Spachtelmasse

In der Blogosphäre ist es ja so: wenn man sich nicht leiden kann, dann ignoriert man sich. Alles andere ist vulgär. Ich möchte mit dieser Tradition kurz brechen, um zu erwähnen, daß Don Dahlmann sein Blog schließt. Das gibt mir die Möglichkeit, in ungefähr fünf Jahren in anonymisierter Form über meine persönliche Begegnung mit ihm zu bloggen, ohne Repressionen fürchten zu müssen. Noch cooler wäre es natürlich, wenn ich das in fünf Jahren nicht mehr nötig hätte, sondern souverän über den Dingen stehen würde. Mal sehen.

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Auf dem Heimweg nach einem schönen Abend mit einer Freundin eine Grille zirpen gehört, in der Stille zwischen zwei Autos. Kurz von Glück durchflutet gewesen, dieses Gefühl, daß mein Leben wirklich, wirklich gut ist. Es hält nur einen Moment, dieses Gefühl, aber immerhin.

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Dann plagen einen wieder ganz alltägliche Sorgen: die Zähne! Weil ich in der Zwei-Klassen-Medizin in der schlechteren der beiden Klassen bin, wurden meine Zähne in den letzten Jahren mit Kunststoff gefüllt, der genau zwei Jahre hält und dann rausbröckelt. Es wird gebohrt, der Zahn wird kleiner, es kommt wieder Kunststoff rein, usw. Leider handelt es sich dabei um eine abwärtsgerichtete Spirale, das Ende ist erreicht, wenn man irgendwann nicht mehr genügend Zahnsubstanz hat. Dann heißt es entweder, als fette Version von Amy Winehouse durchs Leben gehen, oder den blutigen Weg von Herrn Kid beschreiten. Ich wollte dem vorab einen Riegel vorschieben, indem ich mich mit qualitativ hochwertigen Kronen und Inlays versorgen lasse, die ich selbst bezahle, die dann aber auch zwanzig Jahre halten.
Ums kurz zu machen: eine Krone oben, eine Teilkrone oben, drei Inlays unten – Selbstkostenbeitrag 2000 Euro.
So, und jetzt kommt das Dilemma: ich kann das nicht bezahlen, denn das wären zwei Nettogehälter. Folgende Optionen stehen mir offen:

a) nochmal einen Zyklus mit Kunststoff einlegen, gar nichts bezahlen.
b) die dringensten Zähne machen lassen: eine Teilkrone und ein Inlay.
c) Zweitmeinung einholen.
d) die Eltern anpumpen.

d) wäre am einfachsten und am schwierigsten zugleich. Neulich ging mein Laptop kaputt (Riss im Motherboard, wens interessiert), und meine Mutter fragte gleich: „sollen wir Dir einen neuen kaufen?“. Ich wollte das nicht. Zum einen finde ich, daß ich als Erwachsene für mich selbst sorgen will und kann, und zum anderen trägt es nicht zur Verbesserung unseres Verhältnisses bei, wenn ich weiterhin materiell von meinen Eltern abhängig bin.

Was meine Zähne angeht, wäre ich geneigt, einen Rat anzunehmen. Haben Sie einen?

Frau F. und die Loveparade

2000: im April zieht Frau F. von einer nordbayrischen Universitätsstadt nach Berlin (wir berichteten). Sie bezieht ein WG-Zimmer in einer schnuckligen Wohnung in der Argentinischen Allee, Zehlendorf. Während der Loveparade bereitet sie sich intensiv auf eine Prüfung in Organischer Chemie vor (Karteikärtchen schreiben etc.). Von irgendwo draußen dringt wumm wumm wumm aus einem geparkten Auto an ihren Schreibtisch. Daraufhin erinnert sich Frau F., daß ja heute Loveparade ist, und guckt sich das Ganze zehn Minuten auf TV Berlin an. Es langweilt sie. Dann lernt sie entweder weiter oder gibt sich der Prokrastination hin. Durch die Prüfung wird sie übrigens durchfallen.

