auseinander ziehen

1) Ruth und ich haben uns wieder versöhnt. (Überlegen sogar, zusammen in den Urlaub zu fahren. Zwei alte Jungfern.)

2) Ruth hat mir von ihrem schwulen Kollegen erzählt. Der schwule Kollege ist 30 und arbeitet als Versicherungsvertreter. Er lebt mit seinem Mittzwanziger-Freund zusammen.

3) Der Mittzwanziger-Freund ist Student, musikalisch sehr begabt, lebenslustig und schmeißt jedes zweite Wochenende Parties. Das jeweils partyfreie Wochenende nutzt er dazu, in einer Behinderteneinrichtung auszuhelfen.

4) Der schwule Kollege und sein Freund ziehen jetzt auseinander.

5) Habe ich auch noch nie gehört. „Wir ziehen auseinander“. Der Student in eine WG, der schwule Kollege in eine 1-Zimmer-Wohnung.

6) Grund: der lebenslustige Mittzwanziger-Freund hat einen Putzfimmel.

7) Das finde ich persönlich jetzt nicht so schlimm.

8) Während eines zweistündigen Besuches von Ruth hat er dreimal die Küche nass gefeudelt.

9) Der schwule Kollege sagt manchmal, wenn er mit Ruth telefoniert, zu seinem Freund: „jetzt hör‘ doch mal auf zu saugen!“. (Staub).

10) Wo bleibt die Pointe? Es gibt keine Pointe. Ich finde nur, das ist eine traurig-melancholische Geschichte, die zu den anderen auf dieser Seite paßt. Ich würde dem schwulen Kollegen raten, mit seinem putzfimmelbehafteten, lebenslustigen Mittzwanziger-Freund zusammen wohnen zu bleiben. Man muß eben auch die negativen Seiten in Kauf nehmen.
Ich bin gegen Ratschläge, grundsätzlich.

(ohne Titel)

In ein paar Tagen treffen wir uns, und ich möchte Dir immerzu sagen, wie sehr ich mich darauf freue. Der Satz trägt bereits Gebrauchsspuren und fühlt sich dennoch neu an, wie etwas, das einem gerade erst klar geworden ist.
Am Samstag jedoch überkommt mich eine seltsame Angst. Ein Druck auf der Brust, die Kehle eng, die Welt verliert an Farbe. Plötzlich habe ich Angst, daß das alles doch nur ein cosmic joke ist. Nach hinten losgeht. Nichts wird, wie ich es mir wünsche.
Dann schreibe ich Dir eine SMS, in wenigen Minuten schon die beruhigende Antwort. Du bist da, du denkst an mich, wie ich an dich, und mir wird leicht.
Nur manchmal ergreift mich für einen Moment ein klammes Gefühl. Ich weiß, daß ich einen Preis bezahlen muß für die Zeit mit dir. Kennst Du dieses Gefühl, das man manchmal hat, wenn man an die noch ausstehende Kreditkartenabrechnung denkt? Man weiß nicht, wie hoch sie sein wird, aber man weiß, sie wird kommen.
Dann zucke ich mit den Schultern und denke: wenn ich eines gut kann, dann Enttäuschungen aushalten. Was mir schwer fällt, ist die Unsicherheit, die Unberechenbarkeit der Realität. Aber gerade das sollte ich mir zutrauen, denn gerade das wird mir gut tun. Mich mutig einzulassen auf jenes, was sich nicht berechnen läßt. Das Wasser wird mich tragen. Ich will dich spüren, überall.

mein Nachhilfeschüler

Mein Nachhilfeschüler hat neulich zu mir gesagt, er könne sich nichts schlimmeres vorstellen, als dick zu sein.
Ich rührte sprachlos in der Kaffeetasse, die mir seine Mutter jedes Mal bringt, zusammen mit ein paar Keksen aus einer Gebäckmischung, von denen ich ihm einen Moment zuvor noch einen angeboten hatte, weil er beklagt hatte, er habe Hunger und könne sich nicht konzentrieren. Den Keks hat er abgelehnt, denn Kekse machen dick, und dick könne er nicht gebrauchen, es gäbe schließlich nichts schlimmeres, als dick zu sein. Ich bin dick, also nahm ich mir noch einen Keks und sagte dann – pädagogisch wertvoll – daß Dicksein gar nicht so schlimm sei, und daß die Menschen ja auch sehr verschieden sind.
In der Woche bis zu unserer nächsten Nachhilfestunde habe ich viel gegrübelt. Was wollte mir mein Nachhilfeschüler damit sagen? Sehr viel oder gar nichts?
Mein Nachhilfeschüler – er ist gerade achtzehn geworden – hat einige sehr seltsame Ansichten. Mein Nachhilfeschüler lehnt zum Beispiel die farbliche Hervorhebung von Wörtern in einem Text ab. Ich fände es pädagogisch wertvoll, wenn er Dissimilation in rot und Assimilation in grün schreiben würde, aber er weigert sich, und zwar mit der Begründung, das wäre schwul. Schwul sein, Sie haben es sich vermutlich bereits gedacht, ist in seiner Gedankenwelt mindestens genauso schlimm wie dick sein.
Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht schlecht von meinem Nachhilfeschüler. Er ist eigentlich ziemlich süß. Er hat dunkle Haare, einen durchtrainierten Körper und spielt Basketball. Er sieht ein wenig aus wie Donnie Darko. Genauso wie Donnie zieht auch mein Nachhilfeschüler die Schultern hoch, wenn er unsicher ist.

