Erinnerungen

All die Anfänge, offline gestellt. Zwei, drei Sätze, die ins Leere gehen.

Erinnerungen.
Die Erinnerung ist eine Hure.
Die Erinnerung ist keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern ein Schnappschuss eines Erlebnisses, subjektiv eingefärbt.
Die Erinnerung ist eine ehrbare Hure.
Der Wert der Erinnerung steigt, je älter man wird.

Was ist wichtig im Leben, was ist wichtig für das Gelingen?
Die Suche nach Sinn, das Streben nach Glück.
Und: Erinnerungen.

Trigger meiner Erinnerungen: das überreife, umgeknickte, halb verdorrte hohe Gras im Hochsommer. Es erinnert mich an die Sommer, in denen ich vierzehn, fünfzehn, sechzehn war und mit meinem Hund und meinen Walkman über die Wiesen streifte. Meinen Gedanken nachhing. Es ist eine glückliche Erinnerung, sie macht mich glücklich und wehmütig und melancholisch, wenn ich sie erinnere. Kostbar. Ich bin so froh, das erlebt so haben, es fühlt sich so reich an. Trotzdem weiß ich, daß ich mich damals weggewünscht habe: weg aus der Pampa, hinein ins wirkliche Leben.
Das Zirpen der Grillen, der tiefblaue Himmel. Erinnert mich an die Urlaube in Südfrankreich, als ich elf, zwölf war. Sommer durch und durch, in jeder Faser. Ich weiß, daß ich oft quengelich war und unzufrieden: es war zu heiß, ich verstand niemanden, mußte mich selbst beschäftigen.
Refraiming nennt sich das wohl, daß dies glückliche Erinnerungen sind, auch wenn ich nicht glücklich war, als ich die Erlebnisse gemacht habe. Im Rückblick beurteile ich sie anders.

Zwei Fragen ohne Antwort: warum kann die Erinnerung positiv sein, wenn es das Erlebnis nicht uneingeschränkt war?
Und wie werde ich in ein paar Jahren oder Jahrzehnten beurteilen, was ich gerade erlebe?

am Fenster

Ich komme spät nach Hause, nach Mitternacht. Es ist ein Mittwoch. Der Tag war hochsommerlich und die Nacht immer noch so warm, daß ich unbekleidet durch die dunkle Wohnung tapse und Balkontür und Fenster öffne, um mich ein wenig abzukühlen.
Von draußen dringen Stimmen hinein, das Summen eines Türöffners. Ich blicke aus dem Fenster und sehe ein Pärchen im Hauseingang von Nr. 205, dasselbe wie im April, da bin ich mir sicher.
Nun stehen sie wieder im Hauseingang und küssen sich… eine ganze Weile, während er mit einer Hand die Tür geöffnet hält. Dann geht sie hoch, er schaut ihr nach, ohne die Schwelle zu übertreten. Er bleibt einen kleinen Moment länger stehen als nötig, aber nicht so lange, daß es creepy wäre. Dann geht er die Straße hinunter. Die Art wie er läuft hat etwas lockeres, beschwingtes, glückliches.

Ich denke ein wenig über die Zeit nach. Was hat dieses Paar wohl in den letzten Monaten erlebt? Sie in beinahe unveränderter Pose wiederzusehen, vermittelt einen Eindruck von Beständigkeit.
Und ich? Wenn man das Ziffernblatt einer Uhr anstarrt, dann scheint sie sich kaum zu verändern. Schaut man weg, und dann wieder hin, sticht einem die Reise der Zeiger geradezu ins Auge. Alle meine Tage scheinen gleich, und doch ist es überraschend, wie viel passiert ist seit April. Der Zeit vergeht nicht wie etwas, das man in der Hand hält, während es zerfällt. Vielmehr schieben mich die Zeiger in winzigen, unaufhörlichen Schritten voran, irgendwohin.

Dieses Jahr keine Männer mehr, okay?

