to be good.

Gisela im Krankenhaus besucht. Krankenhäuser sind @$#*%!.

Es geht ihr mittel. Sie hat Harnsteine und hofft, nächste Woche wieder entlassen zu werden. Insofern: kein Krebs, nichts lebensbedrohliches, aber auch keine Bagatellerkrankung. Gesund sah sie nicht aus.
Sie hat sich gefreut, daß ich gekommen bin. Nach kurzem Update über ihre Situation hat sie sehr viel über Ali gesprochen. Sie mußte weinen und hat mit mir relativ offen darüber gesprochen, daß Ali Alkoholiker ist und Leberzirrhose hat. Ihr Weinen war Wut und Trauer: Trauer, weil sie weiß, daß ihre Zeit mit Ali begrenzt ist; Wut, weil sie nichts verändern kann. „So oft habe ich ihm schon gesagt, er soll aufhören zu trinken!“ Weggeschüttet hätte sie das Zeug, es hätte alles nichts gebracht. Wenn es nicht besser wird, dann will sie ihn verlassen und zu ihrem Sohn ziehen. Eine leere Drohung?
„Es ist eben eine Sucht“, sage ich, und daß Ali es wohl nicht ändern könnte, selbst wenn er wollte. Daß er großes Glück hat, daß er sie gefunden hat, daß er ohne sie wahrscheinlich schon gar nicht mehr leben würde, und daß sie die Last der Verantwortung für sein Trinken nicht tragen soll, nicht tragen muß.
Es ist keine romantische Liebe zwischen den beiden, aber sie sind einander Gefährten.

Ich taste das Thema Haushaltshilfe/ Pflegekraft an. Gisela winkt ab. Sie will das nicht. Noch einmal taste ich mich vor, die Krankenkasse würde das bezahlen, sage ich, und daß ich gerne helfen würde mit dem Papierkram. Dann lasse ich das Thema ruhen, vielleicht keimt der Samen dennoch.
Morgen kommt ihr Sohn, erzählt Gisela. Ali hat einen Freund, der sich um ihn kümmert, manchmal kümmert sich auch eine Nachbarin. Zwei Neffen gibt es, die mal mehr, mal weniger präsent sind.
„Was soll ich tun, wenn es ihm schlecht geht?“, frage ich. Den Notarzt rufen, meint sie. Mehr könne man nicht tun.

Ich schreibe ihr meine drei Telefonnummern auf, verabschiede mich. Die Stimmung ist gelöst und herzlich, nur getrübt von jenem Hellgrün des Krankenhausflures, das in den Siebzigern oder frühen Achzigern sehr modisch gewesen sein muß und nun im Neonlicht verblaßt.
Auf dem Rückweg fröhne ich meiner eigenen Sucht und kaufe mir an der Tankstelle ein Kit Kat Chunky (immerhin muß ich tatsächlich tanken). Es schmeckt sehr süß und nicht so gut wie in meiner Erinnerung.
Ich bin ein mittelguter Mensch. Alles sind Fragmente. Der Krankenhausbesuch ist Fragment eines langen Tages. Die anderen: Meeting, Schulung, Adrenalin, der Blumenhändler kurz vor Ladenschluß, der Starkregen, die Kollegin, die mir heute den Nacken massiert hat. „Du hast da was“, sagt sie. „Ja, ich hab Streß“, antworte ich.
Aber meine Nieren und meine Blase und meine Leber und mein Geist funktionieren. Alles andere sind Luxusprobleme.

soziale Verantwortung

Kurz vor Weihnachten klingelte es an meiner Tür. Es war Gisela, die Nachbarin von gegenüber, und sie war in Tränen aufgelöst. Ali hätte ein Bad genommen, erzählt sie, und jetzt kriegt sie ihn nicht mehr aus der Badewanne raus.

Natürlich ist das lustig. In einer Studie – Sie haben es vielleicht in der Zeitung gelesen – wurde kürzlich herausgefunden, daß Kinder Clowns nicht lustig finden. Clowns sind traurig, Clowns sind tragisch.

Ali Meghar ist: alt, verbraucht, Diabetiker, geschieden, arm, Gastarbeiter, bierbäuchig, Alkoholiker. Er ist auch: freundlich, warmherzig, freigiebig, musikalisch. Er ist in Algerien geboren. Sein Vater hat sich jahrelang bemüht, Alis Geburtsurkunde von der von Franzosen verwalteten Behörde zu bekommen. Als ihm das endlich gelang, war Ali schon zwölf und damit zu alt für die Schule. Nur in die Koranschule hatte er gehen können, erzählt er mir. In Deutschland hat er Schuhe in der Fabrik gemacht.

