher besuche ich noch einen magischen Ort: eine große Autowaschanlage mit gigantischen Staubsaugerplätzen. Dort werde ich im Abendlicht mein Auto so richtig durchsaugen, bisschen feudeln, Glasreiniger, dies das. Der Staubsaugerpark hat aber wirklich etwas magisches, diese kurze Gemeinschaft aus Menschen, die eine Aufgabe haben, die meinen, einander nicht zu sehen, und doch alles wahrnehmen, in einem völlig zweckmäßigen Umfeld. Ich kann es nicht so richtig in Worte fassen. Ich bin dort übrigens auch gerne mit Frau N., sie teilt meine Faszination.

Frau N. hat noch gar nix zum Wetter gesagt. Es wird maximal 18 Grad warm, wir sitzen natürlich draußen, ich überlege die ganze Zeit, ob meine dicke Strickjacke reicht, oder nicht vielleicht doch noch ein Mäntelchen, oder der Kaschmirschal. Für Frau N. ist es wahrscheinlich ein ideales Wetter. Nach dem Essen werden wir auf jeden Fall bloggen, sofern wir noch können, vielleicht gibt es auch nur ein Foto vom Steak, mal sehen.

Heute also am besten anderswo lesen. Formschub hat eine Serie ins Leben gerufen: Narbengeschichten. Hier sein Eintrag dazu.

Ich habe eine Narbe von einer Blinddarmoperation, eher unspektakuläre Geschichte, und eine vom scharfen Rand der Hundefutterdose. Mein linkes Bein ist immer noch ein bisschen verbeult, mehr als 15 Jahre später. Auf das Antibiotikum habe ich allergisch reagiert, mir fehlen da weiterhin ein oder zwei Tage, in der ich in meiner Wohnung lag, ohne Erinnerung. Interessant für mich, diese Einträge im Rückblick zu lesen: was ich damals genau erkannt, und was verkannt habe. Wie schwierig damals das Verhältnis zu meiner Mutter war. Wie schwer es mir gefallen ist, im Zustand der körperlichen Schwäche auf meine Freunde zuzugehen und um Unterstützung zu bitten. Was davon bis heute so geblieben ist. Was an mir damals schon so war wie heute, und wo ich gewachsen bin.

Hart aufgeschlagen.

Verletzungsphoto

Dr. Zorn

Dr. Zorn hat es eilig

Jetzt neu!

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal

Mein linkes Bein

Bob Ross

Frau Novemberregen sieht heute sehr gut aus, in einem schwarzen Shirt mit feinem geometrischen Muster, sehr bürotauglich, und das Licht gibt ihr einen sanften Glow. Die Geräusche um sie herum per Videokonferenz sind immer etwas unangenehm: die Waschmaschine quietscht und pfeift („gleich fertig!“, sagt sie, aber dann stimmt es nicht), ihr Timer piept (diesmal Apfelkuchen, letztes Mal gratinierte rote Beete), und hin und wieder tippt sie sehr laut, das hört sich an wie Gewehrschüsse oder Hagel, schnell und heftig.

Fast anderthalb Stunden haben wir nur geredet, über manche Themen kann ich mit niemanden so gut sprechen wie mit ihr, und alles, was sie erzählt, interessiert mich.

Meine Haare hängen heute schlaff herab, am Anfang unseres Gesprächs waren sie sogar noch ein bisschen nass, weil ich mit meiner Mutter im Regen spazieren war, ein ganz leichter Sommerregen, fast schon eine Art von feuchtem Nebel, schön war das. Schade, dass ich so wenig über meine Mutter bloggen kann, und Frau N. fast nichts über ihre Tochter.

Meine Haare hängen heute nicht nur wegen des Regens herab. Ich habe geduscht, aber vergessen, mir in der Dusche die Haare zu schamponieren. Ich wünschte, ich könnte sagen, das wäre mir seit Dekaden nicht mehr passiert, tatsächlich ist das letzte Mal erst ein paar Jahre her. Ich war heute morgen sehr durcheinander, weil ich einen Fehler auf der Arbeit gemacht habe. Über den Fehler kann ich leider aus Vertraulichkeitsgründen nichts berichten. Frau N. findet es nicht so schlimm, meine Mutter auch nicht, mein Chef so mittel und der Geschäftsführer weiss noch nichts davon. Man wird es heilen können, keine Frage, aber unangenehm ist es mir trotzdem. Ich weiß, dass es normal ist, Fehler zu machen, ich weiß, dass ich nicht besonders häufig Fehler mache, und ich weiß, dass es nicht gut ist, den Anspruch an sich zu haben, keine Fehler zu machen.

Als mich mein Chef heute morgen angerufen hat, und klar wurde, ich habe einen Fehler gemacht, da ist es mir so richtig durch Mark und Bein gegangen. Flattern in der Magengrube, Puls, schwitzige Handflächen, wackelige Stimme. Dann bin ich duschen gegangen (Home Office), habe mir die Haare nass gemacht, aber nicht schamponiert, mich gewaschen, mit Seife, mich abgetrocknet und angezogen. Die Ursache des Fehlers gesucht, Lösungsmöglichkeiten überlegt. Weitergemacht.

