im Dunklen.

Manchmal macht es meine Arbeit erforderlich, daß ich einen Film entwickle. Selbst, von Hand, in einem kleinen dunklen Raum. Und immer gibt es eine Zeitspanne (drei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten), in der ich warten muß, in der es nichts für mich zu tun gibt außer im Dunklen zu stehen. Dann lausche ich meinen Atemzügen, lasse meine Gedanken fliegen, genieße die Stille. Gestern habe ich die Rotlichtlampe ausgeschaltet und die absolute Schwärze auf mich wirken lassen. Mit meinen Fingerspitzen tastete ich die Maße des Raumes ab, der mir so gut bekannt ist.
Wie in diesem kleinen Raum, so ist auch das Leben. Das Licht meines Verstandes ist wie jene Rotlichtlampe und reicht bis zur Tischkante. Man tastet mit dem Herzen. Und all die Verletzungen, die Schrammen, die man sich zuzieht, wenn man gegen Möbelstücke stößt, gegen die Wand, eine Stufe verfehlt, ins Leere fällt – all diese Verletzungen sind gut. Weil man weiß, wo man steht. Weil sich so der Raum erschließt.
Rückblickend werde ich wahrscheinlich dankbar sein für die harte Zeit, durch die ich gerade gehe. Ich bin angeeckt, bin gegen Hindernisse gestoßen, und jetzt, hoffentlich, aufgewacht.

Blöd finde ich es trotzdem. Aber ich habe es mir ja nicht ausgedacht. Ausgesucht auch nicht. Wer hat schon die Wahl?
Es gibt ja nur dieses eine Leben.

auf dem Parkplatz vor Lidl

Der Mann (vielleicht 18, rote Hose, rotes Hawaiihemd) spricht mechanisch, einstudiert, ohne Satzzeichen: „Entschuldigung kann ich Ihnen vielleicht für 30 Cent den Aschenbecher leeren oder für 10 Cent den Einkaufswagen zurückbringen.“
Nein, sage ich, und räume weiter meine Einkäufe in den Kofferraum. Ich kann ihm nichts geben, ich bin arm, vor allem im Herzen. Sieht er nicht, wie hart ich für mein Geld arbeiten muß, für das bisschen, sieht er nicht, wie schwer ich’s habe, wie müde ich abends bin. Ich bin die Sklavin der Bildung, die mir Freiheit bringen sollte. Ich kann ihm nichts geben, mir wird zu viel genommen, jeden Tag.
Als ich den Einkaufswagen zurückbringe, steht der Mann ein paar Meter vom Eingang entfernt. Ich drücke ihm die Münze, die im Einkaufswagen war, in die Hand.
Wir können uns beide nicht in die Augen sehen.

Schreibblockade

Setzt dich an den Tisch, denke ich, rede mit dir selbst und schreib darüber.
Steh auf, leg deine Hand auf das Buch und schreib darüber.
Leg dich hin, leg deine Hand auf die Schürfwunde und schreib darüber.
Nimm einen Spiegel, schau hinein und schreib darüber.
Geh‘ durch die Stadt, öffne die Augen und schreib darüber.
Blicke an die Decke, spür in dich hinein und schreib darüber.
Nimm einen Spaten, grab in der Erinnerung und schreib darüber.
Schlaf ein, träume irgendwas und schreib darüber.

Die Worte müssen von selbst kommen, aus dir heraus auf die Tastatur fließen. Du hast was zu sagen und kriegst es nicht raus. Laß es drin und warte. Lock es hervor mit Tinte und mit Moleskine. Quäl dich nicht.

am Nachmittag.

Am nächsten Tag stehen die Meghars vor meiner Wohnungstür und wollen wissen, was in der Nacht passiert ist. Ich hatte schon damit gerechnet und lade sie zu Kaffee und Kuchen ein, denn ich brauche Verbündete.