Heute Abschlußgespräch mit ihm. Als ich es initiert habe, hielt ich es für eine super Idee: ich wollte klar benennen, warum wir nicht zueinander gefunden haben; freundlich und ohne Vorwurf; auf das wir beide ohne Groll auseinandergehen können. Je näher unser Treffen rückt, umso mulmiger wird mir. Ich glaube nicht, daß er verliebt in mich ist, aber ich glaube, daß es ihm schwer fallen könnte, loszulassen. Auch ich muß mir eingestehen, daß es mir schwerfällt, die Hoffnung loszulassen. Ich hatte diese Wunschvorstellung, nach einem harten Tag voller Arbeit bei ihm vorbeischauen zu können und dort Ruhe zu finden, Entspannung, Geborgenheit, Fürsorglichkeit. Kitschkram eben. Er kann mir das nicht geben, wer weiß, ob das überhaupt jemand kann.
Mehr und mehr spüre ich ihn nun doch in mir, diesen Groll, als sei ich um etwas betrogen worden. Wem nützt der Groll? Niemanden.
Wir wollen freundlich und ohne Vorwurf auseinander gehen.

das Problem

Sie fand Beschreibungen für sich, die sich auf Adjektive beschränkten, und empfand ihre innere Brüchigkeit weniger.
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Ich misstraue den Untiefen der Abstraktion.
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Das Problem mit diesen online-Partnerbörsen.
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Auch das habe ich ausprobiert, ich wohnte noch in Berlin, es ist schon ein paar Jahre her. Mir wurde ein Koch aus Sachsen vorgeschlagen, als „perfect match“. Das kann nicht richtig sein, dachte ich, und meldete mich wieder ab. Nur den Newsletter, den bin ich bis heute nicht losgeworden.
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Man lernt eine ganze Menge über sich selbst bei der Partnersuche. Selbsterfahrungstrip deluxe. Zahlen, Werte, Mathematik – sie sind wie Koodinaten, die helfen können, sich selbst einzuordnen.
Ich habe gelernt, daß es Männer gibt, die mich wollen. Ich habe auch gelernt, daß ich keinen Partner um jeden Preis suche. Es kostet alles.
Immer wieder hoffen, und immer wieder enttäuscht werden, das ist, was man für diesen Selbsterfahrungstrip bezahlt.
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Meine Freundin Christina hat sehr lange versucht, schwanger zu werden. Eines Tages setzte sie sich hin und überlegte, wie es wäre, wenn sie zu zweit blieben, ihr Mann und sie, und es kein Kind gäbe. Und irgendwann, so erzählte sie, war diese Vorstellung für sie okay,
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Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn ich nie einen Partner finde. Komischerweise kreisen meine Gedanken eher um das Außen als um das Innen. Gelegentlich fehlt mir die Schulter, aber was mich beim Gedanken, für immer alleinstehend zu bleiben, eher bedrückt, ist die Reaktion meiner Eltern, der Arbeitskollegen, der Außenstehenden. Immer wieder erklären müssen, daß es keinen Mann gibt.
Ärgerlich, unnötig und oberflächlich, sich über sowas Gedanken zu machen. Vielleicht noch ein Relikt aus einer Zeit, als eine Frau nichts galt ohne Mann. In mir drin aber kann ich den Gedanken, ohne Partner zu bleiben, schon viel besser aushalten als noch vor ein paar Jahren. Man wächst da so rein, irgendwie.
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Ich bin mir selbst ein guter Partner, denke ich manchmal.

(ohne Titel)

Wir gingen in den Park, um uns die Zeit vor dem Spiel zu vertreiben. Die Industriebrache, zugewuchert und verwunschen, von einer Backsteinmauer vom Park abgetrennt, faszinierte uns sehr. An einer Stelle hatte der Sturm einen alten Baum gefällt, der auf die Backsteinmauer gefallen und eine Lücke gerissen hatte. Trotz meiner feinen Riemchenschuhe mit Absatz war meine Neugier größer. Er reichte mir immer wieder seine Hand, ließ mir Zeit, während ich über den Baumstamm und Bruchstücke der Mauer kletterte, an Brombeerranken vorbei. Wir schlenderten über eine große Betonfläche, durch die erste Gräser brachen, links und rechts verfallene Baracken. Wir waren allein, bis auf ein Eichhörnchen. Allein auf der Welt, magisch, verwunschen, geheimnisvoll, es wäre nicht unmöglich gewesen, die Zeit anzuhalten.
Auf dem Rückweg half er mir, über den beinahe hüfthohen Baumstamm zu klettern. Er zog mich hoch, und als ich auf dem Baumstamm stand, wußte ich nicht mehr, wie ich runterkommen soll. „Komm“, sagte er, und ich ließ mich in seine Arme fallen, seine Hand so fest um meine Taille, daß es beinahe weh tat.
Dies war der beste Moment, ein Moment voller Erotik, und in dieser Erotik alles, wonach ich mich in einem Mann sehne.

