Komfortzone

Ich bin frei zu gehen. Die vergitterte Tür, gegen die ich mich so oft verzweifelt geworfen habe, steht offen. Ich bin frei zu gehen, und ich kann nicht.
Was hält mich? Gewohnheit. Bequemlichkeit. Mein etablierter Platz in der Hackordnung. Die Sicherheit, zu wissen, wie die Dinge ablaufen.
Was fürchte ich? Die Unbequemlichkeit, fremd zu sein, neue Bilder auszuhalten, die Fremde von mir haben. Wieder Lehrling sein..
Wer wachsen will, muß Lehrling sein das ganze Leben lang.

Es war einfacher, als ich noch mehr gelitten habe.

Nachtrag

Das Haus ist verkauft. Ich laufe durch die leeren Räume und spüre… nicht viel. Es hat keine Signifikanz für mich. Zuhause ist anderswo: in meiner Erinnerung, in meinen Texten, auf den dunkelroten Kissen meines Bettes, im Nachmittagstee, den meine Mutter aufgießt.

Weihnachten 2008 habe ich hauptsächlich Bauschutt geräumt, mit dem mein Vater vor Jahren oder Jahrzehnten den Schuppen abgedichtet hatte. Ich bin jetzt stärker als er. Ich weiß nicht, was passiert ist, mit mir, mit uns, aber es war wirklich schön, dieses schräge Weihnachten. Es hilft, das ich über vieles hinwegblicken kann, weil ich – und das ist das wirklich überraschende – verwurzelter in mir selbst bin, souveräner.
Schade, daß meine Schwester, die auf die vierzig zugeht, innerlich ein Teenager zu sein scheint. Sie terrorisiert meine Eltern mit einem Brief voller Anschuldigungen nach fast einem Jahr trotzigem Schweigens.
Dabei ist die Zeit so knapp, die man noch gemeinsam hat: vielleicht noch zehn Jahre, eher keine zwanzig.

Als ich wegfahre, winken mir die beiden nach, und werden im Rückspiegel immer kleiner.

(ohne Titel)

Seit ich wieder mehr als vier Stunden die Nacht schlafe, kommen die Alpträume: ein vor Rechtschreibfehlern strotzender Brief, in dem steht: abgelehnt. Eine Korrektur in rot: inhaltlich eins minus; Form, Aufbau und Struktur: enttäuschend. Flugzeugabstürze, unsteuerbare Autos, in Wände rasend.
Es wird noch eine Weile dauern, bis selbst meine tieferen Schichten begriffen haben: es ist alles gut.

rot, gelb, grün

Ich sitze in meinem Auto, der Motor ist aus. Ich schaue der Ampel zu, wie sie die Farben wechselt, zu müde zum Aussteigen. Rot, gelb, grün. Gelb, rot.
Ich komme von einer Weihnachtsfeier. Weihnachtsfeiern sind grausam, aber mit den Jahren habe ich den Trick herausgefunden: emotionale Distanz, Unvoreingenommenheit und das Fehlen jeglicher Erwartungshaltung. Im letzten Monat habe ich so viel gearbeitet, daß es manchmal nur für vier Stunden Schlaf gereicht hat; ich habe für dieses Jahr noch 25 Urlaubstage und damit also gar keine Zeit gehabt, mir irgendwie Gedanken zu machen. Ich ging hin, und es war nett, es gab sogar einen schönen jungen Mann, der bei irgendeinem Partyspiel sehr lange und äußerst graziös um einen Tisch laufen mußte.
Für mich gibts keine schönen jungen Männer. Merkwürdig, daß meine Gedanken immer wieder darauf hinauslaufen, nicht? Immer wünsche ich, ein Mann würde mich bestätigen in meinem Frausein – wann werde ich’s lernen, daß es so nicht geht. Die Ampel schaltet: rot, gelb, grün, und es wird langsam kalt.
Heute war ein großer Tag. Still gehen sie vorbei, die großen Tage, und das grämt mich ein wenig. Wann wäre ein besserer Anlaß gewesen, mich zu feiern und zu beglückwünschen, ganz ohne Aufforderung? Ausgerechnet eine gute Freundin war heute still und beinahe schroff, hatte keinen Blick für mich bei Glühwein und Lebkuchen. Den Jubel der anderen, den wünsche ich mir aus Stolz und Eitelkeit, es bedeutet nichts. Bei ihr ist es anders. Ich spüre, daß ich in kleinen, aber meßbaren Schritten eine Grenze überschreite, einen neuen Lebensabschnitt beginne. Ich taste nach ihren Händen, aber sie sind nicht da, und ich frage mich, ob mich die Veränderung diese Freundschaft kosten wird. Und wieviel wohl noch.
Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während die Ampel schaltet: rot, gelb, grün. Ich bin zu müde, um auszusteigen. Manchmal tut sich ein Loch auf in mir, schwarz und an den Rändern gezackt, und ich fühle mich von allen verlassen. Sogar meiner Mutter grolle ich, weil sie mal wieder voll verpaßt hat, auf ihre Tochter stolz zu sein. Sie kann das einfach nicht. Backen kann sie auch nicht, sie ist einfach nicht diese Art von Mutter.
Es wird langsam kalt. Mein Atem macht kleine, weiße Wölkchen, und die Nacht ist getaucht in grün, gelb, rot. Ich habe einen Cheerleader. In der Stunde meiner Not war sie da, einfach so, unkompliziert, unprätentiös. Sie hat nicht gefragt, ob sie kommen soll, sondern wann ich sie abholen komme. Sie hat mich angefeuert und mir Mut gemacht und als ich beinahe nicht loslassen konnte, stand sie hinter mir und sagte: „diesen Satz noch. Dann ist Schluß.“ Sie hat Seiten gezählt und den Überblick und die Nerven behalten und mir beigestanden. Ich zähle die Tätigkeiten auf und kann doch nicht beschreiben, was sie für mich getan hat. Im Niemandsland, an der Grenze zwischen zwei Lebensabschnitten, war ich nicht allein.
Ich nehme meine Tasche, steige aus und lasse die Nacht hinter mir.

