Meine Mutter sagt.

Meine Mutter sagt, meine Schwester hätte gerne mehr Kontakt mit mir. Sie, die Schwester, wisse aber, daß das nicht leicht sei, „wegen den Dingen, die in der Vergangenheit vorgefallen sind“.
„Sie gibt mir Ratschläge“, erzähle ich meiner Mutter, und damit erzähle ich ihr nichts neues. Ich muß auch nicht ausführen, daß mich zusätzlich zu meiner Grundabneigung gegen Ratschläge im Allgemeinen im Falle meiner Schwester auch noch besonders stört, daß sie, die Schwester, fast nichts von mir weiß, sich aber trotzdem anmaßt, mir Ratschläge zu geben. Ganz abgesehen davon, daß das Leben meiner Schwester nicht gerade mustergültig verlaufen ist. (Ich gebe ihr übrigens keine Ratschläge). Manchmal möchte ich meiner Schwester gerne etwas erzählen, einfach narrativ etwas wiedergeben, hör mir doch einfach mal zu, dann lernst du mich vielleicht kennen. Ungefähr bei Satz 3 haut sie dann einen Ratschlag raus und ich schäume sofort vor Wut.
„Ich weiß“, sagt meine Mutter, die ihrerseits die große Kunst besitzt, Ratschläge in Seide einzupacken, mit Bonbonmasse zu umhüllen, und die Geduld, zu warten, bis man sie darum bittet. „Ich weiß“, sagt sie, „ich stand daneben und habe gesehen, wie sie dir Ratschläge gibt, wie sie es macht, wie sie dich dadurch klein macht, und ich, also ich würde mich auch aufregen.“ Mir wird warm ums Herz, als ich das höre, ich fühle mich verstanden.
„Weißt du“, sagt meine Mutter, „ich glaube aber, sie meint das gar nicht so. Sie will dir helfen, dich beschützen, und in ihrem Übereifer merkt sie nicht, daß dies der falsche Weg ist. Hast du ihr denn schon mal gesagt, wie sehr es dich stört?“

Ich denke nach, und kann mich nicht erinnern. Doch so wie ich mich kenne… oder doch nicht? Egal. Beim nächsten Mal sag ich es ihr. Freundlich, ohne Streit. Es rührt mich nämlich, es berührt mich, es verwundert mich, daß sie, meine Schwester, mir nah sein will. Und es freut mich.

(ohne Titel)

Meine Mutter schneidet mir die Haare. Sie findet meine Frisur doof, „du siehst aus wie siebzehn“, sagt sie. „Was ist daran schlimm?“, frage ich, und erkläre, daß es sich um eine Nicht-Frisur handelt, ein Statement, die Haare lang und glatt, erwähne, daß ich hin und wieder dafür Komplimente bekomme. Meine Mutter zieht die Augenbraue hoch.
Wir einigen uns, daß wenigstens die ausgefransten Spitzen zu einer geraden Kante geschnitten werden könnten. Mit einer Papierschere steht sie hinter meinem Rücken im Bad; wir besprechen, wieviel sie abschneiden soll. Dann gibt es kein Zurück, und ich habe Angst, Angst, wie beim Zahnarzt oder vor einer Operation und finde mich selbst ein wenig doof.
Zehn Sekunden später ist meine Mutter fertig. Es ist wunderschön geworden, ganz gerade und ordentlich, nicht zu viel, nicht zu wenig.

Das Verhältnis zu meinen Eltern ist sehr viel besser geworden. Wir alle haben hart daran gearbeitet.
Als sie wieder fahren, bleibe ich dennoch mit einem komisches Gefühl zurück: als wäre ich noch nicht erwachsen genug.
Das also ist meine Aufgabe.

