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Aus dem Büro gegangen, nicht rechts und dann mit dem Aufzug in die Tiefgarage, sondern durch die Drehtür und dann über die Straße. Die kleine Gasse hinter Prada, Dior, Gucci und Louis Vuitton entlang, wo die Angestellten rauchen, sich die Pappkartons stapeln, die Desk-Sharer auf cool machen und zwei afrikanische Frauen über Gott sprechen. Ich hatte lange überlegt, ob ich meinen Wintermantel aus dem Auto holen soll, ein Gedanke, der mir jetzt absurd vorkommt.

Heute eine Transaktion von etwas mehr als einer Million Euro abgewickelt. Ich denke darüber nach, ob ich das viel finde oder wenig, und komme zu keiner Antwort. Eine Wohnung würde man dafür schon bekommen, und sie wäre vielleicht sogar schön, oder zumindest ganz nett.

Handtaschen oder Chanel interessieren mich nicht. Ich gehe in die Buchhandlung, kurz nur, denn ich bin bald mit Frau Novemberregen wartet. Der Kassierer trägt ein Schild mit der Aufschrift “ich kann nicht sprechen“. Wir kommunizieren einseitig.

Ich überlege, immer mal wieder, gerade jetzt auch, was mich glücklich macht. Was mich noch etwas mehr glücklich macht. Was fehlt. Was der Punkt ist, oder die Pointe.

Und dann bin ich, ohne es so richtig zu wollen und ohne es geplant zu haben, ein bisschen verzaubert von der Stadt, wie sie sich präsentiert heute, wie sie aufgetaucht ist aus dem Wintergrau. Als wäre es eine andere, heimliche Stadt – aber das stimmt nicht, es ist einfach nur die Sommerstadt, die Fünf-Uhr-Stadt, und wir sehen uns nicht so oft. Ich wäre heute beinahe nicht rausgegangen, es ist ein beinahe absurder Zufall, denn Amazon – ausgerechnet! – hat nicht geliefert.

Ich sollte es öfter tun. Rausgehen, den Alltag durchbrechen, neue Welten in die kleine Welt in mir drin hineinlassen.

Ich ziehe die Strickjacke aus, und laufe an einem Thermometer vorbei: 23 Grad.

Flat white

Der Starbucks zwischen den Bürotürmen hatte den ersten Lockdown nicht überlebt. Dort gibt es jetzt eine Art Hipstercafé, aber mehr so im mid-century modern-Stil (also zwischen Mad Men und dem Helmut Kohl`schen Kanzlerbungalow). Zwei junge Männer – vielleicht Brüder – in einer Uniform, die dem von Stewards auf einem Atlantiküberquerung ähneln, machen sehr guten Kaffee. Ihre Mutter backt Croissants und einige Croissant-ähnliche Gebäckstücke mit komplizierten Namen. Die Espressomaschine ist ganz Stahl und Chrom. Die Preise sind in vollen Euro, und es gibt vier Kaffeespezialitäten, frisch gepressten Orangensaft und vier alkoholische Getränke. Sonst nix. Irgendwo steht ein DJ-Pult. Es gibt keine Sitzplätze, nur eine Theke zum Stehen.

Ich war erst sehr skeptisch und beobachte diesen Laden weiterhin mit einer gewissen Verwunderung. Der Kaffee ist aber wirklich gut, es ist nur ein Block vom meinem Büro entfernt und als Treffpunkt für ein kurzes Gespräch draußen ist es ideal, insbesondere da ich ja pandemiebedingt kein indoor dining mache.