Frau N, hat heute vergessen, Backpulver in den Teig vom Kuchen zu geben. Und das als Bäckerstochter! Es wird trotzdem schmecken, sagt sie, vielleicht sogar besser, ein bisschen wie Apple Crumble. Not all mistakes are happy mistakes, but some are.

Kate Bush hat ein Lied dazu geschrieben: an architect‘s dream.

Das komische ist: wenn es vorbei ist, erinnere ich mich recht gerne an meine Fehler, und ich erinnere auch gerne meine Mutter daran, wenn sie sich Sorgen macht, dass sie vergesslich wird. Weißt du noch, wie ich den Pfandbon im Automat habe stecken lassen, sage ich dann. Oder wie ich meinen roten Geldbeutel auf dem Autodach in der Tiefgarage habe liegen lassen. Paar Stunden später habe ich es gemerkt, alles war noch da, hundert Euro oder mehr, Bankkarte, Kreditkarte, Führerschein, Fahrzeugschein.

Der schmerzhafteste Fehler auf meiner jetzigen Arbeit war ein von mir erstelltes und passwortgeschütztes Dokument, für das ich ein paar Monate später das Passwort vergessen hatte. Paar Nächte nicht geschlafen, hunderte Passwörter durchprobiert. Für einen nicht unerheblichen Betrag ein zwielichtiges Programm gekauft, das angeblich Passwörter solcher Dokumente knacken kann. Konnte es nicht. Auch gut zu wissen, wie sicher Verschlüsselung sein kann. Am Ende das Dokument neu geschrieben, aus dem Gedächtnis heraus.

Ich bin seitdem etwas ordentlicher.

Mein lustigster Fehler – also rückblickend – ist schon fast zehn Jahre her, ich arbeitete noch in einem ganz anderen Job und musste gelegentlich Emails „on behalf of“ für meinen Chef versenden. Eine solche Email sollte an einen größeren Verteilerkreis innerhalb der Firma in Großbritannien und in den USA gehen, alles hohe Tiere, natürlich vertraulicher Inhalt. Mein Chef hatte den Entwurf der Email überarbeitet, es konnte jetzt verschickt werden, und er war an diesem Tag nicht da. Wahrscheinlich nach Diktat verreist oder so. Ich schickte die Email also raus – Adressaten natürlich erst ganz zum Schluß eingesetzt – ging mir einen Kaffee holen, chilte ein bisschen und stelle dann fest, dass einer der Adressaten falsch war. Ich hatte aus dem Verzeichnis Cox, Derek herausgesucht, die Email sollte aber an Cox, Michael gehen. Message recall ist mein Freund, und zur Sicherheit – nachdem ich aufgehört hatte, zu hyperventilieren – habe ich auch IT Support in den USA angerufen. Dort wurde dann (6 Uhr morgens Ortszeit) sofort eine Task Force gebildet. Cox, Derek, hatte erfreulicherweise seine Tätigkeit noch nicht aufgenommen, also: gar nicht, es war ein neuer Mitarbeiter. Die Email konnte restlos aus seiner Inbox gelöscht werden. Zur Sicherheit wurden auch die Magenttapes, auf denen die Sicherungen der Emails gemacht werden, gelöscht. Insgesamt ein eher größeres Unterfangen. Mein Chef hat dann, als ich gebeichtet hatte, seine Brille abgenommen, auf den Schreibtisch geknallt, den Kopf in die Hände gestützt und wurde so rot, dass ich dachte, gleich explodiert er. Er hat mich aber nur mit müder Stimme gefragt, ob ich verrückt sei, was ich verneinte. Ich bilde mir ein, dass ihn ein kleines bisschen beeindruckt hat, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon einiges an Lösungen in die Wege geleitet hatte, aber wer weiss schon, was er so alles dachte.

Der Kuchen von Frau N. ist fertig, sie hat ihn aber noch nicht probiert. Muss erst auskühlen und sich setzen, sagt sie. Ich würde gerne ein Stück probieren, noch warm und mit Schlagsahne, das wäre schön.

Runter vom Gas, Kupplung kommen lassen

Guten Tag gehabt heute. Arbeit macht mir gerade Spaß. Ich mag meine Arbeit ja generell gerne, und die Arbeit mag mich auch zurück, glaube ich, aber oft genug ist darin auch eine Schwere eingeflochten, etwas mühevolles, zähes, unbewegliches. Und oft auch schlicht zu viel. Gerade aber geht es ganz gut, kitzelt mich intellektuell ordentlich, bewegt sich und geht voran. Vielleicht bleibt es noch ein paar Tage so.