Schreibblockade

Setzt dich an den Tisch, denke ich, rede mit dir selbst und schreib darüber.
Steh auf, leg deine Hand auf das Buch und schreib darüber.
Leg dich hin, leg deine Hand auf die Schürfwunde und schreib darüber.
Nimm einen Spiegel, schau hinein und schreib darüber.
Geh‘ durch die Stadt, öffne die Augen und schreib darüber.
Blicke an die Decke, spür in dich hinein und schreib darüber.
Nimm einen Spaten, grab in der Erinnerung und schreib darüber.
Schlaf ein, träume irgendwas und schreib darüber.

Die Worte müssen von selbst kommen, aus dir heraus auf die Tastatur fließen. Du hast was zu sagen und kriegst es nicht raus. Laß es drin und warte. Lock es hervor mit Tinte und mit Moleskine. Quäl dich nicht.

(ohne Titel)

Als ob ich eine große, frische Schürfwunde habe, die sich blutig unter meiner Kleidung versteckt, so fühle ich mich heute.
Und ein Bild ist es, an das ich oft denken muß: wie ich beim Cure-Konzert in der Wuhlheide meine Gruppe von Freunden in der Masse von 10 000 Leuten verloren habe. Wie ich mir, als ich sah, daß es aussichtslos ist, eine köstliche Crêpe gekauft habe. Wie ich mich dann an den obersten und äußersten Rand der Zuschauertribüne gesetzt habe, wo so wenig Leute waren, daß ich beinahe alleine war. Wie ich dort saß, mich gut fühlte und ich seitlich auf die Bühne blickte, wo gerade The Cranes als Vorgruppe spielten. Wie ich an der Seite der Bühne dann Robert Smith stehen sah, The Cranes zuhörend, unter einem blauen Zeltdach, das nur von meiner Position aus einsehbar war. Seinen Oberkörper, das quadratische Verhältnis von Hüfte zu Schulter, den rechten Arm rechtwinklig abgebogen, ein Getränk auf Höhe des Solarplexus haltend. Wie ich da saß und mich freute, über diesen kleinen, feinen Moment, fernab der Menge.
Manchmal braucht man eine Distanz, um sich überraschend nah sein zu können, denke ich, und versuche, mich zu trösten.

[Setlist bei Chain Of Flowers. Craig, der die Seite betreut und eine anerkannte Größe in der Cure-Gemeinde ist, kommt/ kam übrigens aus New Orleans]

am Nachmittag.

Am nächsten Tag stehen die Meghars vor meiner Wohnungstür und wollen wissen, was in der Nacht passiert ist. Ich hatte schon damit gerechnet und lade sie zu Kaffee und Kuchen ein, denn ich brauche Verbündete.

Einen Bäckereibesuch später sitze ich im Meghar’schen Wohnzimmer und erfahre hilfreiches. Die Frau mit dem Hang zu lauter, nächtlicher Musik – nennen wir sie: Frau Berger – ist kein unbeschriebenes Blatt. Mit Gisela gab es Streit und böse Briefe, bis Gisela Frau Berger eines Tages androhte, ihr die Fresse zu polieren. Ein Vorgehen, das Gisela als erfolgreich preist und auch mir ans Herz legt. (Ich zweifle, ob es für mich das richtige ist…) Eine Nachbarin im dritten Stock hat ihren Fußabstreifer am Boden festgeschraubt, der Grund: Frau Berger und des Fußabstreifers Reisen in die Mülltonne. Frau Berger, so wird mir erzählt, ist arbeitslos oder arbeitsunfähig, verwitwet und trinkt viel.
Ich fühle mich nicht mehr ganz so schuldig ob meines harten Durchgreifens und hoffe, daß die Fronten zwischen mir und Frau Berger nun geklärt sind.

