Manchmal fühle ich mich wie die Nutte eines paranoiden kolumbianischen Drogenbarons, nur ohne Koks. Ich muß absolut überzeugend Enthusiasmus faken, sonst werde ich abgeknallt.
letzte Male
Ich begleite ihn leise zur Tür, während die anderen konzentriert weiterarbeiten. Erst auf dem Gang fange ich an zu sprechen. „Ich will dir nicht auf den Sack gehen,“ sage ich, und meine, ein leichtes Lächeln ob dieser legeren Formulierung in seinem Gesicht zu sehen, „aber – was war los?“. Der Termin ist denkbar schlecht für ihn gelaufen.
Er spricht von der Zeit, und wie sie einem durch die Finger rinnt, immer zu wenig. Ich kenne das, und ich sehe es ihm an. Er sieht fertig aus, müde und überarbeitet, sein Teint gelbstichig, um seine Lippen klebt etwas weißes, das mich an Schlafspucke erinnert, aber wahrscheinlich Vaseline ist. Trotzdem ist es ein guter Moment, da im Gang. Er hält immer noch Distanz zu mir, steht so weit weg, daß ich ihn nicht berühren könnte, wenn ich die Hand ausstreckte. Aber sein Oberkörper biegt sich zu mir wie ein junger Baum, während seine Füßen fest verwurzelt sind. Er wirkt wie einer, der eins ist mit sich, auch in seiner Schwäche. Seine Stimme ist tief und kraftvoll.
Ich hatte mich innerlich darauf vorbereitet, ihn bei diesem Termin zum letzten Mal zu sehen, und war ganz darauf konzentriert, ihn loszulassen, keine Erwartungen mehr zu haben und ihn spüren zu lassen, daß ich ihm alles Gute wünsche. Vielleicht hat diese Grundhaltung dazu beigetragen, daß es eine schöne Begegnung war, harmonisch und entspannt. Sie hat mich nicht traurig gemacht, sondern happy, auch noch ein paar Tage danach.
Ich wünsche mir, daß ich diese Grundhaltung beibehalten kann: ihn mögen, wertschätzen, und gehen lassen: Karabinerhaken, die sich lösen. „Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen,“ ist sein letzter Satz. Er betont das „du“, weil ich es ihm noch einmal angeboten hatte. Ein schöner letzter Satz.
Es war nicht das letzte Mal.
hören
1. Ich gehe dann doch mal zum Arzt. Seit Freitag höre ich auf dem einen Ohr nichts mehr, es sabbert, ist geschwollen und wird nicht besser.
„Ich bin allergisch gegen Amoxicillin und Clindamycin“, sage ich zur Arzthelferin. Sie schreibt „Penicillin“ auf die Karteikarte. Nein, sage ich, und kläre sie auf, das das nicht das gleiche und schon gar nicht dasselbe ist. Sie schreibt die Namen widerwillig auf, es ist ihr nicht wichtig. Mir schon.
2. Ich habe 90 Sekunden mit dem Arzt. (Statements zum Zustand des deutschen Gesundheitssystems fügen Sie bitte eigenständig ein. Ruth meint, man solle froh sein, daß man überhaupt einen Arzt sieht – in Großbritannien, wo sie lebt, ist das wohl nicht so einfach.)
Ich habe also 90 Sekunden mit dem Arzt. Er schaut mir ins Ohr, spült es, schaut wieder rein, sagt Myringitis, und verschreibt mir Ohrentropfen. Ich sage zwischen jeden Schritt, insgesamt also drei Mal in 90 Sekunden, daß ich allergisch gegen Antibiotika bin und keine will. Die Ohrentropfen enthielten Alkohol, meint er, das entzieht den Bakterien das Wasser.
3. Ich gehe in die Apotheke gegenüber der Arztpraxis und löse das Rezept ein. Ich frage nach den arzneilich wirksamen Bestandteilen. Ciprofloxacin, ein Antibiotikum, sagt die Apothekerin.
4. Ein HNO-Arzt, der nicht zuhören kann, und eine Frau, die sich nicht durchsetzen kann. Witzig, lacht nur mal wieder keiner.
5. Ich hätte mich besser vorbereiten sollen, ein geeignetes Medikament recherchieren sollen und dann sagen: das will ich. Ich hätte mißtrauischer sein sollen, hätte den Arzt an seinem Ärmel festhalten und fragen sollen: was ist der Wirkstoff? Ich hätte mich in der Apotheke umdrehen und zurück in die Arztpraxis gehen sollen und sagen: das ist nicht richtig.
Härter werden, das nehme ich mir immer wieder vor, und scheitere.
6. Ich bin allein, denke ich, und tue mir ein wenig selbst leid. Wenn ich mich nicht für mich selbst einsetze, wer tut es dann? Und selbst ich laß mich manchmal im Stich.
