Wurzeln (3)

Er liegt im Krankenhaus, die ganze Woche schon. Eine geplante Operation. Keine schwere, aber auch keine Kleinigkeit; Routine, aber nicht ohne Riskien. Sechshundert Kilometer zwischen uns; mir bleibt nur seine Stimme übers Telefon, ganz rauh vom Tubus, aber er ist guten Mutes, guter Dinge. Ich bin extra nicht zu ihm gefahren, aus einer komplizierten Logik heraus: man fährt nur zu seinem Vater, wenn es ein lebensbedrohlicher Eingriff ist, wenn man schweißgebadet im Warteraum sitzt und auf Nachricht wartet, wenn man noch einmal Abschied nehmen will. Ich aber bleibe in Berlin und gehe meinen Angelegenheiten nach wie an allen anderen Tagen auch, also wird ihm nichts passieren.
Ich hatte Angst um ihn.

Und bin doch unabhängig genug, um nicht zu ihm fahren zu müssen, um nicht eine gute Tochter sein zu müssen, um auf einer gewissen Distanz bleiben zu können. In diesem Raum, den diese Unabhängigkeit geschaffen hat, bleibt genug Platz, genug Zeit, ein Gefühl spüren zu dürfen. Das Gefühl, daß ich jetzt nirgendwo lieber wäre, als bei ihm. So suche ich eine Stunde lang auf der Seite der Deutschen Bahn nach einer bezahlbaren Verbindung, drucke mir ein Online-Ticket aus und werde morgen sieben Stunden im Zug sitzen. Ihn besuchen. Am Sonntag wieder zurück. Es gibt nichts, was ich lieber tun würde an diesem Wochenende.

Wie wir uns verpasst haben

Ich habe ihn sofort erkannt.
Ich gehe an ihm vorbei, checke die Lage, und als ich zurückkomme, spreche ich ihn an.
„Es würde jetzt wahrscheinlich blöd klingen, wenn ich sagen würde, wir haben uns schon einmal gesehen…“ Ich gehe davon aus, daß er nicht weiß, wer ich bin, nicht weiß, daß er mir aufgefallen ist, aber er sagt: „ja, wir haben uns bei der Lesung in der Laine-Art gesehen. Sie sind Frau Fragmente, und Sie haben über mich geschrieben.“
Erst sehr viel später werde ich realisieren, was für eine abgefahrene, seltsame, durchgedrehte Situation das ist. Daß er sich offensichtlich von jemanden hat zeigen lassen, wer die Frau Fragmente ist; denn allein von den Bildern kann er mich nicht erkannt haben; daß er mein Blog liest, daß ihn aber irgendetwas – es wird wohl nichts gutes gewesen sein – davon abgehalten hat, Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich hätte es also besser wissen müssen, so aber schlittern wir in den Smalltalk. Ich bemühe mich, charmant, geistreich und eloquent zu sein und merke dann, daß ich lediglich bemüht wirke; werde schüchtern, vergesse manche Worte. Wir reden übers Bloggen (worüber sonst?); er sagt, daß er nicht bloggt. „Dann haben Sie wohl nicht genug Leid erfahren?“, versuche ich einen Witz. Ob ich keine Freunde hätte, denen ich meines erzählen kann, fragt er. Und zwischen der verunglückten Kommunikation, den Vorbehalten und subtilen Beleidigungen blitzt doch für einen Moment ein interessanter Mann auf; ein genauer, kluger, stiller Beobachter. Ich liebe das Muster seines Anzuges.
„Die Lesung geht weiter“, sagt er, und ich verstehe: es ist Zeit, die Unterhaltung zu beenden.

Zuhause suche ich nach dem Text, in dem er auftaucht. In meiner Erinnerung habe ich ihn in einer Rezension der Lesung im Dezember erwähnt; aber ich schreibe nicht mehr über Lesungen, ich habe auch so schon genug Probleme. Stattdessen finde ich ihn hier: der Mann mit der rosafarbenen Zeitung. In dem Beitrag ist er eine Metapher für jemanden, dem man nicht nahe kommen kann; für eine verpasste Gelegenheit.
Ich glaube, ich hätte Dich gut leiden können. Und Du mich vielleicht auch, wenn nicht das Blog, wenn nicht meine komische Art, und überhaupt, die ganzen wenns. So bleibt mir nur, Dir alles Gute zu wünschen.