2001:
Frau F. wohnt zusammen mit einer netten Achtzehnjährigen in einer schönen Wohnung in Schöneberg und hat doch noch ihren Schein in Organischer Chemie gemacht. Freitag abends geht sie immer aus. In den frühen Morgenstunden fährt sie über den großen Stern nach Hause. Die Straßen sind leer, die Ampel ist rot. Das Auto neben ihr, aus dem Technomusik dröhnt, fährt über die rote Ampel und gleich darauf bei einem U-Turn über eine zweite rote Ampel. Berlinern ist bekannt, daß die Ampeln am großen Stern mit fest installierten Ampelnblitzern ausgestattet sind. Den Personen in dem Auto (auswärtiges Kennzeichen) leider nicht – sie werden zweimal geblitzt. Auch viele Jahre später und mit einer gewissen Schadenfreude wird sich Frau F. an den Gesichtsausdruck des Fahrers erinnern.

2002: am Wochenende der Love Parade ist Frau F. mit drei weiteren Curefans unterwegs: am Samstag auf dem Zillo Festival in Frankfurt/Hahn, am Sonntag auf dem Woodstage Festival in Glauchau. Auf dem Rückweg nach Berlin verlangen ihre Weggefährten nach eine Rast bei einer bekannten Fast-Food-Kette. Als sie wieder auf die Autobahn fahren, überholen sie einen alten VW Bus, auf dem in großen Lettern „Loveparade“ steht. Frau F. wundert sich kurz, warum der VW-Bus erst jetzt nach Berlin fährt? Die Loveparade war doch gestern? Da fällt Frau F. auf, daß sie versehentlich die falsche Auffahrt benutzt hat: sie ist nicht nach Berlin, sondern in die Gegenrichtung unterwegs. Frau F. dankt still dem beschrifteten VW-Bus für diesen Hinweis.

2003: Frau F. geht aus, in den Lime Club in den S-Bahn-Bögen nahe dem Alexanderplatz. Der Lime Club ist ein gruftiges, gemütliches Wohnzimmer. In der Ecke sitzt ein junger, muskulöser Mann. Er trägt einen Pulli aus schwerem Strick – das ist gerade in bei den Ravern – und eine Sonnenbrille. Im Lime Club ist es dunkel und sehr warm. Frau F. stellt fest, daß es wenig erbärmlicheres gibt als einen hippen (Spät)jugendlichen, der von seiner peer group getrennt ist. Anscheinend hat sich der junge Mann im Club geirrt, in den S-Bahn-Bögen gibt es mehrere. So richtig leid tut er ihr aber nicht.

2004 – bis 2005: die Loveparade fällt aus.

2006: Frau F. und die Loveparade verbringen das Wochenende getrennt: die Loveparade in Berlin, während Frau F. bereits ein Jahr im Ruhrgebiet wohnt. Abends geht Frau F. zu einem Bloggertreffen nach Duisburg.

2007: die Loveparade verfolgt Frau F. Am Freitag arbeitet Frau F. bis 19 Uhr und hofft, nicht so sehr von den Straßensperren betroffen zu sein. Den Samstag wird Frau F., wie gewohnt, geschätzt und gewollt, in Ruhe zuhause verbringen: ungeduscht, in Schlabberklamotten und ohne Büstenhalter. Sie wird lange schlafen, ein gutes Buch lesen und sich die Loveparade zehn Minuten im Fernsehen anschauen. Dann wird es sie langweilen.