Ali trinkt ganz gerne… obwohl, wer weiß schon, ob er gerne trinkt. Wahrscheinlich eher nicht, denn er trinkt unauffällig: Bier und dazu, oft versteckt, aus einer dieser kleinen flachmannähnlichen Flaschen Korn. Am Anfang fand ich es nett, Kontakt mit meinen Nachbarn zu haben. Dann kam Ali immer öfter, bald jeden Abend, und ich bin abends oft müde. Ich bin den ganzen Tag unter Menschen und freue mich, abends allein zu sein. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß Ali eines Abends angetrunken an meinem Ohr gesaugt hat. Ich glaube, daß er einsam ist, ich verstehe, was Einsamkeit bedeutet, es ist verständlich, daß ein sechzigjähriger Mann seine pralle, junge Nachbarin sinnlich findet. Nur leider ist er nicht der Richtige für mich. ( Er ist übrigens der Richtige für Gisela, das ist nicht zu vergessen.) Ich habe mich also ein wenig zurückgezogen, auch weil es mir wichtig ist, zuhause ungestört zu sein. Manchmal, meist gegen Monatsende, klingelt Gisela und leiht sich zehn Euro.

Kurz vor Weihnachten klingelte sie und wir haben zusammen Herrn Meghar aus der Badewanne gehoben. Er war vorher vier Wochen im Krankenhaus gewesen, weil er seinen Diabetes nicht im Griff hat. Ihm ist es zu mühsam, seinen Blutzucker zu kontrollieren, und dann der Alkohol… Es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, daß er deswegen länger im Krankenhaus war. Als er zurückkam, hatte er zwanzig Kilo abgenommen (von 95 auf 75 Kilo). Sein Bauch erschien mir beinahe dicker als vorher, dafür waren seine Arme und Beine ganz dünn.

Heute hat es wieder an meiner Tür geklingelt. Herr Meghar mit einem Teller Essen ( mit Essen kriegt man mich ja, und Herr Meghar kocht gut: arabisch und ein bisschen scharf.). Ich nehme also den Teller entgegen und frage, wie es so geht, und Herr Meghar sagt: Gisela ist im Krankenhaus. Als ich ihn frage, wie lange schon, dauert die Antwort lange, und daran merke ich, daß es ihm schlecht geht: nicht primär seelisch, sondern geistig und körperlich. (Vor drei Tagen, sagt er). Gisela hatte Blut im Urin: Nierenprobleme.

Es ist jetzt 21:47. Vor eineinhalb Stunden hat Ali geklingelt. Ich bin durch verschiedenen Phasen der Sorgenentwicklung gegangen. Ich mache mir Sorgen, daß Ali nicht allein leben kann, daß er ohne Gisela nicht zurechtkommt. Ich kann natürlich nicht beurteilen, ob das der Fall ist. Er wirkte auf mich nicht gut, nicht gesund, kann aber immerhin kochen und hat mir erzählt, daß er jeden Tag Gisela im Krankenhaus besucht. Ich könnte natürlich einfach rübergehen, statt diesen Text zu tippen, und ihn fragen: wie siehts aus? Wie geht es Ihnen? Kann ich etwas für Sie tun? Aber es gibt da das oben hoffentlich deutlich gemachte Problem der Abgrenzung.
Im Moment habe ich folgenden Plan:

1) morgen früh vor der Arbeit klingeln, Teller zurückgeben (super Vorwand!). Fragen, wie es geht. (Braucht er Geld?). Fragen, in welchem Krankenhaus Gisela liegt. Gegebenenfalls Situation neu einschätzen.

2) Gisela im Krankenhaus anrufen oder besuchen. Von ihr nochmal abchecken, wie es läuft, ob z.B. jemand gelegentlich nach Ali sieht. Sie fragen, ob ich etwas tun kann.

3) Wenn ich dann immer noch Anlaß zur Sorge habe, eine Beratungsstelle anrufen und professionellen Rat einholen.

Andere Ideen? Wenn Sie Ratschläge in den Kommentaren geben wollen: gerne. Versuchen wir doch mal, von der Weisheit der vielen zu profitieren.

(Ältere Einträge zu Herrn Meghar: eins, zwei, drei.)