Frau Novemberregen sieht heute sehr seriös aus, trägt eine gestreifte Bluse und ein Strickjäckchen drüber, fast ein bisschen hanseatisch. Sie stand im Stau, ist aber natürlich trotzdem pünktlich, aber hungrig, bestellt nebenbei Pizza. Wir sprechen aus naheliegenden Gründen über Essen. Ich arbeite ja diese Woche im Büro in der Stadt und nicht im Büro in meinem Wohnzimmer. Gestern habe ich mich zum Essen einladen lassen – so kann man sich bei mir am besten für geleistete Dienste revanchieren – und wurde mit griechischer Vorspeise, Hauptspeise und sensationell leckerer Nachspeise verwöhnt, Galaktoboureko und Schokosouffle mit flüssigem Kern. Nice little restaurants where they know your name. Heute habe ich bei meinem Lieblings-Thai bestellt, Frühlingsrollen und Tom Kha Gai, da blieb sogar noch etwas übrig, das ich gerade als Abendessen verputzt habe.

Frau N. bekommt die Pizza geliefert, beisst rein und zählt dann die Katzen durch. Alle da. Herr N. hat auch eine Pizza bekommen, mit extra Käse, das ist wichtig.

Auf dem Weg zur Arbeit habe ich mir einen Vortrag von Esther Perel angehört, einer belgischen Paartherapeutin, die einen schönen Podcast hat: How’s work? Esther Perel postuliert, dass wir alle ein Relationship Diary mit auf die Arbeit nehmen, und in den zwischenmenschlichen Interaktionen im Büro dazu neigen, das auszuagieren, was wir an Beziehungsmustern in unserer Kindheit und Jugend erlebt haben. Büro ist Familienaufstellung.

Ich habe ihren Podcast sehr viel am Anfang dieses Jahres gehört, als ich einen Konflikt mit einer Mitarbeiterin hatte. Ich habe auch mit einem externen Coach an diesem Thema gearbeitet, weil es mich sehr belastet hat. Der Coach hat, wie das oft in solchen Sessions ist, eine Reihe von guten Sätzen gesagt, Sätze, die bei mir haften lassen. Einer davon war: die wertvollsten Lektionen erhalten wir von Menschen, die uns diametral entgegengesetzt sind. Die Mitarbeiterin ist tatsächlich ein starkes Gegenteil von mir, bis hin zum Äußeren. Klick hat es bei mir aber erst durch Esther Perel gemacht: die Mitarbeiterin hat mich sehr an meine Schwester erinnert, und daher war der Konflikt für mich nicht ein normaler Konflikt, wie er zur Berufstätigkeit dazu gehört, sondern so stark emotional aufgeladen, dass es mich über die Maßen belastet hat.

Der Mitarbeiterin habe ich gekündigt, und mit meiner Schwester rede ich nur etwa einmal pro Jahr small talk, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Ein Konzept von Esther Perel, das in mir Widerhall gefunden hat, ist the power of the helpless (schön aufgedröselt in dieser Episode). Wenn man jemanden, der in einer verfahrenen Situation ist, immer wieder Vorschläge zur Veränderung unterbreitet, aber diese Vorschläge immer wieder abgelehnt werden, dann kommt es zu einer Verschiebung des Machtgefüges. Die hilflose Person ist in einer Position der Macht, wo sie wie eine Königin sagen kann: das nicht, und jenes nicht, und das schmeckt mir auch nicht, und dieses will ich auch nicht, und alles ist blöd, und du bist es auch. Und plötzlich fühlt man sich tatsächlich blöd, und am Ende genauso hilflos wie die hilflose Person. Die hilflose Person hat erfolgreich ihre Gefühle auf einen selbst übertragen. Ich neige dazu, diese fremden Gefühle sehr empathisch in mir zu fühlen, merke dann aber irgendwann, dass es nicht meine eigenen sind. Dann werde ich wütend, und hart, und erbarmunglos.

Mit Frau N. noch ein bisschen über Mitarbeiterführung gesprochen. Darin übe ich mich ja gerade, als Bürgermeisterin von Gurkfeld. Ich wünsche mir sehr, ein paar alte Strukturen aufzubrechen, Potentiale zu heben und Leistung zu bekommen, wie sie meinen Ansprüchen genügt. Andere durch mein Beispiel zu inspirieren. Klingt bescheuert, ist aber so.

Im Moment sieht es eher so aus, als ob meine Bemühungen nicht erfolgreich sind. Das ist das tückische an Beziehungen: man kann sich nie sicher sein, dass sie gelingen werden. Es gibt keine Proportionalität von Aufwand und Ergebnis. Vielleicht runter vom Gas, Kupplung kommen lassen?

Noch so ein Satz, der bei mir hängen geblieben ist:

You set boundaries, not because you want to end the relationship, but because you want it to continue.

Ist aber nicht von einer Psychologin, sondern von TikTok.

COVID-19

Jetzt doch ein Text zu COVID-19. Zum einen möchte ich heute, am 28. Juni 2020, schildern, was wir über COVID-19 wissen bzw. was vom Weltwissen bei mir angekommen ist und welche Verhaltensregeln ich für mich selbst abgeleitet und ausgehandelt habe. Zum anderen bin ich sehr bewegt über die hohe Anzahl an COVID-19 Infektionen in Fleischfabriken und möchte ein paar meiner Gedanken dazu niederschreiben. 