der Wunsch im Wandel der Zeit

Mit dem Ausgehen war das so eine Sache. Meine Eltern sind alternativ angehauchte Intellektuelle, die sich ihren Traum von einem Haus im Grünen erfüllt hatten. Für mich bedeutete das, daß ich idyllisch aufgewachsen bin, den ab dem Alter von sechzehn eintretenden Wunsch nach Nachtleben jedoch nur schwer erfüllen konnte.
Mein Elternhaus steht am Rande eines 50-Seelen-Dorfes. Die Schulstadt, zehn Kilometer entfernt, hatte immerhin ein Jugendzentrum, wo ich öfters Dorfpunk (=niemand beherrscht sein Instrument) ertragen habe. Ansonsten war ich ein paar Mal auf irgendwelchen Faschings- oder Silversterparties in Mehrzweckhallen oder – typisch schwäbisch – in einer Kelter. In der Nähe meiner Freundin Anna gab es eine Großraumdisko, an einer Autobahnausfahrt und Bundesstraße gelegen, im Gewerbegebiet. Sie spielten die Charts und machten Tequilaparties. Ich war zweimal da. Damals war ich noch mehr ein Musiknazi als heute, ich wußte ja auch nicht, daß die Musik der Neunziger verglichen mit der Musik der Nuller Jahre gar nicht mal so schlimm war. Gabs damals eigentlich schon Scooter?
Die Stadt, die noch viel größer war als meine Schulstadt, hatte immerhin eine Disco, die Nirvana spielte, Alice In Chains, The Offspring. Dorthin zu kommen, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit: man mußte jemand finden, der einen fährt, der lieber Alice in Chains als Scooter hört und bei dem ich übernachten konnte.
Immerhin schaffte ich es mit der Hilfe meines schwulen Schulfreundes Oliver, der zwischen mittlerer Reife und Abitur eine Ausbildung gemacht hatte, daher älter als wir war und nicht nur den Führerschein, sondern auch ein Auto (!) hatte, sogar einmal in eine akzeptable Disco in Stuttgart.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, noch nichts erlebt zu haben, und ich hoffte, mit dem Studium, einem Führerschein, einem Auto und einer eigenen Wohnung würde sich das ändern. Leider hatte ich mir eine kleine Stadt in Nordbayern ausgesucht und ging am Ende weniger aus als vorher. Ich hatte Schwierigkeiten, Freunde zu finden, was einerseits mit meiner Persönlichkeit zusammenhängen mag, andererseits auch damit, daß die meisten meiner Kommilitonen am Wochenende – gerne schon ab Donnerstag – nach Hause fuhren. Entweder nach München, wo sie bis in den frühen Morgen auf Raves gingen, oder nach Cham und Deggendorf, wo sie ihre getunten Golfs vor der Großraumdisko parkten. Montagmorgens saß der junge Mann, in den ich unglücklich verliebt war, neben mir in der Vorlesung Anorganische Chemie und erzählte mir mit schwarzen Schatten unter den Augen von der Party in einem stillgelegten U-Bahn-Schacht, die er soeben erst verlassen hatte. Ich saß daneben, war neidisch und fand, das Leben ginge an mir vorbei.
Nach drei Semestern trennte ich mich von Nordbayern und zog nach Berlin, der Stadt, in der man monatelang tot in seiner Wohnung liegen kann, ohne daß es jemand merkt. Glücklicherweise war ich irgendwie gereift und habe mir in Berlin einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, unter anderem lernte ich damals Ruth und Justyna kennen. Und endlich! Wir zogen durch die Clubs – Gothic, you know? Linientreu, K17, Kato, und wie hieß nochmal das mit dem Raumschiff?