Einen Bäckereibesuch später sitze ich im Meghar’schen Wohnzimmer und erfahre hilfreiches. Die Frau mit dem Hang zu lauter, nächtlicher Musik – nennen wir sie: Frau Berger – ist kein unbeschriebenes Blatt. Mit Gisela gab es Streit und böse Briefe, bis Gisela Frau Berger eines Tages androhte, ihr die Fresse zu polieren. Ein Vorgehen, das Gisela als erfolgreich preist und auch mir ans Herz legt. (Ich zweifle, ob es für mich das richtige ist…) Eine Nachbarin im dritten Stock hat ihren Fußabstreifer am Boden festgeschraubt, der Grund: Frau Berger und des Fußabstreifers Reisen in die Mülltonne. Frau Berger, so wird mir erzählt, ist arbeitslos oder arbeitsunfähig, verwitwet und trinkt viel.
Ich fühle mich nicht mehr ganz so schuldig ob meines harten Durchgreifens und hoffe, daß die Fronten zwischen mir und Frau Berger nun geklärt sind.

Später sitze ich mit Herr Meghar in der Küche und er zeigt mir, wie er Tee kocht. Arabisch, sehr süß, etwas bitter, mit Pfefferminze. Dann flüstert er mir zu, ob er nach Schnaps rieche. Ich verneine. Er fragt mich, ob ich mich mal mit ihm betrinken würde. Innerlich muß ich lächeln. Noch nie hat mich jemand sowas gefragt. Äußerlich bleibe ich ernst und verweise auf Tee. Ich habe nämlich ein wenig das Gefühl, daß sich Herr Meghar auf mehr als nur nachbarschaftliche Weise zu mir hingezogen fühlt. Er faßt mich gerne an – am Arm oder auch schon mal am Nacken – und schenkt mir gerne Sachen bis zu einem Punkt, an dem es mir beinahe peinlich ist („ob ich nicht mal mit ihm nach Algerien fahren möchte?“). Herr Meghar ist Mitte 60.
„Wie geht es Ihren Kindern“, frage ich ihn und erfahre, daß er einen Sohn und eine Tochter hat, beide in den Dreißigern. Sie tragen ihm nach, daß er sich von der Mutter hat scheiden lassen, zwanzig Jahre ist das her. Mit seinem Sohn hat er Kontakt (aber nur, wenn er, der Sohn, dazu Lust hat), aber mit der Tochter gar nicht mehr, obwohl sie ganz in der Nähe wohnt. Ich frage mich, ob er eine Art von Tochter in mir sieht. Das wäre mir lieber, als die Alternative.

Es gefällt mir bei Meghars, ich mag sie. Ich fühle mich wohl in ihrem Wohnzimmer. Im Hintergrund versucht Barbara Salesch die Wahrheit herauszufinden, Gisela gibt einen Löffel Schlagsahne auf den Pflaumenkuchen und dann kommt die Frage, die mir immer gestellt wird, wenn ich neue Leute kennenlerne: ob ich einen Freund habe?
Ich weiß nicht so recht, was ich darauf antworten soll. „Nein“, spricht mein Mund, und innen drin denke ich: er entgleitet mir.

des nachts.