gewonnen.

Was ich mit dem Preisgeld mache, fragt man mich. Geld aus einem Wettbewerb, den ich für verlogen und von politischen Interessen getrieben halte. Die Jury kommt, schaut sich meine Arbeit an, mäkelt und meckert, um mir dann doch einen Preis zu verleihen. Plötzlich finden alle großartig, was ich mache (sie haben es mir bloß nie gesagt). Ihre Arbeit war schon letztes Jahr in der engeren Wahl, heißt es. Wo ist der Boden unter meinen Füßen? Im Alltag nicht, wo man mich kleinhält, und auf der Bühne auch nicht, wo man mich hochjubelt.
Geld. Ein paar hundert Euro. Ich habs verdient, finde ich, weil ich so hart gearbeitet habe, so hart arbeite, immer noch. Ich hätte lieber das Leben wieder, das mir durch die Finger rinnt, während ich vor meinem Schreibtisch sitze.
Ich hätte gerne Crush, nackt, meine Finger in seinem Haar, sein Kopf an meinen Brüsten, seine Augen halb geschlossen, hilflos und verloren und nirgendwo so sehr geborgen wie in mir. Ich hätte gerne, daß er will, was ich auch will.
Immerhin: Crush war beim Wettbewerb. Ich hatte gesagt komm, und er kam. Sein 2000-Watt-Lächeln blitze ein paar Mal auf, während er versuchte, immer wieder einen Schritt zurück, von mir weg zu gehen, aber es ging nicht, weil kein Platz war. Zwei Tage später gibt es genügend Platz, und wir umkreisen einander wie Raubtier und Beute. Ich versuche, die Konversation aufrechtzuerhalten, aber wir brechen auseinander, die Risse sind unübersehbar, während ich versuche, an meiner Leidenschaft festzuhalten. Ein wenig noch, nur ein wenig.

Ich glaube, ich kaufe mir einen Schreibtischstuhl. Da bin ich sowieso die meiste Zeit.

Skateboardstürze

Er steht vor der Tür und raucht, die Menschen strömen an ihm vorbei. Ich gehe zu ihm, grüße, und schweige. Ich habe dazugelernt und halte mich an der Flasche Saft fest, die ich gerade gekauft habe. Schraube den Deckel ab, trinke einen Schluck, schaue ihn an. Er schweigt. Dann tritt er einen Schritt zurück, von mir weg, obwohl wir ohnehin mehr als einen halben Meter Distanz zwischen uns haben.
Ich sage zwei Sätze zu Freitag, er sagt, er schaue dann mal vorbei. Bis bald, sag ich, und gehe.

Da war er jetzt, der Raum, den ich ihm geben wollte, und er war nur mit Unbehagen gefüllt. In den letzten Jahren habe ich gelernt, Schweigen auszuhalten – Lektionen in Demut – aber ich kann es immer noch nicht besonders gut. Es beunruhigt mich. Und dieser Schritt zurück, von mir weg, erinnert mich an die Skateboarder, die ich gestern auf Youtube gesehen habe, wie sie sich durch Gravitation und Geschwindigkeit von ihren Brettern lösen und in Geländer krachen, auf Treppenstufen aufprallen, verbogene Gliedmaßen hochhalten und bluten, bluten. Ich bin der Skateboarder, er ist das Brett. Mache ich denselben Fehler wie vor ein paar Monaten, und begehre einen jungen Mann, der nicht den Mut hat, mir zu sagen, daß er mich abstoßend findet? Die Antwort lautet wohl: ja, und zieht die Frage nach sich: warum?
Vielleicht muß ich wieder einmal wissen, wie ich auf Männer wirke, und brauche ihn als Spiegel. Vielleicht braucht mein Begehren Raum, wenn auch nur von mir projiziert, konstruiert, aber doch immerhin mit einem realem Objekt: ihm. Vielleicht sollte ich es genau so sehen: als eine Möglichkeit, etwas über mich zu lernen, und als einen Prozeß, den ich ohnehin nicht steuern kann. Wir sind in Bewegung, nehmen Geschwindigkeit auf, und wenn die Haut sich abschürft, die Prellungen kommen, werde ich mich nicht beklagen.

(ohne Titel)

Ich drehe an kleinen Schrauben, bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Ich gehe zur Dir hin und rede, rede, rede.

Später fühle ich mich leer, weil ich nur geredet, aber
Dir keinen Raum gelassen habe. Zum reden oder sonstwas.

Freitag also. Du kommst, sagst du, und ich sage „cool“.
Cool bin ich nicht.