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Wurzeln (2)

Meine Schwester fasst mir ins Gesicht, streicht mir über die Wange, einfach so, als hätte es nie Streit gegeben, als hätte sie nicht die Grundfesten unserer Familie erschüttert mit ihrer Tobsucht, Unvernunft, Bockigkeit, als wären wir uns nah, als wüßte sie, wer ich bin, als hätte ich nicht die gute Tocher sein müssen, weil sie die schlechte war, als hätte ich mich nicht auf die Seite meiner Eltern stellen und darüber vergessen müssen, wo denn eigentlich meine eigene Seite ist. Schwester, Schwester. Du bist mir so fremd, fremder als eine Zufallsbekanntschaft, ich verstehe überhaupt nicht, wie du tickst, fühlst, funktionierst, denkst. Gerade eben habe ich Dias gefunden, ein kleines Viereck gegen das Licht gehalten, darauf du, vielleicht zehn, und ich, vielleicht drei, auf deinem Schoß sitzend, und du lachst und umarmst mich und hältst mich ganz fest. Du liebst mich. Du kennst mich nicht. Ich verstehe nicht, wie das zusammengeht, ich verstehe ja so viel an dir nicht, aber ich lerne gerade, es zu akzeptieren, wie es ist.

Wurzeln (1)

Wir nennen es “das Hungerloch”. Der Hang, den der Bach geschaffen hat, ist an dieser Stelle besonders steil und vermutlich nach Norden ausgerichtet, jedenfalls fällt kaum Sonne auf die Streuobstwiesen.
Als ich 6 war oder 8 oder 12, hat mir mein Vater auf meine Frage erklärt, der Name käme daher, weil früher die Leute von diesen Wiesen kaum haben leben können, immer Hunger hatten. Heute erzählt mir Google, das „Hunger“ in Ortsnamen für „unwirtlich, unfruchtbar“ steht. Beide Erklärungen führen zur gleichen Erkenntnis: es ist ein schlechter Ort, und ein ganz besonders schlechter Ort für ein Wochenendhäuschen, aber ausgerechnet hier steht eines. Dann hat dort auch noch vor Jahren jemand Tannen gepflanzt, die jetzt meterhoch wuchern und dunklen Schatten werfen. Mein Vater schiebt munter das rotweiße Absperrband zur Seite, ich erwarte, daß „Polizei“ aufgedruckt ist, aber es trägt nur den Namen einer Baufirma. In Schwaben ist man eben sparsam, wahrscheinlich braucht man auch nur selten so ein Absperrband. Am Gartentörchen ist ein Zettel in DinA4 in einer Klasichthülle mit einer Paketschnur befestigt: „Betreten der Brandstelle verboten – Gemeinde xxxdorf“. Vom Gartenhäuschen stehen nur noch verkohlte Reste. Auf den mit Grünspan überzogenen Steinplatten liegt eine vertrocknete Rose neben zwei verbrauchten Grablichtern. Als wir Grufites waren, fanden wir diese Grablichter sehr cool, in keiner der einschlägigen Kneipen und Clubs durften sie als Tischbeleuchtung fehlen. Neben der vertrockneten Rose steht ein vom Feuer deformierter Bierkasten, die Flaschen zerborsten. Ich stelle mir die Flammen vor, die enorme Hitze, die das Bier zum Kochen bringt, bis das Glas bricht.
In meiner Erinnerung stand das Häuschen so gut wie immer leer. Man sieht es der Wiese an, daß hier lange nicht gemäht wurde, den Bäumen, daß sie lange nicht ausgeschnitten wurden. Aber ein kleines Beet hat er kürzlich freigemacht. Der Mann hat das Grundstück vor ein paar Wochen gekauft, erzählt mein Vater. Am Wochenende war ein Fest in der Sporthalle, ich denke an Biertische und eine jener unsäglichen Coverbands. Endlich können sowohl der Mann als auch seine Freundin so viel trinken, wie sie mögen, sie haben ja jetzt das Wochenendhäuschen, müssen nicht mehr mit dem Auto über die Landstraße kurven. Sie bleiben bis zum Ende des Festes, übernachten im Wochenendhäuschen, es ist kalt, es ist erst März. Der Mann zündet einen Gasofen an, es kommt zur Explosion. Die Freundin kann sich retten, der Mann verbrennt. Die freiwillige Feuerwehr xxxdorf bleibt im Feldweg stecken. Als ich drei war, brannte der Bauernhof neben unserem Haus nieder. Gewitter, Blitzschlag, Hochsommer. Der Bach, der das Tal gemacht hat, führte kaum Wasser; die Freiwillige Feuerwehr xxxdorf mußte erst ins Nachbardorf fahren, um Löschwasser tanken zu können.
Mein Vater und ich verlassen das Grundstück, kehren wieder auf den Weg zurück, gehen weiter. Für einen Moment werden all die Male, die ich diesen Feldweg gegangen bin, sichtbar, überlagern sich – als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene, mein Vater in seinen Vierzigern, Fünfzigern, Sechzigern. Siebzig, jetzt, heute. Da ist keine Rührseligkeit von wegen „und irgendwann ist er dann nicht mehr da“. Wir gehen einfach den Weg.