Jedenfalls, ich komme zum Punkt: ich war gestern das erste Mal seit etwa einem Monat wieder da (Urlaub etc.), und als ich die Tür aufmachte, ging ein großes Strahlen über das Gesicht eines der beiden Männer. Ich scheine also einen gewissen Stammgaststatus erreicht zu haben. Der junge Mann und ich hatten recht am Anfang meiner Besuche eine Interaktion, wo er mir versehentlich falsch rausgegeben hatte, nämlich 5€ zu wenig. Es war mir nicht aufgefallen, er hat mich darauf angesprochen. Ich habe den Schein dann wieder zu ihm rübergeschoben, was anscheinend nicht herablassend, sondern charmant rüberkam (und ja auch so gemeint war).

Viel mehr als das Trinkgeldthema frage ich mich aber, wie meine wechselnde Begleitung auf den Steward wirkt: ich bin dauernd in anderer Begleitung da. Am konstantesten mit Frau Novemberregen, ein paar Mal mit dem IT-Leiter, und ansonsten mit den verschiedensten Mitarbeiter:innen und gelegentlich mit Freundinnen.

Welchen Eindruck das wohl hinterlässt, wenn man den Hintergrund nicht kennt?

Ich bin neugierig, aber mir natürlich auch im Klaren, dass andere Leute gar nicht so viel über einen nachdenken, wie man manchmal meint.

Dinge ohne Ort

Frau N. hat heute wieder ein besonderes Getränk, und zwar brasilianische Passionsfrucht (mitgebracht von einem Bekannten direkt aus Brasilien), das sie sich mit Sekt aufgegossen hat. Sieht nicht appetitlich aus, schmeckt aber bestimmt gut.

Ansonsten hatte Frau N. heute ein Issue mit der Pünktlichkeit, obwohl wir unseren Termin bereits regulär eine Stunde nach hinten verschoben hatten und OBWOHL sie zuhause in (freiwilliger) Quarantäne sitzt und eigentlich gar nicht so viel anderes machen kann. Darüber hinaus bemängele ich noch ihr technisches Equipment, denn obwohl Frau N. einen Computer, einen Laptop, ein Tablet und einen Arbeitsrechner besitzt, nimmt sie an unserem Gespräch auf der schlechtesten aller technischen Ebenen teil, nämlich per Handy. Und ohne Kopfhörer. Und das in Pandemiemonat 26!

Ich seufze, und sie sagt: „was ist das für ein Geräusch?“, und wir kabbeln uns ein bisschen, wer von uns beiden für die Soundqualität verantwortlich ist.

Es ist schön, sie zu sehen. Und es geht allen einigermaßen gut, größtes Problem scheint die Langeweile zu sein.

Wir sprechen ein bisschen über die Reduzierung der Möglichkeiten in der Selbstisolation, und dass es auch etwas befreiendes hat. Erinnert mich an den Pandemiebeginn, als ich dachte, dass es ja auch mal ganz schön ist, so viel zuhause zu sein. Ich ging viel mit meiner Mutter spazieren, man war den Jahreszeiten näher, wir haben Rehe gesehen und Hasen und einmal sogar eine Natter, und kannten alle Vorgärten und Briefkästen in der Nachbarschaft.

Ich bin durch mit der Reduktion der Möglichkeiten und gehe demnächst wieder auf ein Konzert (mit Maske). Beim Ticketkauf habe ich mich sehr gefreut. Es hat mir gefehlt.

Ich arbeite normalerweise in den Büroräumen, heute aber nochmal Home Office. Ich habe es aus Gründen ruhig angehen lassen und zwischendurch immer mal wieder aufgeräumt. Nach nur sechs Jahren in dieser Wohnung ist bald alles an seinem Platz und ordentlich per Etikettiergerät beschriftet. Es war sehr zufriedenstellend.

Für ein bekanntes Organisationsproblem habe ich eine ungewöhnliche Lösung gefunden. Ganz okay, denke ich, solange die Kiste nicht zu groß wird.

Bubbles

Frau N. trinkt einen Bubble Tea und ich bin recht neidisch, denn ich habe noch nie Bubble Tea getrunken. Sie hat außerdem zwei Glückskekse, einen öffnet sie für mich und sagt:

„Das wird dir nicht gefallen“.