7. „Ich kenne niemanden, der so wenig allein ist wie du“, sagt Ruth, und übertreibt ein wenig, und hat ein wenig Recht: die Lieblingskollegin hört mir zu, Twitter hört mir zu, die Fledermaus hört mir zu, Ruth hört mir zu, und allen bedeute ich etwas.
8. Clindamycin. Es fing mit kleinen Punkten im Dekolleté an, die sich zu Quaddeln ausbreiteten, überall – von Kopf bis Fuß, am Venushügel und hinter den Ohren. Meine Lippen waren geschwollen wie die von Daisy Duck, auch meine Augenlider. Dort, wo die Beine in den Rumpf übergingen, liefen die Quaddeln ineinander in eine einzige Schwellung. Ich lag ein paar Tage in meiner Wohnung, schwindelig und halb weggetreten, was das Erinnern nicht einfach macht. Ich weiß noch, daß ich nur liegend fernsehen konnte, keine Kraft und zu viele Schmerzen hatte, um mich aufzusetzen. In den letzten fünfzehn Jahren war ich nie so krank wie da.
Das ist die Geschichte, die der Arzt hören sollte. Ich sehe ein, das sie für ihn nicht interessant und auch nicht relevant ist.
Klare Sicht
„Hat sich in Ihrem Leben in letzter Zeit grundlegend etwas verändert?“, fragt mich die Optikerin. Ich sehe nämlich auf dem rechten Auge manchmal schlecht. „Nehmen Sie Medikamente?“ Sie schaut mich streng an. Eine Ursache kann sie nicht finden.
Nachts träume ich von Crush. Ich sehe sein Gesicht glasklar, sehe jedes Detail seiner Gesichtszüge. Ich erzähle ihm von meinem rechten Auge, was ihn in einem Exkurs über die Physiologie des Sehens ausbrechen läßt. Zuhören kann ich ihm nicht, obwohl ich es verzweifelt versuche, aber mein Chef braucht mich: dringende Probleme, die nur ich lösen kann.
Am nächsten Tag gehe ich an ihm vorbei, dem echten Crush, sein Gesicht wie in meiner Erinnerung, die Jacke schwarz und nicht mehr grau wie noch im Herbst, das Blau seines Pullovers wie Tinte auf Briefpapier. Wir schauen einander an, zehn Schritte lang, und grüßen uns mit einem kaum merklichen Nicken. In mir zerrt meine Sehnsucht wie ein Bullterrier an einer Leine aus Leder. Ich würde mich gerne zu ihm setzen, einen Moment nur, mich mit ihm unterhalten, ihm nah sein, aber es gibt keine Nähe zwischen uns, nicht einmal, wenn unsere Hände sich berühren.
Ich weiß nicht, was er in mir sieht. Autoritätsfigur? Schräge Exzentrikerin? Irrer Clown? Vielleicht weiß er es selbst nicht, und fühlt sich deshalb so unsicher mit mir, obwohl ich das nicht will. Und ich? Ich werde nie rausfinden, wie er mich sieht. Ich werde nie mein eigenes Bild von ihm korrigieren können. Wir werden einander nicht erkennen.
Es fällt mir schwer, diese Ungewißheit auszuhalten. Ich verstehe, daß Obsessionen wachsen können aus einem Samen einer solchen Ungewißheit. Stattdessen denke ich an Karabinerhaken, die ich löse, Bindfäden, die ich durchschneide: loslassen, gehen lassen.
Hoffentlich weiß ich das noch, wenn ich ihn morgen wieder sehe.
Komfortzone
Ich bin frei zu gehen. Die vergitterte Tür, gegen die ich mich so oft verzweifelt geworfen habe, steht offen. Ich bin frei zu gehen, und ich kann nicht.
Was hält mich? Gewohnheit. Bequemlichkeit. Mein etablierter Platz in der Hackordnung. Die Sicherheit, zu wissen, wie die Dinge ablaufen.
Was fürchte ich? Die Unbequemlichkeit, fremd zu sein, neue Bilder auszuhalten, die Fremde von mir haben. Wieder Lehrling sein..
Wer wachsen will, muß Lehrling sein das ganze Leben lang.
Es war einfacher, als ich noch mehr gelitten habe.
(ohne Titel)
Wo führen sie mich hin,
diese Aufzeichnungen, Geschichten,
Bruchstücke, Fragmente?
Nirgendwohin, nirgendwohin.
Komische Sache, dieses Leben.
Man versteht nicht, was das alles soll
und dann ist es vorbei.
Nachtrag
Das Haus ist verkauft. Ich laufe durch die leeren Räume und spüre… nicht viel. Es hat keine Signifikanz für mich. Zuhause ist anderswo: in meiner Erinnerung, in meinen Texten, auf den dunkelroten Kissen meines Bettes, im Nachmittagstee, den meine Mutter aufgießt.