COVID-19 kann über drei Wege übertragen werden: droplets, aerosols und fomites. Droplets bedeutet, dass eine infizierte Person, die COVID-19 Viren absondert, dies in Form von Tröpfchen tut, vor allem durch Husten oder Niesen. Droplets sind 5-10 µm groß, Aerosole kleiner als 5 µm. Aerosole werden eher beim Sprechen, ggf. auch beim Singen und natürlich beim Ausatmen produziert. Droplets fallen aufgrund ihrer Größe relativ schnell zu Boden, so dass hier Abstand halten recht wirkungsvoll sein kann. Aerosole sind klein, und können deshalb in Innenräumen länger in der Luft verbleiben (wie lange, wissen wir noch nicht). Fomites sind kontaminierte Oberflächen, zum Beispiel eine Türklinke oder ein Papiertaschentuch. Berührt man eine solche Oberfläche mit der eigenen Hand und fasst sich dann mit der Hand an die Schleimhäute, kann man Viren übertragen und sich anstecken. Hier hilft Händewaschen und Händedesinfektion, Fomites scheint aber von allen Übertragungswegen der am wenigste gefährliche zu sein. Ich habe dazu keine Quelle. Für Aerosole als Hauptübertragungsweg gibt es ebenfalls noch keine Belege, anekdotisch wird von Gottensdiensten und Chorproben berichtet, bei denen trotz Abstand und Händedesinfektion viele Infektionen stattgefunden haben. Lesenswert ist auch dieser recht wütende wissenschaftliche Artikel. Es ist denkbar, dass Aerosole auch daher sehr gefährlich sein könnten, weil über das Einatmen die Viruspartikel direkt tief in der Lunge deponiert werden. Droplets oder Fomites müssen erst den Weg über die Schleimhäute gehen. 

Ich vertrete daher aktuell die Theorie, dass es die Aerosole sind, gefährlich sind. In meiner Vorstellung sind Aktivitäten, die draußen stattfinden, eher ungefährlich, weil sich die Viruspartikel in der Luft stark verdünnen. Außerdem kann es sein, dass das Sonnenlicht die Anzahl an Viruspartikeln reduziert (Quelle: Simulated Sunlight Rapidly Inactivates SARS-CoV-2 on Surfaces). Im Gegensatz dazu erscheint mir alles, was drinnen stattfindet, gefährlich, vor allem, wenn viele Menschen sich wenig Luft teilen (öffentlicher Nahverkehr!), keine Luftzirkulation stattfindet und in den Räumen gesprochen oder gesungen wird. 

Zu Beginn der Pandemie hieß es, Masken (Mund-Nasen-Schutz) würde nichts bringen, da diese nach ca. 15 Minuten von unserer Atemluft durchfeuchtet und damit durchlässig werden. Die Meinung – auch meine – hat sich seitdem stark gewandelt: wer eine Maske trägt, reduziert auf jeden Fall die Anzahl an Droplets, die er oder sie selbst abgibt. Es ist auch vorstellbar, dass Stoffmasken, die z.B. außen aus Baumwolle und innen aus Seide oder Kunststoff bestehen, aufgrund der statischen Aufladung einen zusätzlichen Schutz bieten. Recht sicher sind auf jeden Fall Ffp2/N95 oder Ffp3-Masken, mit denen sich auch medizinisches Personal bei der Behandlung von infizierten Patienten schützt. Mittlerweile ist es möglich, solche Masken über Apotheken zu beziehen. Ich bin hoffnungsvoll, dass man sie nicht dem medizinischen Personal wegkauft. Die Maske kann übrigens zum Fomite an der Außenseite werden, wenn dort die Partikel hängenbleiben, die wir nicht eingeatmet haben.

Mein eigener Mix an Maßnahmen ist widersprüchlich. Ich gehe nur einmal die Woche Lebensmittel einkaufen. Ich trage an öffentlichen Orten in der Regel Masken (Ffp2). Ich treffe mich seltener mit Freundinnen, und wenn, dann nur zu zweit und vorwiegend draußen. Wir versuchen Abstand zu halten, gravitieren aber immer mal wieder zueinander hin. Mein größtes Risiko: ich gehe wieder ins Büro, zwar nur reduziert, aber ich trage im Büro keine Maske. Wir versuchen Abstand zu halten, aber wir  – nunja – gravitieren immer mal wieder zueinander hin. Und wir reden viel, sitzen (mit Abstand) im Meetingraum, und sprechen lange. Das ist unvernünftig. Es ist der Kern meiner beruflichen Tätigkeit, dazusein, physisch, zuzuhören und zu reden. Es ist mir so wichtig, dass ich hier ein großes Risiko eingehe, obwohl ich es besser weiss. Dass wir beinahe eine Art von häuslicher Gemeinschaft sind, und ich den Kollegen zutraue, privat sehr vernünftig zu sein, ist hier nur ein kleiner Trost.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Freunde treffen, in kleinen Gruppe, draußen und mit Abstand: das sollte man jetzt machen, die warmen Tage und das Sonnenlicht genießen. Vielleicht wird es im Frühjahr 2021 eine Impfung geben, mit Glück. Der Winter wird lang.