Später sitze ich mit Herr Meghar in der Küche und er zeigt mir, wie er Tee kocht. Arabisch, sehr süß, etwas bitter, mit Pfefferminze. Dann flüstert er mir zu, ob er nach Schnaps rieche. Ich verneine. Er fragt mich, ob ich mich mal mit ihm betrinken würde. Innerlich muß ich lächeln. Noch nie hat mich jemand sowas gefragt. Äußerlich bleibe ich ernst und verweise auf Tee. Ich habe nämlich ein wenig das Gefühl, daß sich Herr Meghar auf mehr als nur nachbarschaftliche Weise zu mir hingezogen fühlt. Er faßt mich gerne an – am Arm oder auch schon mal am Nacken – und schenkt mir gerne Sachen bis zu einem Punkt, an dem es mir beinahe peinlich ist („ob ich nicht mal mit ihm nach Algerien fahren möchte?“). Herr Meghar ist Mitte 60.
„Wie geht es Ihren Kindern“, frage ich ihn und erfahre, daß er einen Sohn und eine Tochter hat, beide in den Dreißigern. Sie tragen ihm nach, daß er sich von der Mutter hat scheiden lassen, zwanzig Jahre ist das her. Mit seinem Sohn hat er Kontakt (aber nur, wenn er, der Sohn, dazu Lust hat), aber mit der Tochter gar nicht mehr, obwohl sie ganz in der Nähe wohnt. Ich frage mich, ob er eine Art von Tochter in mir sieht. Das wäre mir lieber, als die Alternative.

Es gefällt mir bei Meghars, ich mag sie. Ich fühle mich wohl in ihrem Wohnzimmer. Im Hintergrund versucht Barbara Salesch die Wahrheit herauszufinden, Gisela gibt einen Löffel Schlagsahne auf den Pflaumenkuchen und dann kommt die Frage, die mir immer gestellt wird, wenn ich neue Leute kennenlerne: ob ich einen Freund habe?
Ich weiß nicht so recht, was ich darauf antworten soll. „Nein“, spricht mein Mund, und innen drin denke ich: er entgleitet mir.

des nachts.

In meinen Traum hinein schwappt die Musik wie eine Welle, nicht unangenehm zuerst, doch dann merke ich, daß ich sie nicht leiser stellen kann, und wache langsam auf. In der Wohnung unter mir singt Tracy Chapman, das ist besser als die letzten drei Mal, da war es Nena oder billiger Diskokram. Ich schaue auf die Uhr, es ist halb eins. Ich habe etwa eine Stunde geschlafen.
Ich warte fünf Minuten, freue mich, als es still wird, aber es ist nur die Pause zwischen zwei Songs. Ich stehe auf und esse einen Cracker, ziehe mir eine Schlafanzughose an und warte noch ein bisschen. Dann gehe ich runter, klingele und bitte darum, daß die Musik leiser gestellt wird. Die letzten drei Mal hat die Frau genickt und ja gesagt und dann war Ruhe.
Dieses Mal sagt sie mir, daß ihr Balkon immer nass würde, wenn ich die Blumen gieße, und dann auch noch so spät abends! Ich solle doch die Blumen zu einer anständigen Zeit gießen!
„Und das ist jetzt die Rache?“, frage ich, „daß Sie mich um halb eins wecken? Ich war schon drei Mal hier wegen der lauten Musik, und Sie schaffen es nicht, zu mir hoch zu kommen und mir das mit den Blumen zu sagen?“. Ich bin ziemlich perplex und bitte nochmals darum, daß die Musik leiser gestellt wird. Ansonsten, sage ich, muß die Polizei kommen. Die Frau sagt, sie ruft das Ordnungsamt und stellt mir die Granitplatten des Balkons in Rechnung.
Ich gehe hoch in meine Wohnung und lege mich ins Bett. Erst ist es still, dann setzt die Musik wieder ein. Ich hadere mit mir.
Dann rufe ich die Polizei.
Etwa zwanzig Minuten später sind sie da, stehen unten, weil die Haustür abgeschlossen ist, ich laufe vier Stockwerke runter und lasse sie rein. Ich zeige Ihnen die Wohnungstür der Frau. Die Polizisten sagen, ich soll nicht/ muß nicht dabei sein. Ich gehe wieder in meine eigene Wohnung. Als ich merke, daß die Polizisten gegangen sind, lege ich mich wieder ins Bett.
Fünf Minuten später klingelt es an meiner Wohnungstür. Ich stehe auf, meine Knochen sind schwer. Halbherzig hoffe ich auf eine Entschuldigung. Als ich die Tür öffne, redet die Frau erstmal einen ganzen Absatz lang, und mir wird klar: dies wird kein Dialog. Sie sagt: „Sie haben mir die Polizei auf den Hals gehetzt! In den 11 Jahren, die ich hier wohne, ist mir das noch nicht passiert! [Ab hier muß man hinter jeden Satz ein dreifaches Ausrufezeichen setzten.] Warten Sie erstmal, bis die Griechen Party machen!!! Und warten Sie, bis Sie einmal Party machen!!! [äh, denke ich, mache ich eigentlich nie.] Ich bin krank!!! [tolle Antwort, die mir leider erst heute früh eingefallen ist: dann gehen Sie doch mal früh ins Bett! Der Süße sagt, ich soll nicht immer so schnippisch sein.] Ich muß ins Krankenhaus!!! Ich kriege ein künstliches Hüftgelenk!!!“
Sie ist ziemlich aufgelöst und weint. Ich frage, ob Sie bereit ist, auch mir zuzuhören, und zähle nochmals auf: daß es schon mehrmals das Problem mit der lauten Musik gab. Daß ich, als ich heute mit ihr geredet habe, nicht das Gefühl hatte, daß sie mich respektiert. Daß ich von der Sache mit dem Blumengießen heute zum ersten Mal gehört habe…
Dann merke ich, daß es sinnlos ist. Sie betitelt mich noch mit ein paar Schimpfwörtern und geht langsam die Treppe wieder hinunter.