Sie hat Recht, denn der Glückskeksspruch lautet: „Change is coming.“

Change is never good, people say it is but it is not.

Ich zitiere das gerne, und es ist wahr und es ist falsch.

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Zwei Wochen im Mandatory Block Leave gewesen. Man würde vielleicht vermuten, dass ich im Urlaub schlecht abschalten kann, dass ich ständig Mails checke oder am Pool mit dem Büro telefoniere. Tatsächlich gelingt mir das Loslassen gut, ich ergebe mich dann in eine ce sera sera Haltung, und meine anderen Interessen übernehmen die Führung. Viel gelesen im Urlaub, das hat gut getan. Mir neulich ein Buch zum Thema Self Care gekauft, das ich noch nicht gelesen habe, denn eigentlich weiß ich ja, wie es geht.

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Noch ein Nachtrag zum Dienstleister, über den ich mich so geärgert hatte (Sie haben das alle bestimmt schon wieder vergessen). Ich bestellte ihn (also den Vertreter) am Freitag vor dem Urlaub ein. Ich war sehr ernst, und ich war sehr gut vorbereitet. Dem Unternehmen ist Schaden entstanden, habe ich gesagt, und dann ausgeführt. Und wie ich da mich so in meinem gerechten Zorn erging, eisgekühlt, passierte etwas Ungewöhnliches: der Dienstleister ertränkte mich in Freundlichkeit, ich wurde festgeklebt von Honig, ich wurde Golden Retriever-like umgeworfen. Keine Rechtfertigung, sondern volle Zustimmung bei allem: natürlich wolle man stets nur das Beste für das Unternehmen, es ist sozusagen eine Mission, stets den allerbesten Service, und die Dinge werden genauso gesehen wie ich sie sehe etc.

Muss man sich merken, so als Taktik im Köcher.

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Heute beim Nachhausefahren – es war noch hell – beobachtet, wie eine Frau mit ihrem Fahrrad gestürzt ist, an einem Fußgängerüberweg. Wobei ich den Sturz selbst nicht gesehen habe, erst ab der Sekunde danach: die Frau, die am Boden liegt, und dann ein Paar, das sofort hilft. Er sammelt die Trinkflasche ein, die langsam Richtung Deutsche Bank rollt, sie stellt die Yogamatte wieder in den Fahrradkorb, denn die Frau hat sich aufgerappelt, ist aufgestanden. Sie ziehen das Rad von der Straße auf dem Bürgersteig, erkundigen sich nach der gestürzten Frau, der es gut zu gehen scheint, ein Schreck nur, es ist ihr alles ein bisschen peinlich.

Meine Ampel wird grün, ich bin gerührt, und fahre weiter.

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Innerhalb von zwei Tagen sind die Kirschblüten aufgegangen. Wir sind gerade in dieser einen Woche, in der alles grün wird oder blüht, jeden Tag ein bisschen mehr, als ob jemand mit dem Pinsel über die Landschaft streicht. Ich mag es sehr, dem zuzusehen.

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Kein guter Blogeintrag, aber ein sehr schönes mäanderndes Gespräch mit Frau N. war das heute.

Papiernes

Gibt so ein paar Sachen, über die man zur Zeit schlecht Witze machen kann, Spritpreise zum Beispiel (abgenudelt), Weltfrieden (zu emotional) oder den dritten Weltkrieg (too soon).

Es ist brüchiger geworden alles, durchscheinend wie japanisches Papier. „Lohnt sich das jetzt noch?“ ist so eine Frage, die unter der Oberfläche von fast allem ruht. Keller aufräumen? Ja, denn die Illusion, Ordnung zu schaffen, tut mir gut. Dekovorhänge fürs Schlafzimmer? Ja, Nestbau. Bewusster essen für bessere Blutzuckerwerte oder Schokolade für die Seele? Schwierig.