Dann verflog der Zauber. Mit jedem Schritt kehrte zurück, was uns trennt: der Lebensstil, die Prioritäten, die Vorstellung von Partnerschaft, seine Unsicherheit, meine Zweifel, ein gemeinsames Fehlen von lodernden Flammen. Wir legten uns aufs Bett und schauten das Spiel. Die Nationalelf verlor das Finale, und wir uns.

(ohne Titel)

Ich sollte deinen Namen nennen, dich nicht mit „du“ oder „er“ bezeichnen, denn ich will dich unterscheidbar machen von all den Namenlosen, die, kaum in meinem Leben, schon wieder auf dem Absprung waren. Ich habe die Vermutung, daß du bleibst.
Soll ich dich mit M. abkürzen? Da denke ich immer an den Mann von Miagalore. Soll ich dich van G. nennen? G. heißt der Mann von Diagonale, „der Kerl“ ist Ankes Kerl, „der Typ“ ist Wondergirls Ex, „der Mann“ ist der Mann von Coolcat. Vielleicht weiß ich einen Namen für dich, wenn ich dies fertig geschrieben habe.
Gestern habe ich dir von meinem Bein erzählt. Kriegsverletzung, meinte ich, eine jener Narben, die man vom Leben davonträgt. Ich habe noch andere, unsichtbare, und ihnen gebe ich die Schuld daran, daß mir dein Werben erst einmal Angst gemacht hat. Ich bin nicht unversehrt.
Du bist es auch nicht. Manchmal fühle ich mich sehr wohl mit dir, sehr entspannt, und dann wieder unsicher, überfordert. Ich habe lange nachgedacht, warum. Mir scheint, als ob ich immer dann entspannt bin, wenn du es auch bist. Wenn du erzählst, was dich belastet, dann leide ich mit, und werde traurig, wenn ich deine Traurigkeit spüre. In mir kommt die Furcht auf, du könntest crashen, und ich, ich kann dich nicht auffangen.

Letzte Nacht, da lag ich lange wach. Plötzlich wurde mir klar, daß ich dir genau das sagen sollte: daß ich dich nicht auffangen kann, zumindest jetzt noch nicht. Ich sollte dich fragen, ob du das überhaupt von mir erwartest: wahrscheinlich nicht. Ich wünsche mir, in diese Rolle langsam hineinwachsen zu können.
Als ich mir das vorstellte, spürte ich auf einmal große Freude bei dem Gedanken, mit dir zusammen zu sein. Ich hoffe, du möchtest das auch.

(Ich würde dich Fragmentes Freund nennen.)

Überraschung.

Seit Montag steht ein Halteverbotsschild vor dem Haus, in dem ich wohne, gültig für Donnerstag. Ziehen neue Mieter ein?
Im Treppenhaus hängt ein Schild „Montage“ und „Stromausfall von 9.30 bis 11“. Was werden die wohl montieren?
Heute früh steht ein großer Kran vor dem Haus, der große, laternenmastähnliche Stahlrohre hochhebt, ich kann nicht sehen, wohin. Als ich mich anziehe, höre ich Bohrgeräusche über mir. Später will ich die Wohnung verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Über meiner Wohnung liegt nur noch der Trockenboden, ich höre Stimmen und gehe hoch. Drei Bauarbeiter stehen um den Rumpf eines Mastes herum, einen halben Meter im Durchmesser, mit Bolzen im Boden befestigt. Schräg darunter liegt mein Schlafzimmer.
Bevor ich sie frage, weiß ich eigentlich schon die Antwort.
„Was bauen Sie denn da?“.
„Mobilfunkmast.“

Sakurako Kitsa

Diagonale schickte mir gestern über Twitter einen Link zu einem Bild auf Flickr, das eine besonders kunstvolle Bento-Box zeigt. Sakurako Kitsa heißt die Frau, die diese liebevollen Bentos macht. Trotz asiatisch klingendem Namen zeigt das Icon eine junge, blonde, blauäugige Frau, und so wurde ich neugierig, wie sie dazu kommt, Bentos zu machen. Lebt sie in Asien? Ich klickte auf ihr Flickr-Profil, und da stand:

Thank you all for the kind messages of concern and support. My activity is still strictly limited and I will be unable to do anything bento-related for some time.
Unfortunately, our daughter Cécile passed away following a premature delivery on 13 April. Her twin sister Madeleine is still alive, although we anticipate some severe complications with her upcoming birth. We appreciate the outpouring of kindness, thoughts and prayers.