Es war schön. Es war so dunkel, daß es egal war, daß ich nicht tanzen kann – manchmal hatte ich Schwierigkeiten, meine Freundinnen wiederzufinden. Die S/M Lack und Leder-Fraktion hatte sich noch nicht so stark mit der Gothicszene vermischt, Gothic Lolitas gabs noch gar nicht, also trug ich ein schwarzes Oberteil, schwarze Hosen und Doc Martens, ein wenig Schmuck und schwarzen Lidschatten. Manchmal steckte ich mir die Haare hoch, Sie wissen schon, ein bisschen wie Robert Smith. The Cure wurden viel gespielt und Depeche Mode, EBM, Silke Bischoff.
Ich war verliebt in den DJ. Kein Witz jetzt, obwohl man darüber streiten könnte, ob ich verliebt war oder nur betört oder gar einfach entschlossen, nach dem Informatiker aus Nordbayern und dem Curefan aus Kiel jetzt endlich wieder einen Freund zu haben, egal wen. Und ein DJ war da nicht das schlechteste: ich bekam freien Eintritt und meine Musikwünsche gespielt.
Ob zum besseren oder schlechteren: in diesem Alter ist man oft zusammen, bevor man sich überhaupt kennt. Leider stellte sich nach einigen Wochen heraus, daß der DJ mächtig einen an der Klatsche hatte. Und ich meine jetzt nicht so Kid37- liebenswerte- Spleens, sondern mehr so psychisch krank. In einer Gartenlaube geboren, Legastheniker, Stotterer, verprügelt worden, mit fünfzehn verwaist.
Tagsüber arbeitete der DJ in einem Eisenwarengeschäft in Neukölln, wo er – wen überrascht es – ziemlich ausgebeutet wurde: keine Mittagspause, und bloß keine Gewerkschaft!
Nach gemeinsam verbrachten Nächten brachte ich ihn immer mit dem Auto nach Hause: ich meine, wir mußten dazu um vier Uhr aufstehen. Als ich ihn einmal fragte – warum denn so früh? Um wieviel Uhr er anfangen muß zu arbeiten? Sechs? – da erzählte er mir folgendes: er ginge immer nach Hause, zöge sich vollständig bis auf die Schuhe AN, und lege sich wieder ins Bett. Dort bliebe er liegen, am besten mindestens eine, besser zwei Stunden, manchmal schlafe er sogar noch einmal ein. Wenn sein Wecker klingele, stünde er direkt auf, zöge sich seine Schuhe an und ginge zur Arbeit. Anders könne er es nicht ertragen.
Mich erschreckte das ziemlich, so sehr, daß ich mich zügig von ihm trennte. Obwohl ich heute noch einen Stich vom Scham spüre, mußte ich doch erkennen, daß ich ihm nicht helfen konnte und kann. Es gibt viele Aspekte, die nicht in diese Zeilen passen, also wollen wir es dabei belassen: der DJ und ich trennten und, und er bat mich, doch mal ein paar Wochen nicht in die Clubs zu kommen, in denen er auflegte.
Und so hörte ich auf, auszugehen. Der Wunsch nach Nachtleben verschwand einfach und kam auch in den Jahren nach dem DJ nicht mehr wieder. Natürlich habe ich trotzdem ein soziales Leben: ich traf und treffe mich mit meinen Freunden – zuhause oder man geht essen. Ich besuche Ruth und Justyna und Glam. Ich rede mit Midori bis nachts um zwei. Ich gebe Einladungen zum Essen und koche drei Gänge. Ich gehe zu Bloggertreffen und einmal im Jahr zum Blogmich in Berlin. Hin und wieder auf eine Lesung, selten auf ein Konzert.
Letzten Samstag schaltete ich das Radio ein – ich höre eigentlich kein Radio, aber irgendwie… es war schon nach Mitternacht, ich machte mich zurecht, um ins Bett zu gehen. Im Radio spielten sie einer Art von DJ-Mix, und ich stellte mir vor, wie die Leute im Auto oder zuhause diesem Sender zuhören und sich einstimmen auf die lange Nacht in der Disko, zu der sie gleich aufbrechen werden oder schon aufgebrochen sind. Wie sie sich zurechtmachen, schminken, vielleicht vorglühen. Und wie wenig mir das bedeutet, wie sehr ich in diesem Moment überrascht war von dem Gedanken, samstags abends auszugehen, weil sich die Frage für mich schon so lange gar nicht stellt.