Ich mache, was ich immer mache, ich gehe ins Büro, ich komme heim, ich räume die Spülmaschine aus- und wieder ein. Ich tanke und ich kaufe Klopapier und Nudeln, ich spreche mit Frau N. über Bargeldreserven und mit Lieblingstwitter über Kurbelradios. Es fühlt sich alltäglich an, ich lade Powerbanks auf und teste Batterien als Teil meiner Routine, so wie ich das Waschbecken putze und Handtücher wechsle.

Frau N. fragt mich, wie oft ich tanken muss. Ich erzähle, dass ich jetzt öfter tanke. „Wegen Flucht“, fragt sie, und ich denke, sie macht sich lustig, und vielleicht tut sie es auch, aber dann sagt sie: „es beruhigt mich zu wissen, dass du gut nach Hause kommst“.

Seufz.

Meinen Streit mit dem Empfangsdienst habe ich eskaliert, auch wenn Frau N. meint, dass es eigentlich nicht mein Niveau ist, und nichts zu gewinnen ist. Mir scheint es aber irgendwie sehr wichtig zu sein, ich habe nämlich Recht und ich möchte, dass das anerkannt wird, auch wenn ich vermute, dass es der anderen Seite an der Fähigkeit mangelt, dies grundsätzlich einzusehen. Vielleicht zeigt die Zeit, was mich da reitet, gerade.

Meinen eigener Aufstieg innerhalb der Organisation mag ich gerade nicht so richtig vorantreiben. Auch interessant.

Zerbrechliche Zeiten. Als ich noch jung war, und rome von Rounders etc, da fand ich Charles Bukowski toll, und mich selbst so richtig edgy, wenn ich ihn gelesen habe. Each man must realize that it can all disappear very quickly, an diese Zeile habe ich mich heute morgen erinnert. All our foundations – including love – rest on foundations of sand.

Was die Liebe angeht, stimme ich nicht mit ihm überein. Für mich schafft die Liebe eine Verbindung, die nicht schwindet, auch nicht, wenn die Lebenswege auseinander gehen. Auch nicht durch den Tod

Auch meine Liebe zur Welt hat Bestand.

hoch, runter

Ich sitze in der Küche von Novemberregen und blogge. Hatte heute sowohl meinen Geldbeutel (andere Tasche) als auch mein iPad (mit Tastatur), über das ich normalerweise blogge, wenn ich bei Frau N. bin, zuhause vergessen. Zum Glück hat sie mich zu einem Mezze-Teller und Schawarma eingeladen, und jetzt darf ich auf dem Endgerät eines Haushaltsmitglieds bloggen.

Ich werde selten so verwöhnt wie bei Frau N. Ich war seit Oktober nicht mehr bei ihr zuhause, wir haben uns nur draußen oder per Video gesehen.

Bisschen über meinen Streit mit einem Empfangsmitarbeiter gesprochen. Es stellt sich heraus, dass mein Ärger ganz berechtigt ist, und auch nicht. Es ist schlechte Dienstleistung, wirklich sehr schlechte Dienstleistung. Ich fühle mich darüber hinaus auch gemaßregelt, vorgeführt, geschulmeistert. Ich kann die mangelnde Dienstleistung addressieren, aber nicht meine Gefühle, die muss ich wegatmen, wieder mal, ganz professionell.

Frau N. lacht, nicht über mich, nicht mit mir. Über die Situation, über das absurde, über das Theaterstück, das andere aufführen und in dem man unvermittelt eine Rolle zu spielen hat, die man nicht wollte.

Ich will, dass einmal irgendetwas einfach einfach ist.

Vor ein paar Jahren habe ich Frau N. gefragt, was sie noch für Ziele hat. Ich hatte das Gefühl, selbst alles erreicht zu haben – wobei alles hier ein großes Wort ist – zumindest: einen Sättigungszustand erreicht zu haben: Job war gut, Freundschaften gut, Wohnung war gut, Geld war gut, jede Menge Reisen, ich war mit mir ganz zufrieden, und doch unzufrieden, denn: was nun? Was als nächstes? Frau N. hat damals zu mir gesagt, sie wünscht sich einfach, dass alles so bleibt wie es ist.

