Kurz vor Weihnachten klingelte es an meiner Tür. Es war Gisela, die Nachbarin von gegenüber, und sie war in Tränen aufgelöst. Ali hätte ein Bad genommen, erzählt sie, und jetzt kriegt sie ihn nicht mehr aus der Badewanne raus.
Natürlich ist das lustig. In einer Studie – Sie haben es vielleicht in der Zeitung gelesen – wurde kürzlich herausgefunden, daß Kinder Clowns nicht lustig finden. Clowns sind traurig, Clowns sind tragisch.
Ali Meghar ist: alt, verbraucht, Diabetiker, geschieden, arm, Gastarbeiter, bierbäuchig, Alkoholiker. Er ist auch: freundlich, warmherzig, freigiebig, musikalisch. Er ist in Algerien geboren. Sein Vater hat sich jahrelang bemüht, Alis Geburtsurkunde von der von Franzosen verwalteten Behörde zu bekommen. Als ihm das endlich gelang, war Ali schon zwölf und damit zu alt für die Schule. Nur in die Koranschule hatte er gehen können, erzählt er mir. In Deutschland hat er Schuhe in der Fabrik gemacht.
Ali trinkt ganz gerne… obwohl, wer weiß schon, ob er gerne trinkt. Wahrscheinlich eher nicht, denn er trinkt unauffällig: Bier und dazu, oft versteckt, aus einer dieser kleinen flachmannähnlichen Flaschen Korn. Am Anfang fand ich es nett, Kontakt mit meinen Nachbarn zu haben. Dann kam Ali immer öfter, bald jeden Abend, und ich bin abends oft müde. Ich bin den ganzen Tag unter Menschen und freue mich, abends allein zu sein. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß Ali eines Abends angetrunken an meinem Ohr gesaugt hat. Ich glaube, daß er einsam ist, ich verstehe, was Einsamkeit bedeutet, es ist verständlich, daß ein sechzigjähriger Mann seine pralle, junge Nachbarin sinnlich findet. Nur leider ist er nicht der Richtige für mich. ( Er ist übrigens der Richtige für Gisela, das ist nicht zu vergessen.) Ich habe mich also ein wenig zurückgezogen, auch weil es mir wichtig ist, zuhause ungestört zu sein. Manchmal, meist gegen Monatsende, klingelt Gisela und leiht sich zehn Euro.
Kurz vor Weihnachten klingelte sie und wir haben zusammen Herrn Meghar aus der Badewanne gehoben. Er war vorher vier Wochen im Krankenhaus gewesen, weil er seinen Diabetes nicht im Griff hat. Ihm ist es zu mühsam, seinen Blutzucker zu kontrollieren, und dann der Alkohol… Es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, daß er deswegen länger im Krankenhaus war. Als er zurückkam, hatte er zwanzig Kilo abgenommen (von 95 auf 75 Kilo). Sein Bauch erschien mir beinahe dicker als vorher, dafür waren seine Arme und Beine ganz dünn.
Heute hat es wieder an meiner Tür geklingelt. Herr Meghar mit einem Teller Essen ( mit Essen kriegt man mich ja, und Herr Meghar kocht gut: arabisch und ein bisschen scharf.). Ich nehme also den Teller entgegen und frage, wie es so geht, und Herr Meghar sagt: Gisela ist im Krankenhaus. Als ich ihn frage, wie lange schon, dauert die Antwort lange, und daran merke ich, daß es ihm schlecht geht: nicht primär seelisch, sondern geistig und körperlich. (Vor drei Tagen, sagt er). Gisela hatte Blut im Urin: Nierenprobleme.
Es ist jetzt 21:47. Vor eineinhalb Stunden hat Ali geklingelt. Ich bin durch verschiedenen Phasen der Sorgenentwicklung gegangen. Ich mache mir Sorgen, daß Ali nicht allein leben kann, daß er ohne Gisela nicht zurechtkommt. Ich kann natürlich nicht beurteilen, ob das der Fall ist. Er wirkte auf mich nicht gut, nicht gesund, kann aber immerhin kochen und hat mir erzählt, daß er jeden Tag Gisela im Krankenhaus besucht. Ich könnte natürlich einfach rübergehen, statt diesen Text zu tippen, und ihn fragen: wie siehts aus? Wie geht es Ihnen? Kann ich etwas für Sie tun? Aber es gibt da das oben hoffentlich deutlich gemachte Problem der Abgrenzung.
Im Moment habe ich folgenden Plan:
1) morgen früh vor der Arbeit klingeln, Teller zurückgeben (super Vorwand!). Fragen, wie es geht. (Braucht er Geld?). Fragen, in welchem Krankenhaus Gisela liegt. Gegebenenfalls Situation neu einschätzen.
2) Gisela im Krankenhaus anrufen oder besuchen. Von ihr nochmal abchecken, wie es läuft, ob z.B. jemand gelegentlich nach Ali sieht. Sie fragen, ob ich etwas tun kann.
3) Wenn ich dann immer noch Anlaß zur Sorge habe, eine Beratungsstelle anrufen und professionellen Rat einholen.
Andere Ideen? Wenn Sie Ratschläge in den Kommentaren geben wollen: gerne. Versuchen wir doch mal, von der Weisheit der vielen zu profitieren.
(Ältere Einträge zu Herrn Meghar: eins, zwei, drei.)