Am 20. Juni 2020 wurde bekannt, dass in der Fleischfabrik Tönnies in der Nähe von Gütersloh über 1.000 Mitarbeiter positiv auf COVID-19 getestet wurden. Die Tests waren behördlich angeordnet worden, von den ca. 7.000 Mitarbeitern sind Stand heute ca. 1.500 infiziert, davon ca. 30 im Krankenhaus, 5 auf der Intensivstation und 2 müssen beatmet werden (Quelle). Fleischfabriken sind schon länger Hot Spots für COVID-19 Infektionen: der Guardian berichtete bereits am 15. Mai über zahlreiche Fälle in den USA, in Großbritannien schreibt die BBC am 21. Juni über 158 Infektionen in einer britischen Fleischfabrik. In Deutschland gab es neben Tönnies auch Ausbrüche bei anderen Fleischproduzenten (Quelle). 

Warum immer wieder in der Fleischindustrie? Das Fleisch wird am Fließband zerlegt, und zwar in einem Kühlraum. Kühlen ist teuer, daher stehen die Arbeiter dicht gedrängt nebeneinander. Die Maschinen sind laut, die Arbeiter müssen laut rufen. Es ist anzunehmen, dass dieselbe gekühlte Luft immer wieder zirkuliert, damit möglichst wenig Luft von außen heruntergekühlt werden muss. In der Kälte bleiben die Aerosole besonders lange in der Luft, weil sie nicht so schnell verdampfen wie bei Wärme. Sonnenlicht gibt es nicht. Die Kälte schwächt das Immunsystem, und die Arbeitszeit ist lang. Es scheint also beinahe unmöglich, sich nicht anzustecken – es sei denn, die Mitarbeiter hätten eine Ffp2-Maske getragen und Abstand gehalten. Vielleicht hätte es auch eine Möglichkeit gegeben, einen Filter in der Klimaanlage einzusetzen? Dass die Mitarbeiter in beengten Unterkünften leben, und viele Stunden in Kleinbussen herantransportiert werden, ist erwähnenswert, scheint aber bei oben genannter Situation kaum noch ins Gewicht zu fallen. 

Wir sollten alle weniger Fleisch essen, das ist klar. Aber zusätzlich zum einzelverantwortlichen Handeln brauchen wir auch einen strukturellen Wandel. Das Vermögen von Clemens Tönnies wird auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt (Quelle). Es scheint also nicht nur darum zu gehen, dass die Bratwurst billig sein muss, damit der Verbraucher spart, sondern sie muss auch billig sein, damit jemand anderes reich werden kann. Vielleicht ist “struktureller Wandel” auch ein zu großes Wort, und es würde reichen, Werkverträge und Subunternehmer zu verbieten, die Einhaltung des Arbeitsschutzes zu kontrollieren und Gewerkschaften und Betriebsräte zuzulassen. So etwas würde auch der Paketbranche gut tun. 

COVID-19 ist ein Vergrößerungsglas, dass die Ungleichheit der Welt noch deutlich sichtbarer macht, unsere Schwächen hervorhebt und manchmal auch unsere Stärken. Es ist eine großartige Chance, Dinge neu zu denken und neu anzugehen: Fleischkonsum, Klimaschutz, Arbeitsschutz, Tourismus. Ich habe einen Funken Hoffnung und einen Eimer Pessimismus. Und ganz besonders beunruhigen mich die Orte auf der Welt, die so still sind in diesen Tagen: Südafrika, Nigeria, Jemen, und die Flüchtlingslager der Rohingya.

gemischte Tüte

Frau Novemberregen sieht heute unzufrieden aus, beteuert aber, es nicht zu sein. Ihre Haare sitzen sehr gut, ich hingegen habe eine Mischung aus Corona- und Urlaubsfrisur, da müssen wir jetzt durch. Ich sitze im Schlafzimmer, hinter mir Klamotten auf dem Bett, aber eigentlich ist es aufgeräumter, als es aussieht. Hinter Frau N. räkelt sich mal wieder ganz süß eine Katze, und das Licht scheint hell und klar auf ihren Schreibtisch, ganz anders als vor ein paar Monaten, als wir angefangen haben. Es ist Sommer geworden.

Wir sprechen erst über ihr Büro und was da schon wieder alles los ist, mir klappt die Kinnlade herunter, als ich höre, wer sich erdreist, den nOC direkt anzumailen. Dann lachen wir ein bisschen über die Kabelkarte, und sprechen über Gauner und Betrüger, die kleinen wie die großen, mit Anzug oder ohne. Ich erzähle, dass ich einen Führerschein für ein Motorboot machen möchte, gar nicht so schwierig, ein paar Praxisstunden, ein paar hundert Theoriefragen auswendig lernen, und 9 Knoten können, da könnte ich ja Vorwissen aus meiner Vergangenheit einbringen, und die Anspielung hängt kurz zwischen uns im Videochat. Dann aber muss Frau N. ihre rote Beete umrühren. Der Ziegenkäse gratiniert nicht so richtig, lässt sie mich wissen.