Weihnachten 2008 habe ich hauptsächlich Bauschutt geräumt, mit dem mein Vater vor Jahren oder Jahrzehnten den Schuppen abgedichtet hatte. Ich bin jetzt stärker als er. Ich weiß nicht, was passiert ist, mit mir, mit uns, aber es war wirklich schön, dieses schräge Weihnachten. Es hilft, das ich über vieles hinwegblicken kann, weil ich – und das ist das wirklich überraschende – verwurzelter in mir selbst bin, souveräner.
Schade, daß meine Schwester, die auf die vierzig zugeht, innerlich ein Teenager zu sein scheint. Sie terrorisiert meine Eltern mit einem Brief voller Anschuldigungen nach fast einem Jahr trotzigem Schweigens.
Dabei ist die Zeit so knapp, die man noch gemeinsam hat: vielleicht noch zehn Jahre, eher keine zwanzig.
Als ich wegfahre, winken mir die beiden nach, und werden im Rückspiegel immer kleiner.
(ohne Titel)
Seit ich wieder mehr als vier Stunden die Nacht schlafe, kommen die Alpträume: ein vor Rechtschreibfehlern strotzender Brief, in dem steht: abgelehnt. Eine Korrektur in rot: inhaltlich eins minus; Form, Aufbau und Struktur: enttäuschend. Flugzeugabstürze, unsteuerbare Autos, in Wände rasend.
Es wird noch eine Weile dauern, bis selbst meine tieferen Schichten begriffen haben: es ist alles gut.
rot, gelb, grün
Ich sitze in meinem Auto, der Motor ist aus. Ich schaue der Ampel zu, wie sie die Farben wechselt, zu müde zum Aussteigen. Rot, gelb, grün. Gelb, rot.
Ich komme von einer Weihnachtsfeier. Weihnachtsfeiern sind grausam, aber mit den Jahren habe ich den Trick herausgefunden: emotionale Distanz, Unvoreingenommenheit und das Fehlen jeglicher Erwartungshaltung. Im letzten Monat habe ich so viel gearbeitet, daß es manchmal nur für vier Stunden Schlaf gereicht hat; ich habe für dieses Jahr noch 25 Urlaubstage und damit also gar keine Zeit gehabt, mir irgendwie Gedanken zu machen. Ich ging hin, und es war nett, es gab sogar einen schönen jungen Mann, der bei irgendeinem Partyspiel sehr lange und äußerst graziös um einen Tisch laufen mußte.
Für mich gibts keine schönen jungen Männer. Merkwürdig, daß meine Gedanken immer wieder darauf hinauslaufen, nicht? Immer wünsche ich, ein Mann würde mich bestätigen in meinem Frausein – wann werde ich’s lernen, daß es so nicht geht. Die Ampel schaltet: rot, gelb, grün, und es wird langsam kalt.
Heute war ein großer Tag. Still gehen sie vorbei, die großen Tage, und das grämt mich ein wenig. Wann wäre ein besserer Anlaß gewesen, mich zu feiern und zu beglückwünschen, ganz ohne Aufforderung? Ausgerechnet eine gute Freundin war heute still und beinahe schroff, hatte keinen Blick für mich bei Glühwein und Lebkuchen. Den Jubel der anderen, den wünsche ich mir aus Stolz und Eitelkeit, es bedeutet nichts. Bei ihr ist es anders. Ich spüre, daß ich in kleinen, aber meßbaren Schritten eine Grenze überschreite, einen neuen Lebensabschnitt beginne. Ich taste nach ihren Händen, aber sie sind nicht da, und ich frage mich, ob mich die Veränderung diese Freundschaft kosten wird. Und wieviel wohl noch.
Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während die Ampel schaltet: rot, gelb, grün. Ich bin zu müde, um auszusteigen. Manchmal tut sich ein Loch auf in mir, schwarz und an den Rändern gezackt, und ich fühle mich von allen verlassen. Sogar meiner Mutter grolle ich, weil sie mal wieder voll verpaßt hat, auf ihre Tochter stolz zu sein. Sie kann das einfach nicht. Backen kann sie auch nicht, sie ist einfach nicht diese Art von Mutter.
Es wird langsam kalt. Mein Atem macht kleine, weiße Wölkchen, und die Nacht ist getaucht in grün, gelb, rot. Ich habe einen Cheerleader. In der Stunde meiner Not war sie da, einfach so, unkompliziert, unprätentiös. Sie hat nicht gefragt, ob sie kommen soll, sondern wann ich sie abholen komme. Sie hat mich angefeuert und mir Mut gemacht und als ich beinahe nicht loslassen konnte, stand sie hinter mir und sagte: „diesen Satz noch. Dann ist Schluß.“ Sie hat Seiten gezählt und den Überblick und die Nerven behalten und mir beigestanden. Ich zähle die Tätigkeiten auf und kann doch nicht beschreiben, was sie für mich getan hat. Im Niemandsland, an der Grenze zwischen zwei Lebensabschnitten, war ich nicht allein.
Ich nehme meine Tasche, steige aus und lasse die Nacht hinter mir.
(ohne Titel)
Hast du Angst, ich könnte dich fressen?
Ich nehme an, du würdest herb schmecken.