Ich habe dann gegoogelt und ihr Blog gefunden. Zusammenreimen konnte ich mir folgendes: sie hatte bereits als kleines Kind Krebs, weil ihre Familie einem Karzinogen ausgesetzt war. (Ihre Mutter hatte Brustkrebs, beide Brüste wurden amputiert). Der Krebs hat sie wider Erwarten nicht umgebracht, aber die harte Behandlung hat ihre Gesundheit ruiniert. Sie ist als körperbehindert eingestuft und über Medicare versichert. Aufgrund der Strahlenbehandlung galt sie als unfruchtbar, bis sie letzten Winter von ihrem Freund Justin (dem Empfänger der Bentos?) mit Zwillingen schwanger wurde. Cécile, so ist oben zu lesen, wurde zu früh geboren und ist gestorben. Als ich heute morgen wieder in ihr Blog reinschaute, habe ich verstanden, daß etwas später auch Madeleine geboren wurde und gestorben ist, eine Information, die ich gestern noch nicht prozessieren konnte: wie kann einem Menschen so viel Unglück zustoßen?

Im Dämmerlicht auf dem Weg zum Parkplatz habe ich darüber nachgedacht, wann ich das letzte Mal körperliche Schmerzen hatte. Es gibt Menschen, die zählen die schmerzfreien Tage, nicht umgekehrt.
Ich bin dankbar für diesen Körper, der so zuverlässig funktioniert. Ich weiß, daß das keine Selbstverständlichkeit ist.

der Brand

Ich bin gerade aufgewacht. Ich träumte, jemand hätte sich auf dem Feld neben meinem Elternhaus das Leben genommen, nun wäre Polizei und Ambulanz da mit ihren roten und gelben Warnlichtern. Diese Lichter waren kein Traum, sondern kommen durch mein Schlafzimmerfenster, das auf die Straße rausgeht. Aha, denke ich leicht verärgert, gibts mal wieder eine Kleinrazzia in dem Internetcafé/ Hort der Kleinkriminalität nebenan. Drehe mich um, mache die Augen auf und aus der Wohnung gegenüber schlagen helle Flammen. Vier Löschzüge der Feuerwehr sind da. Ein Feuerwehrmann bringt eine sehr alte Dame, weißhaarig, gebückt, im fliederfarbenen Schlafanzug, aus dem Haus hinaus. Sie ist barfuß. Einen Augenblich später folgen zwei Erwachsene, einer mit einem Kind auf der Hüfte, das Kind ist vielleicht fünf. War knapp.
Die Flammen machen mir Angst und die Barfüßigkeit der Menschen.

Das Fenster, aus dem die Flammen schlugen, liegt meinem Schlafzimmerfenster genau gegenüber: nah, nur durch fünf Meter Straße getrennt. Lange Zeit wohnte niemand hinter diesem Fenster, und daneben ältere Leute mit dicken, schwere Vorhängen, die immer geschlossen waren bis auf Dienstags, da kam immer die Putzfrau. Ich konnte mich also immer recht ungestört an- und umziehen, bis vor einem halben Jahr jemand einzog. Die Wände wurden liebevoll gestrichen, soviel konnte ich sehen, mit einer halbhoch angebrachten, blauen Bordüre, was ich etwas kitschig fand. Als nächstes haben sie einen halbhohen Sichtschutz aus blaugestreiftem Stoff installiert, wie man es manchmal an Küchenfenstern hat. Gestern morgen war diese Halbgardine verrutscht, das weiß ich noch. Jetzt ist da nur noch ein ausgebranntes Loch.
Ich hoffe, der Mann, der da gewohnt hat, war nicht zuhause, ansonsten wars das wohl. Wie zerbrechlich doch alles ist, im Grunde genommen. Wir sind uns dem meist nicht bewußt, könnten sonst wohl auch nicht aktiv und sorgenfrei leben.

Es wird langsam hell. Morgengrauen. Der Dachstuhl raucht noch ziemlich. Bizarrerweise hat es heftig geregnet.
Ich gehe den Rauchmelder suchen und hoffe, noch ein wenig schlafen zu können, wenn die Löschzüge abgezogen sind. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, die Sorgen draußen zu halten.

soll ich dich ein Stück mitnehmen?

erso: „schicke Autositzbezüge. Was bedeutet denn das chinesische Schriftzeichen?“

ichso: „danke, hab ich geschenkt bekommen. Eine Bekannte meinte, das Schriftzeichen steht für Liebe.“

erso: „aha. Ist bestimmt verkaufsfördernd. Love sells.

ichso: „nee. love hurts.

erso: „ sex sells!

Wir haben dann beide ein bisschen gelacht.