Frau N. hat heute gute Nachrichten erhalten von allerhand Ämtern, und auch sonst scheint es gut zu laufen, und ich freue mich aufrichtig und tief für sie. Das hat sie verdient. Schnell bucht sie uns noch zwei Tickets für den Badesee, damit es uns noch besser geht. Ob wohl der Stand für Pommes und Eis geöffnet hat? Nirgendwo schmecken die Pommes so gut wie im Freibad oder am Badesee. Letztes Jahr gab es sogar eine gemischte Tüte zu kaufen, mit Gummitieren und sauren Schlangen.

Ich höre die Schwalben, die vor der offenen Balkontür von Frau N. rufen, während das Abendlicht weicher wird.

Frau N. hat mich gebeten, über mein Fußdings zu berichten. Bei meinem Fußdings handelt es sich um eine Vorrichtung, in der man während des Duschvorgangs seinen Fuß zur Reinigung stecken kann, ohne sich bücken oder auf einem Bein balancieren zu müssen. Ich hatte das Fußdings bei Amazon bestellt und wir hatten darüber bei unserem letzten Videotermin gesprochen, weil sich Frau N. für die Kiste, die im Bildhintergrund zu sehen war, interessiert hat. Das Fußdings hat micht qualitativ leider enttäuscht, es war sehr billig verarbeitet und wirkte außerdem so, als hätte es schon jemand ausprobiert. Ich habe es daher retourniert und bin jetzt wieder fußreinigungs-gadgetlos, es sei denn, ich erwerbe ein Konkurrenzmodell. Mal sehen. Hier ein Produktlink.

Ich hatte Frau N. angekündigt, heute noch über ein Thema zu schreiben, das nicht zu Ton und Thema dieses Weblogs passt. Mich bewegt sehr der Cluster an Covid19-Infektionen in einer Großschlachterei/fleischverarbeitenden Betrieb – es gab bereits mehrere solcher Cluster in genau solchen Betrieben in den USA, und es wird auch noch weitere in Deutschland geben. Es ist ein spannendes Thema an der Schnittstelle zwischen Biologie, Physik, Menschen- und Tierrechten, Gesellschaftspolitik und Kapitalismuskritik. Für heute abend auf jeden Fall zu groß, aber ich hoffe, ich komme in den nächsten Tagen dazu, aufzuschreiben, was aus meiner Sicht wichtig ist. Und sei es auch nur für das Archiv und die Erinnerung.

Jahrmarkttricks

Die Haare von Frau Novemberregen stehen heute auf der rechten Seite (also von mir aus links gesehen) beinahe rechtwinklig ab, als hätte sie sie sich an diesem Mittwoch schon mehrfach und mit zunehmender Verzweiflung gerauft. Ich glaube, Frau Novemberregen würde manchmal gerne mit Profis arbeiten. Indes, die Welt und insbesondere die Bankentürme sind voller Schlawiner, und dazwischen hier und da eine Diva und ein Clown.

Hinter Frau Novemberregen sitzt ein großer Teddybär, wie man ihn manchmal auf dem Rummel gewinnen kann. Ob sie ihn wohl von dort her hat? Ich kann mir nicht so richtig vorstellen, dass Frau N. Spaß an Jahrmarktspielen hat, wo einem das Geld aus der Tasche gezogen wird, und mit gezinkten Karten, gefälschten Losen und festgeschraubten Konservendosen gearbeitet wird.

Im Schoß des Teddys liegt hin und wieder einmal eine ihrer beiden Katzen, deshalb hat sie ihn, damit sich die Katzen nicht einsam fühlen, wenn niemand zuhause ist, um mit ihnen zu kuscheln. Jetzt gerade liegt keine darin, und ich sehe einen Katzenschwanz, interessiert zu einem kleinen ? geformt, auf dem Weg auf den Balkon durch die offene Balkontür, links von Frau N. Also von mir aus gesehen rechts.

Was Frau N. auch ein bisschen stresst, das ist die Gemüsekiste: es kam ein sehr großes Brot und insgesamt eine recht große Menge an Gemüse, so dass Frau N. jetzt Platz im Kühl- und Gefrierschrank schaffen musste und in absehbarer Zeit ein Eis verzehren muss, sowie Wassermelone, Bananensmoothie, Schlangengurke, und ein paar Äpfel wären auch nicht schlecht.

Frau N. wohnt ja mit einem Teenager und einer weiteren Person zusammen, und insbesondere die Verzehrmengen des Teenagers sind wohl sehr unvorhersehrbar – und hängen natürlich auch start von der An- und Abwesenheiten jenes Teenagers ab.

Frau N. und ich haben uns bereits am Montag gesehen. Es war – wir haben das soeben noch einmal in einem kurzen Gespräch überprüft – das erste Mal seit Corona, meint das erste Mal seit Ende März. Wir hatten das aber beide gar nicht mehr präsent, wahrscheinlich, weil wir praktisch dauern in Kontakt sind: nicht nur einmal die Woche per Video zum bloggen, sondern aus verschiedenen Anlässen auch dazwischen per Video, täglich per Twitter, manchmal per WhatsApp, oder wir rufen uns im Büro an. Frau N. hat kürzlich sogar begonnen, mir beruflich klingende Emails auf meine berufliche Email-Adresse zu schreiben.