Dann kam die Pandemie, und jetzt der Krieg, und wir sind dabei, mehr zu verlieren, als wir uns je hätten vorstellen können.

Stellen Sie sich vor, was mir heute Abend passiert ist: ich gehe aus dem Büro raus, rufe den Aufzug, die Aufzugtür geht auf und ein junger Mann mit Maske ist gerade dabei sich den Pullover über das Hemd zu ziehen. Ich glaube, er hat kurz gequietscht, als die Tür aufgegangen ist, und mir einen Blick zugeworfen wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich habe dann höflich gefragt, ob ich zusteigen darf, wir haben beide ein bisschen gelacht, ich meinte, dass ich hoffe, dass er noch bekleidet ist, wenn wir unten ankommen, haha. Es war aber auch ein bisschen süß, ich habe mich beim Aussteigen bedankt, dass er mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hat.

Überhaupt, Aufzüge. Ich könnte lange über Aufzüge sprechen oder schreiben. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass zwischen der Aufzugtür und dem Boden ein schmaler Schlitz ist, der tückischerweise genau breit genug ist für ein Mobiltelefon oder eine Broschüre oder ein kleiner Dokumentenpack? Unter den Aufzügen gibt es eine Art von Käfig, in dem alles gesammelt wird, was da so unterfällt – oder zumindest die Splitter davon. Wer mal The time traveler’s wife gelesen hat, weiß, wovon ich spreche.

Ich denke da gelegentlich dran: einen Ort, an dem alles gesammelt wird, was wir je verloren haben, während wir hoch fahren oder runter, mitfahren oder aussteigen, aufbrechen oder ankommen.

Das klingt jetzt schon wieder so melancholisch, dabei geht es mir eigentlich ganz gut.

Scrabble

Seit Weihnachten spiele ich wieder Scrabble. in einer Online-Version, die anders heißt. Weil ich über die Feiertage viel und schnell spielen wollte, habe ich per „random opponent“-Spiele gestartet, oft mehrere parallel. Mit manchen Gegnern habe ich nur ein Spiel lang gespielt, mit anderen mehrere hintereinander, über Tage oder Wochen.

Es gibt Gegner, die unglaublich gut sind und Worte legen, die reine Scrabble-Worte sind, die man nie in der wirklichen Sprache verwenden würde, sondern nur bei dreifachem Wortwert. Es gibt Gegner, die – bewusst oder unbewusst – ziemlich gemein sind, die ihre Worte so legen, dass man nicht anlegen kann, oder der doppelte Wortwert unzugänglich gemacht wird, die ihren Ruhm auf fremden Federn aufbauen und lieber ein R für 14 Punkte anlegen als ein neues Wort für 12 Punkte zu legen.

Und es gibt Jennifer. Ich weiß nichts über Jennifer. Ihr Profilbild zeigt ein Naturfoto. Auf die eine oder andere Nachricht per Chat-Funktion hat sie nicht reagiert. Die Zahlen in ihrem Username könnten alles mögliche bedeuten. Es ist ein Name, wie man ihn den Kindern in der DDR gegeben hat, dann wäre sie jetzt Mitte 40, Anfang 50. Es könnte auch ein Name für ein Kind aus gutem Hause sein, wie Emil oder Charlotte oder Claus, ein wenig antik und jetzt wieder in Mode, in gewissen Kreisen.

Seit drei Monaten verbringe ich jeden Tag ein paar Minuten, manchmal auch deutlich mehr, in einem Spiel mit Jennifer. Ich habe neunzehn Mal gegen Jennifer gewonnen, und sie kein einziges Mal gegen mich.