donnie

Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich fühle mich angezogen von meinem Nachhilfeschüler. Jetzt, wo ich selbst eine Lehrerin bin, verstehe ich zum ersten Mal das erotische Verhältnis, daß zwischen Lehrer und Schüler bestehen kann.
Trotzdem bleibt es für mich eklig, eklig und falsch. Ich denke an meinen Englischlehrer, der meine Mitschülerin Katharina gefickt hat. Ich denke an diesen Professor, der die Abhängigkeit seiner chinesischen Austauschstudentin ausgenutzt hat. Es ist nicht richtig, es ist kein Verhältnis unter Ebenbürtigen.
Es täte mir also sehr leid, wenn sich mein Nachhilfeschüler von seiner dicken Nachhilfelehrerin angemacht gefühlt hätte. Wollte er mir das mit seinem Eingangs erwähntem Kommentar sagen? Er braucht sich keine Sorgen machen.
Ich hingegen machte mir Sorgen und starrte so manche Nacht mit offnen Augen in die Dunkelheit.
Es kommt die nächste Nachhilfestunde. Die ganze Zeit über ist mein Nachhilfeschüler hibbelig. Fünf Minuten vor Schluß möchte er gehen, ich hingegen würde lieber noch etwas länger machen, denn er kam ein paar Minuten zu spät. Schließlich sage ich: „nenn‘ mir einen guten Grund, dann lasse ich dich gehen.“

Seine dunklen Augen blitzen mich an, und er sagt:
„Gründe? Sie wollen Gründe? Hier sind meine Gründe: ich spiele Basketball, seit ich denken kann. Ich hab mir nie viel Mühe gegeben, habe immer allein Körbe geworfen, und als ich vierzehn war, war ich so gut, daß ich direkt in die Mannschaft gekommen bin. Dann habe ich mir den Knöchel verletzt, konnte nicht spielen und bin richtig dick geworden. Ich hab‘ ein dreiviertel Jahr gebraucht, um die zwanzig Kilos wieder runterzukriegen, es war die Hölle. Am Wochenende habe ich Probetraining mit der Mannschaft, heute habe ich neue Schuhe gekauft und die will ich jetzt ausprobieren. Sind das Gründe genug?“

Ich sage:“okay. Du kannst gehen.“

Ich sollte mich nicht immer so ernst, so wichtig nehmen, denke ich. Denn die Erwachsenen sind nur Kondensstreifen am Himmel der Jugendlichen. Das ist auch richtig so.

no beautiful loser

Ich hatte mich schon hingelegt. Bin dann doch wieder aufgestanden. Habe meine rote Stehlampe angeknipst. Bin zu meinem Schreibtisch gegangen. Habe aus der untersten Schublade ein Blatt Konzeptpapier genommen. Habe es in der Mitte gefaltet. (Ich mag A5). Habe mit dem erstbesten Stift die Worte darauf geschrieben, die aus meinem Kopf nach draußen wollten. (Es war ein roter Fasermarker). Habe das beschriebene, gefaltete Blatt vor dem Bett liegen lassen. Bin eingeschlafen. Bin am nächsten Morgen aufgestanden, habe das Blatt in meine Tasche gesteckt, um es auf der Arbeit in den Computer zu tippen und in mein Weblog zu stellen. Habe vergessen, es zu tun/ zu viel zu tun gehabt/ zu viele, die mir über die Schulter schauen/ nicht die richtige Atmosphäre. Habe erst eine Woche später wieder an das Blatt gedacht. Konnte es nicht mehr finden.
Ich konnte es einfach nicht mehr finden.

Und seitdem, so scheint mir, habe ich auch das verloren, was es braucht, um zu schreiben.
Die Geschichten werden nicht weniger, aber sie wollen sich nicht mehr aufschreiben lassen.

Vielleicht haben sie Angst, daß sie verloren gehen.