Jetzt gerade tippt Frau N. gar nix. Sie tippt normalerweise sehr laut, KLACK KLACK KLACK, wie ein kleiner Hagelsturm, das kann man gar nicht verpassen. Jetzt gerade isst Frau N., es muss nämlich auch die Ananas weg, mit Ahornsirup. Zum Abendessen gab es Bohnensuppe mit Paprika, scharf angebratener Chorizo und Tabasco. Nicht mein Ding, aber ich habe ja auch nicht mitgegessen.

Am Montag haben Frau N. und ich uns zum Lunch getroffen. Frau N. trug eine ankle length Hose, die ich hasse und die sie liebt. Wir haben früher Hochwasserhose dazu gesagt. Um mich noch weiter zu quälen, hatte Frau N. die Hose mit Schnürschuhen kombiniert und trug Söckchen dazu, die halbtransparent, schwarz gepunket und mit umgeschlagenen Ringelsaum verziert waren. Auf Knöchelhöhe natürlich.

Frau N. hat einen Stylisten, einen virtuellen natürlich, der Zeit angemessen. Er arbeitet für ein großes Versandhaus, das zwei gaunerhaften Brüdern gehört, die einst mit einem blauen Frosch auf einem Motorrad berühmt geworden sind. Frau N. hat einige Zeit überlegt, ob es den Stylisten wirklich gibt, oder ob es sich um eine AI handelt, aber es scheint tatsächlich ein Mensch zu sein. Man denkt sofort an einen prekär lebenden Hipster in Berlin, der auf seinen großen Durchbruch mit irgendwas anderem wartet, unter Mindestlohn verdient und nebenbei schwarz kellnern geht.

Jedenfalls: Frau N. und ich waren am Montag essen. Da ich Lust auf Burger hatte, sind wir einen Burger essen gegangen. Der Burgerladen hatte ein recht durchdachtes Hygienekonzept: am Eingang hat eine Frau kontrolliert, dass nur hineinging, wer seine Kontaktdaten abgegeben hatte und eine Maske trug. Kontaktdaten konnte man auch über eine App abgeben, die man sich per QR-Code laden konnte. Mit einem Kärtchen wies einem die Frau dann auch direkt einen Tisch zu. Bestellen durfte man wie immer an der Theke. Die Bestellung wurde einem dann an den Tisch gebracht, die Stationen für Ketchup und Mayo waren abgebaut, das gab es jetzt auch in der Tüte. Burger mit Pommes ist übrigens kein so gutes Coronaessen, weil man beides ja gerne mit der Hand essen möchte. Ich konnte mir die Hände aber mit Desinfektionsgel desinfizieren, und auch Besteck gab es auf Nachfrage. Der Burger war sehr gut, die Pommes etwas labbrig, und mir hat es an Mayo gefehlt.

Wir saßen natürlich draußen, an dem uns zugeteilten Tisch, und wurden während der relativ kurzen Zeit drei Mal angebettelt: ein mal von einem Drogensüchtigen auf Entzug (mit Beschimpfung), zwei mal von derselben Sintifrau (Frau N: „Sie waren doch gerade eben erst hier!“). Corona muss sehr hart sein, insbesondere für die Drogensüchtigen, denn wie bei Trockenhefe und Klopapier gibt es auch hier eine Lieferkette, die es ganz schön durcheinander gewirbelt hat; außerdem wie in der Gastronomie einen sehr starken Rückgang der Einnahmequellen.

Ich muss es neu lernen, das essen gehen, die neuen sozialen Spielregeln. Als wäre ich in einem neuen Land. Es ist nicht schwer, und ich fand, dass sich am Montag auch alle sehr bemüht haben, auch wenn niemand perfekt war. Aber eben noch alles sehr ungewohnt.

Den Rest der Woche viel Regen. Ich mag das gerne, wenn die Stadt still wird, reingewaschen, das tock tock tock auf dem schwarzen Regenschirm. Überhaupt hat sie mir gefehlt, zumindest ein bisschen, diese Stadt mit mir darin, und das Büro, und der Lunch mit Frau N. oder Sarah oder Francine oder meiner syrischen Freundin. Nice little restaurants where they know your name.

Gestern noch bis spätabends mit der Geschäftsführung zusammengesessen, bisschen Abstand, ein lockeres gleichschenkliches Dreieck. Die Wolken verschwinden, die Abendsonne scheint goldenes Licht in das Büro des Geschäftsführers. Unsere Themen sind dunkel, nein, pechschwarz, aber wir lachen, so wie man es nur kann, wenn alles sehr bitter ist. Könnte sein, dass das hier alles bald vorbei ist, denn wir werden wohl in einem anderen Land einen Vorturner bekommen, mit dem nicht gut Kirschen essen ist – nein, schlimmer: vor dem wir keine Achtung haben. Es gibt Videokonferenzen zum Thema Cost Savings, und in anderen Ländern brennen die Banken.

Aber jetzt blinken die Lichter, bunt, ich habe eine Zuckerwatte in der Hand, und das Riesenrad dreht sich. Mal ist man oben, dann wieder unten. Dann wieder oben, und immer so weiter, und weiter, und weiter.