Ich lege mich wieder ins Bett und liege noch eine Weile wach. Ich fühle mich nicht so gut. Ich spüre, daß dies der Anfang von etwas Ungutem ist.

Erst jetzt, als ich diesen Text tippe, als ich ein paar Stunden geschlafen habe, weiß ich, daß ich diesen Konflikt anders hätte lösen sollen. Rhetorisch geschickter, weniger auf meine eigene Kränkung bedacht, weniger emotional. Nur: es fehlt die Kraft. Ich kann nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen.

Diese Schlacht habe ich verloren.

(ohne Titel)

Ich stehe im Badezimmer eines Hotels. Ich bin nicht zum Spaß hier.
Ich erhasche einen jener Blicke auf mich selbst, die man nur in Hotelzimmern bekommen kann oder tief in der Nacht, wenn man sich selbst als Fremde begegnet.
Ich sehe eine müde, abgearbeitete Frau, die Schultern nach vorne gesunken. Schatten unter den Augen, das Fleisch aufgequollen, die Haare stumpf. Kein Glanz, kein Funkeln, nirgendwo.

Ich bin nicht mehr jung.

Ich sollte mal wieder über mein Leben nachdenken, und was ich damit machen will, denke ich, und lege mich zwischen die gestärkte Mietbettwäsche.

Lindas Ex: Vernissage heute, Sanatorium 23

Lindas Ex heißt Roland Brückner und stellt seine Bilder heute im Sanatorium 23, Frankfurter Allee 23, Berlin aus (siehe Kommentar).
Ich kann leider nicht kommen, denn: ich wohne nicht mehr in Berlin. Ich hätte so gerne gewußt, wer hinter Robot steckt, aber wie immer bin ich zu spät… Also: Gehen Sie hin, lieber Leser! Berichten Sie davon! Lassen Sie sich das nicht entgehen.

Hier noch einen alten Zeitungsbericht über Lindas Ex/ Robot:
Der öffentliche Phantomschmerz.

Lesung in Neuss

unscharf1

Ein schöner Abend. Viel food for thought. Und daß Modeste den Text über das Hamsters Tod gelesen hat, habe ich ihr verziehen. Daß mich der anschließende Umtrunk um wertvollen Schlaf gebracht hat, nun gut, das auch.

Ansonsten stecke ich gerade in beruflichen Schwierigkeiten, ziemlich dramatisch. Die Geschichten, die ich zu erzählen habe, müssen warten.