Es ist mir erst spät aufgefallen. Ich wusste gar nicht, dass es da eine Funktion gibt, wo man das nachschauen kann. Ich habe dann angefangen, mir ein bisschen Gedanken um Jennifer zu machen. Hat sie vielleicht eine Einschränkung? Ist sie sehr jung, oder sehr alt? Hat sie viel Stress? Legt sie einfach keinen Wert auf Punkte? Hat sie ein kleines Kind, das nicht schläft, und dann spielt sie Scrabble mit einer Hand, die andere hält das Kind? Lernt sie gerade Deutsch – nein, so schlecht ist sie nun auch nicht.

Ich beschloss, Jennifer gewinnen zu lassen.

Es war gar nicht so einfach. Es war eine Herausforderung der anderen Art. Es hat ein bisschen Training gebraucht, eine innere Stimme, die sagt: erinnere dich, du wolltest doch gar nicht auf Maximum gehen, leg doch mal „MUS“ für 4 Punkte. Leg „EIN“ und lass sie „KEINER“ drauß machen, doppelter Wortwert. Bau ihr Brücken zu den guten Feldern, öffne das Spielfeld.

Es hat mir gut getan, das Spielfeld zu öffnen. Ich habe selbst wieder mehr Spaß am Spiel gefunden, ein Spiel, in dem ich viele Optionen habe, in denen die Kreativität kribbelt, ich lange und ausdrucksstarke Worte legen kann. JAHRE, HÜNEN, NIXE.

Es hat dann leider noch ein bisschen gedauert, bis ich das erste Mal verloren habe. Heute war es soweit. Ich habe mich sehr gefreut.

Jennifer auch, vielleicht. Wenn es ihr überhaupt etwas bedeutet.

Tonight the sky

Frau Novemberregen tippt und tippt, es hört sich an wie ein Maschinengewehr, oder eine Strickmaschine. Aber mir fällt nichts ein, oder zumindest nichts, was es mir wert erscheint, festzuhalten.

Angefangen, etwas über Geld zu schreiben, aber es ist mir zu trivial. Nicht, dass es bedeutungslos wäre, nein, auch nicht direkt langweilig. Aber es ist ein schreiben ohne Pointe.

Vor ein paar Tagen mal in einem anderen als den beiden von mir bevorzugten Supermärkten einkaufen gewesen. Der Supermarkt gehörte zu einem Ensemble von verschiedenen Märkten am Stadtrand. Weiß da jemand ein Wort dafür? „Einkaufs-Areal“ sagt Frau N.

Jedenfalls, der Supermarkt hat mir nicht gefallen, aber der Parkplatz. Das lag zum einen am Sonnenuntergang, zum anderen an meiner stillen Liebe für Nicht-Orte, ich schrieb hier schon einmal darüber. Ich ging über den Parkplatz, der Wind wehte mir durch den Mantel. Ich war unterwegs, aber ich musste nirgendwo hin, nirgendwo sein. Irgendwo sang eine Amsel, und von Hähnchengrill wehte ein Bratgeruch herbei. Der Mann vom Hähnchengrill sprach in einer seltsamen Sprache, es hätte georgisch sein können oder tunesisch. Ich spürte kurz einen Geschmack in meinem Mund, eine Lust auf das Leben, was man alles damit machen könnte, ich hatte Ideen und Pläne. Lebendigkeit.

Die Tage werden länger, und es wird heller.

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in Wellen

Bloggen mit Novemberregen, aber der Videocall geht nicht. Und das in Pandemiemonat 23! Ich rufe sie schließlich ganz oldschool an.

Es geht ihr nicht so gut. Wir suchen nach positiven und rutschen doch immer wieder ab ins fatalistische, resignierte, freudlose. Belangloses, Histörchen und Beliebigkeiten.