Bis das Licht ausgeht.

2030

Mein Weblog war down, hat aber niemand vermisst, außer mir. Blog like nobody is reading.

„Warum machen wir das eigentlich?“, frage ich Novemberregen, und sie macht unverbindliche Laute und beißt in ihre Schlangengurke. „Darauf weißt du auch keine Antwort, hm?“ sage ich, und wir nicken und fangen an zu tippen.

Beim Reparieren meines Weblos hab ich ein bisschen ins Archiv geschaut. Was so war, 2010, 2013 oder so. Wenn ich 2030 in mein Weblog schaue und mich frage, was mich so bewegt hat – gestern, heute, und morgen – dann werde ich hier folgendes lesen:

Lange mit Novemberregen unterhalten, über die Arbeit vor allem, und die Welt und die Menschen darin. Frau N. war heute ungewohnt ruhig, fast schon in sich gekehrt am Anfang unseres Gesprächs. Sie war vorher in einer Videokonferenz, und der Inhalt hat sie sehr beschäftigt. Ich sah es so richtig in ihr denken, das ist immer sehr schön.

Später hat sie mir dann von ihrem Problem erzählt, das ihr über den Kopf gewachsen ist. Es geht – ich denke, das darf ich verraten – um Sozialversicherungen. Mir scheint es so zu sein, dass das Problem Frau N. nicht über den Kopf gewachsen ist, nein, es handelt sich um eine Mischung aus Expertenwissen und Entscheidungskompetenz, die eben mal ausnahmsweise nicht in zwei halben Tagen, sondern eher nach ein bis zwei Dekaden relevanter Berufserfahrung erreicht wird. Und Frau N. macht eben hauptsächlich andere Dinge als Sozialversicherungen. Ich kam dann noch in den Genuß eines ca. 15minütigen, sehr detailreichen Vortrags von Frau N. zu diesem Thema. Etwa 8 Minuten lang konnte ich mithalten, dann düste Frau N. roadrunnermäßig gedanklich ab und ließ mich mit großen, verständnislosen Augen im Staub zurück.

Frau N. sah heute übrigens sehr gut aus, der Haarschritt steht ihr. Aber sehen Sie selbst:

Was war sonst noch. Sehr gutes Gespräch mit dem Head of Llama am Wochenbeginn. Hat mir Kraft gegeben für einige notwendige Schritte. Nächste Woche Gespräch über Kostenreduzierung mit dem Headquarter. Bei Frau N. war das schon, die sind uns immer etwa drei Wochen voraus, in allem. Es wird oft gesagt, dass wir keine Leute entlassen werden, beinahe schon zu oft. 2030 werde ich wissen, wie es ausgegangen ist.

Nach der Arbeit mit meiner Mutter spazieren gegangen. Ein Mann mit Hund an der Leine hat lange gewartet, bis wir endlich an ihm vorbeigegangen sind. Der Hund hat uns angebellt, er hat ja gemerkt, dass sein Halter ganz auf uns konzentriert war. Der Mann hat den Hund dann sehr angeschrien, ins Platz gezwungen, ist ihm dabei auf die Pfote getreten, und der Hund hat gejault. Wie eben ein Hund jault, wenn er oft geschlagen wird. Bricht mir das Herz.

Viele Bilder auch auf Twitter, die mir wehtun: George Floyd, wie er erstickt. Tränengas auf Demonstranten. Ein älterer Mann, der von Polizisten gestoßen wird, nach hinten fällt, mit dem Kopf aufschlägt, eine Blutlache bildet sich an seinem Hinterkopf, während sich der Griff seiner Hand um sein Mobiltelefon lockert und er ohnmächtig wird. Die Polizisten gehen weiter, niemand hilft ihm.

Wird sich 2030 etwas geändert haben? Oder werden die USA bis dahin eine Art von failed state sein, irgendwo zwischen Libanon und Russland?

Ein Bild von einem Mann aus dem Kongo, aufgenommen vor mehr als einhundert Jahren, der mit einem thousand yard stare auf abgetrennten Fuß und Hand seiner etwa fünfjährigen Tochter blickt. Kongogräuel auf wikipedia nachgelesen.

BoJack Horseman geguckt. Morgen dann die beiden letzten Episoden, the view from halfway down. BoJack, eine gezeichnete Figur mit dem Kopf eines Pferdes und dem Körper eines Mannes, war in den 1990ern Hauptdarsteller in einer berühmten Sitcom („Hey, aren‘t you the horse from Horsin’ around?“). Jetzt, beinahe am Ende der Serie, hat er so gut wie alles verloren, mehr als wir es uns als Zuschauer hätten vorstellen können. Vor allem sein Ruhm ist gänzlich zerstört. Ob er genau das braucht, um endlich frei zu sein?

Man weiß nie genau, was kommt, und wie es weitergeht. Vielleicht machen wir es deshalb, Frau N. und ich, mit diesem aufschreiben. Um einen Moment innezuhalten, Bestandsaufnahme, sehen und fühlen, was ist, reflektieren, bevor sich alles, unvermeidlich, so wie es sein muss, weiterdreht.