Jetzt! Jetzt kommt die Pointe. Ich frage mich, ob es nicht mit vielen Dingen im Leben so ist: daß man sich etwas sehnlich wünscht, vielleicht auch erlebt, und eines Tages verschwindet der Wunsch. Es ist vorbei, es bleibt nichts zurück, kein Bedauern, kein Entsagen. Nur eine milde Verwunderung.

Dankbarkeit

Ich hatte heute ein ziemliches Erfolgserlebnis auf meiner Arbeit. Insgesamt läuft mein Projekt so gut wie nie zuvor und auch das Verhältnis zum Chef hat sich deutlich verbessert. Ich bin sehr froh, daß ich mich entschlossen habe, mit der Hilfe eines Coaches an mir zu arbeiten: drei Sitzungen haben mir gereicht, um wieder auf den rechten Weg zu finden, wieder zu mir zu finden, Klarheit zu finden.
Ich bin echt dankbar und habe mir überlegt, zwanzig Euro an eine soziale Einrichtung zu spenden. Bislang ist mir nur die Bahnhofsmission eingefallen. Kennt sich jemand aus und kann eine spendenwürdige Institution empfehlen?

1899

Dreimal haben sie ihm sein Geschäft kaputtgemacht. Das erste Mal 1919 während der kommunistischen Revolution, dabei war es nur ein kleiner Gemischtwarenladen – Seife, Milch, sauer eingelegtes, Brennholz, Wein – und keine Speerspitze der kapitalistischer Unterdrückung. Sogar ins Lager mußte er, aber er hatte ein Talent im Umgang mit Menschen. „Seid gegrüßt, Genossen!“, soll er gesagt haben, auf ungarisch natürlich, da kam er schnell wieder frei.
Kaum hatte sich das Geschäft erholt, kam die Wirtschaftskrise der Zwanziger Jahre. Aber er war jung und gesund, kaum älter als das Jahrhundert: 1899 geboren. Die Mama war seine Liebesheirat, die Dreißiger Jahre waren eine gute Zeit für sie, in denen nach mehreren Totgeburten vier gesunde Kinder auf die Welt kamen. Wenn sie von ihrer Kindheit erzählen, dann scheint dieses Dorf in der Peripherie von Budapest immer ein kleines Paradies oder doch zumindest eine ländliche Idylle gewesen zu sein. In einer Art Vierkanthof lebten sie in der Großfamilie mit Onkel und Tanten und deren Kinder zusammen. Der Papa war sehr angesehen im Dorf, ein großer, hagerer, ruhiger und bedachter Mann, wenn es Streit gab, wurde er zum Schlichten gerufen.
Vom Krieg hätten sie nicht soviel mitbekommen, erzählen sie. Vom Kriegsende umso mehr. Ein sowjetischer Soldat hat den Hund erschlagen, mit dem Gewehrkolben, damit er keine Kugel verschwendet. Und dann mußten sie gehen. Der Papa hätte wohl noch etwas dagegen unternehmen können, wenn er gewollt hätte, er hatte ja ein Talent mit Menschen und natürliche Autorität. Aber er wollte wohl nicht, wird spekuliert, vielleicht wohl wissend, daß es in den nächsten Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft weder für sein Geschäft, noch für ihn oder seine Kinder eine rosige Zukunft geboten hätte. Die Alternative, wohl doch erzwungen und nicht frei gewählt, war bitter: alles zurücklassen und mit dem Zug nach Süddeutschland fahren, das halbe Dorf in Viehwaggons. In Süddeutschland waren die Vertriebenen nicht willkommen, lebten zunächst bei Bauern, dann in Baracken. Der Bauer, dem meine Familie zugewiesen wurde, hatte, um keine Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, ein Loch in die Wand geschlagen, also lebten sie mit einem Loch in der Wand.

Der Papa wollte kein neues Geschäft, er hatte keine Kraft mehr. Er hat in der Fabrik gearbeitet, seine älteste Tochter, die in Ungarn eine ausgezeichnete Schule besucht hatte, wurde mit fünfzehn Hilfsarbeiterin. Aber sein Sohn – mein Vater – aus dem sollte etwas werden! Priester, wünschte sich die Mama, und wenn nicht, dann wenigstens Lehrer. Und so studierte mein Vater Englisch, Französisch, Geografie. Das Geld war immer knapp. 1960 endlich konnte mein Vater seinem Vater berichten, daß er nun Assessor ist. „Endlich“, hat der Papa gesagt und starb im selben Jahr. Lungenkrebs und wohl auch keine Kraft, zu ausgezehrt von dem Ganzen.

Endlich fertig sein. Endlich fest angestellt sein. Endlich beruflich angekommen sein. Viele Jahre muß das für meinen Vater ein großer Wunsch, ein großes Ziel, ein bestimmender Gedanke gewesen sein. Kein Wunder eigentlich, daß er auch mich antreibt. Projekte abzuschließen, eine feste Stelle finden. Und ich, ich würde auch gerne angekommen sein im Leben: eine schicke Visitenkarte haben, mich mit Geldanlagen beschäftigen zu müssen, weil ich mehr verdiene, als ich ausgeben kann. Meinen Vater bitten, eine Rede auf meiner Hochzeit zu halten, ihm mein Kind in die Arme legen. Aber die Welt hat sich verändert in den fast 50 Jahren, seit mein Vater Lehrer wurde, in den mehr als 100 Jahren, seit mein Großvater geboren wurde. Und wenn wir eines wissen, dann, daß es keine Sicherheit gibt.
Je älter ich werde, desto weniger vorgezeichnet scheint mein Leben zu sein. Ich bin in Bewegung.

„Ich wünsche mir, daß Du Vertrauen in mich hast“, habe ich ihm beim letzten Telefongespräch gesagt. Mir selbst habe ich geraten, ein wenig großzügiger zu werden, mich nicht immer so angegriffen zu fühlen. Auszustrahlen, daß man Vertrauen in mich haben kann.