Mir ging es im Sommer schlechter als jetzt, ich war ein paar Wochen wirklich durchgehend schlecht gelaunt. Seit Mitte Dezember habe ich mich damit abgefunden, dass passieren wird, was gerade passiert. Ich hasse die Art, wie ich mich abfinden kann mit Dingen. Es ist keine gute Eigenschaft. Aber in diesem seltsamen Egalsein entfaltet sich bei mir eine Gemütlichkeit, ein für sich sein: auf dem Sofa sitzen, ein gutes Buch lesen, Schokolade dazu, aus dem Fenster gucken, TikTok.

Ich will Party machen und auf Konzerte gehen, sagt Novemberregen.

Ich bin nicht traurig darüber, dass es keinen großen Knall gab, kein Zusammebrechen der kritischen Infrastruktur, leere Supermärkte, fehlender Nahverkehr, keine Müllabfuhr – zu den Krankenhäusern will ich lieber nichts formulieren. Ich bin darüber nicht traurig, aber vielleicht hätte eine solche Eskalation wirklich dazu geführt, dass ich etwas ändert. Das viel beschworene Umdenken.

Stattdessen geht alles einfach immer so weiter, und die Leute positiv zur Arbeit, oder sie wissen es nicht, weil sie glauben, man dürfe sich nicht mehr PCR-testen. Hier und da schließt ein Kindergarten, ob in der Schule noch viel Unterricht stattfindet, scheint mir zweifelhaft. Wenig Berufsverkehr zur Zeit, ich komme gut durch.

Ob es jemals endet.

milder Verlauf

Ich konnte es bislang vermeiden, COVID zu bekommen, sagt der Kollege aus dem Königreich zu mir. Die Marker wandeln sich. Wir haben gar kein Wort für sie, die Nicht-Infizierten, die Noch-nicht-Infizierten. Sie sind bald in der Minderheit.

Ab März muss der Kollege wieder ins Büro, dreimal die Woche mindestens, die Abteilung teilt sich einen Raum. Es sind fünf oder sechs oder sieben. Am 27.01. wurden alle Schutzmaßnahmen landesweit fallen gelassen. Homeoffice wird nicht mehr verlangt, und Masken nur noch freundlich empfohlen, vielleicht in der Tube oder so.

Er geht davon aus, meint der Kollege, dass er sich dann in den nächsten Monaten anstecken wird. Vielleicht wird’s ja ein milder Verlauf.

Boris Johnson hat heute sorry gesagt, für die Parties während des Lockdowns. Die Supermarktregale wären aber wieder voller, erzählt der Kollege, trotz 19 Stunden Wartezeit in Dover für die Lastwagen.

Deutschland zählt die COVID-19-Infektionen noch weniger genau als bisher und testet weniger, berichte ich. Der Kollege meint, bei ihnen werden keine Reinfektionen mehr gezählt, sondern nur noch die erste Infektion. Auch eine Art, die Zahlen zu schönen.

Ich versuche zu recherchieren, wie oft man COVID bekommen kann. Es gibt einige, die Wildtyp oder Delta hatten, und jetzt Omicron trotz Impfung. Kann man mehrfach Omicron bekommen? Omicron und dann diese neue Subvariante, B.2?

Es ist zu deprimierend, darüber nachzudenken. Ich halte mich daran fest, dass es besser wird, wenn wir erst durch die Wand von Omicron durch sind, wenn es wieder wärmer wird, wenn sich der Virus totgelaufen hat, wenn der Omicron-Impfstoff da ist, oder wenn ich zum vierten Mal geimpft bin.

Ich habe eine andere Zeit im meinem Leben schon einmal mit solchen Durchhalteparolen durchgehalten. Es war keine gute Zeit, es hat mich viel gekostet, und es hat mich beschädigt.

Manchmal wundere ich mich ein bisschen, dass wir alle noch morgens aufstehen, uns anziehen, und Büro spielen. Es ist das oder durchdrehen, wahrscheinlich.

Absurd, das alles.