In meinen Traum hinein schwappt die Musik wie eine Welle, nicht unangenehm zuerst, doch dann merke ich, daß ich sie nicht leiser stellen kann, und wache langsam auf. In der Wohnung unter mir singt Tracy Chapman, das ist besser als die letzten drei Mal, da war es Nena oder billiger Diskokram. Ich schaue auf die Uhr, es ist halb eins. Ich habe etwa eine Stunde geschlafen.
Ich warte fünf Minuten, freue mich, als es still wird, aber es ist nur die Pause zwischen zwei Songs. Ich stehe auf und esse einen Cracker, ziehe mir eine Schlafanzughose an und warte noch ein bisschen. Dann gehe ich runter, klingele und bitte darum, daß die Musik leiser gestellt wird. Die letzten drei Mal hat die Frau genickt und ja gesagt und dann war Ruhe.
Dieses Mal sagt sie mir, daß ihr Balkon immer nass würde, wenn ich die Blumen gieße, und dann auch noch so spät abends! Ich solle doch die Blumen zu einer anständigen Zeit gießen!
„Und das ist jetzt die Rache?“, frage ich, „daß Sie mich um halb eins wecken? Ich war schon drei Mal hier wegen der lauten Musik, und Sie schaffen es nicht, zu mir hoch zu kommen und mir das mit den Blumen zu sagen?“. Ich bin ziemlich perplex und bitte nochmals darum, daß die Musik leiser gestellt wird. Ansonsten, sage ich, muß die Polizei kommen. Die Frau sagt, sie ruft das Ordnungsamt und stellt mir die Granitplatten des Balkons in Rechnung.
Ich gehe hoch in meine Wohnung und lege mich ins Bett. Erst ist es still, dann setzt die Musik wieder ein. Ich hadere mit mir.
Dann rufe ich die Polizei.
Etwa zwanzig Minuten später sind sie da, stehen unten, weil die Haustür abgeschlossen ist, ich laufe vier Stockwerke runter und lasse sie rein. Ich zeige Ihnen die Wohnungstür der Frau. Die Polizisten sagen, ich soll nicht/ muß nicht dabei sein. Ich gehe wieder in meine eigene Wohnung. Als ich merke, daß die Polizisten gegangen sind, lege ich mich wieder ins Bett.
Fünf Minuten später klingelt es an meiner Wohnungstür. Ich stehe auf, meine Knochen sind schwer. Halbherzig hoffe ich auf eine Entschuldigung. Als ich die Tür öffne, redet die Frau erstmal einen ganzen Absatz lang, und mir wird klar: dies wird kein Dialog. Sie sagt: „Sie haben mir die Polizei auf den Hals gehetzt! In den 11 Jahren, die ich hier wohne, ist mir das noch nicht passiert! [Ab hier muß man hinter jeden Satz ein dreifaches Ausrufezeichen setzten.] Warten Sie erstmal, bis die Griechen Party machen!!! Und warten Sie, bis Sie einmal Party machen!!! [äh, denke ich, mache ich eigentlich nie.] Ich bin krank!!! [tolle Antwort, die mir leider erst heute früh eingefallen ist: dann gehen Sie doch mal früh ins Bett! Der Süße sagt, ich soll nicht immer so schnippisch sein.] Ich muß ins Krankenhaus!!! Ich kriege ein künstliches Hüftgelenk!!!“
Sie ist ziemlich aufgelöst und weint. Ich frage, ob Sie bereit ist, auch mir zuzuhören, und zähle nochmals auf: daß es schon mehrmals das Problem mit der lauten Musik gab. Daß ich, als ich heute mit ihr geredet habe, nicht das Gefühl hatte, daß sie mich respektiert. Daß ich von der Sache mit dem Blumengießen heute zum ersten Mal gehört habe…
Dann merke ich, daß es sinnlos ist. Sie betitelt mich noch mit ein paar Schimpfwörtern und geht langsam die Treppe wieder hinunter.

Ich lege mich wieder ins Bett und liege noch eine Weile wach. Ich fühle mich nicht so gut. Ich spüre, daß dies der Anfang von etwas Ungutem ist.

Erst jetzt, als ich diesen Text tippe, als ich ein paar Stunden geschlafen habe, weiß ich, daß ich diesen Konflikt anders hätte lösen sollen. Rhetorisch geschickter, weniger auf meine eigene Kränkung bedacht, weniger emotional. Nur: es fehlt die Kraft. Ich kann nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen.

Diese Schlacht habe ich verloren.

(ohne Titel)

Ich stehe im Badezimmer eines Hotels. Ich bin nicht zum Spaß hier.
Ich erhasche einen jener Blicke auf mich selbst, die man nur in Hotelzimmern bekommen kann oder tief in der Nacht, wenn man sich selbst als Fremde begegnet.
Ich sehe eine müde, abgearbeitete Frau, die Schultern nach vorne gesunken. Schatten unter den Augen, das Fleisch aufgequollen, die Haare stumpf. Kein Glanz, kein Funkeln, nirgendwo.

Ich bin nicht mehr jung.

Ich sollte mal wieder über mein Leben nachdenken, und was ich damit machen will, denke ich, und lege mich zwischen die gestärkte Mietbettwäsche.