abgehakt

Seit ich ungefähr fünfzehn bin – also schon mein halbes Leben lang – wundere ich mich immer wieder über die Wellen an zu erledigenden Aufgaben, die über einen hereinbrechen.
Ich habe wirklich den Eindruck, es handelt sich um Wellen. Manchmal kommen sie langsam, manchmal schnell, heben einem auf ihrem Gipfel leicht an, dann sinkt man wieder ins Wellental. Man muß sich konzentrieren, im Rhythmus bleiben, dann kann man gerade so mitschwimmen. Ganz schnell kann die Situation umschlagen: ein paar Tage gefaulenzt, zusätzlich mag sich die Frequenz der Wellen erhöhen, und schon brechen sie einem über dem Kopf zusammen und drücken einen unter Wasser. Man versteht kaum, was passiert, sie scheinen aus allen Richtungen zu kommen, man kennt den Rhythmus nicht mehr und ringt atemlos nach Luft.
Seit ich ungefähr fünfzehn bin, gibt es keine Tage mehr, an denen es nichts zu erledigen gäbe. Dennoch bleibt die Illusion verankert, man könne irgendwann den ganzen Berg abgearbeitet haben, Inbox auf null, alles Geschirr gespült, alle Besorgungen erledigt. Dabei ist selbst der Urlaub keine Zeit der Tatenlosigkeit, sondern nur eine Pause von den alltäglichen To-Do-Listen, oft genug gefüllt mit Urlaubs-To-Do’s.
Die meisten Aktionen und Projekte scheinen neue Aktionen nach sich zu ziehen und unsere Umwelt stellt immer, immer Ansprüche an uns. Von der Nobelpreisträgerin Christiane N**lein-Vo**** wird erzählt, sie hätte sich von dem für einen ihrer beiden Nachnamen verantwortlichen Gatten getrennt, weil sie nach einem anstrengendem Tag in der Forschung nicht mehr abends nach Hause kommen wollte und da ist dann noch jemand, der etwas von einem will. Sie hat jetzt Katzen.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich nie mehr auf Emails oder Anrufe von Freunden antworten würde. Nach einiger Zeit würde sich sicherlich die Anzahl an noch zu beantwortenden Emails und Anrufen gegen Null bewegen.
Dann fällt mir wieder ein, daß meine Freunde nicht einfach Posten auf To-Do-Listen sind. Und die Dinge auf den To-Do-Listen macht man nicht nur, um sie abzuhaken, sondern weil sie kleine Schritte auf dem Weg zu Zielen sind, die man sich gesteckt hat. Man kann ja nicht den ganzen Tag die Rauhfasertapete anstarren.

Aber eine Geschirrspülmaschine, das wär‘ schon was.

Titel sind so letztjährig.

2007, die alte Sumpfkuh. Habe Jahresrückblick getippt und dann gedacht, ach egal. Übrig blieb dieser Absatz:

Die schönste Musik des Jahren kam von José Gonzales, den ich auch live erleben durfte. Zu den bewegensten Weblogs zählen Ker0zene, Sakana und Dieseldunst. 2007 ist meine Tante gestorben, und die Gesprächsfetzen vermisse ich auch. Der schönste und gleichzeitig traurigste Tag in 2007 war dieser hier.
Gebloggt habe ich eher wenig, dafür gabs eine Handvoll längere, vom schwarzen Humor rußverschlierte Einträge. Witzig.

Aktuell siehts hier so aus: die Weihnachtsdepression ging an mir vorbei, dafür hats mich jetzt erwischt. Ich bin eine kleine Fliege, die kräftig mit den Beinen strampelt, aber im Fliegenfänger festgeklebt ist. Man kommt nicht voran. Willkommen, 2008.

an meine Schwester

Wir sind drei, aber eigentlich sind wir vier. Du fehlst, Schwester, und Dein Fehlen füllt den Raum.
In jeder Familie gibt es Dinge, über die nicht geredet wird. In jeder Familie gibt es Dinge, über die immer wieder und nahezu endlos geredet wird, ohne je zu einem Ergebnis zu kommen. Wir reden über Dich, Schwester. Meine Mutter zählt all die Gelegenheiten auf, an denen Du sie enttäuscht hast, mein Vater nickt und ich weiß nicht, zu wem ich halten soll, zu ihnen oder zu Dir, und vergesse darüber einmal mehr, wo eigentlich mein eigener Standpunkt ist.
Wieviel Macht Du hast, Schwester, obwohl oder gerade weil Dir alles egal ist. Selbst auf das Verhältnis zwischen unseren Eltern und mir hast Du Einfluß: manchmal scheren sie uns beide über einen Kamm und ich muß mir die Kritik anhören, die eigentlich für Dich bestimmt ist.
Diesmal bist nur Du das schwarze Schaf, und ich leuchte hell im Vergleich. Auch irgendwie unbefriedigend.

Ich habe von Dir gelernt, Schwester. Mir sind zunehmend Dinge egal, ich bin dem Zirkus müde. In diesem Jahr bist Du deutlich gelassener geworden, sagt Ruth. So könnte man es auch formulieren.
Die drei Kritikpunkte, die unsere Eltern sonst für mich reserviert haben, heißen: zu dick, berufliche Stagnation, Partnerlosigkeit. Also habe ich mir drei Sätze zurechtgelegt, um der Kritik zu begegnen. Ich mag mich, wie ich bin, vielleicht könnte dir das auch gelingen, war einer davon. Bei Konversationen über meinen Beruf spielte ich einen Seemann auf einer langen Schiffsreise, der nicht weiß, wann, aber doch sicher, daß er sein Ziel erreicht. Unsere Mutter hat schon mal Schmuck testamentarisch verteilt. Der Armreif paßt mir nicht, sagte ich, aber ich würde ihn gerne behalten, um ihn weiterzuvererben.
Und so hatten wir ein harmonisches, freudvolles Weihnachten ohne Dich und ohne verbales Einprügeln auf mich. Vielleicht spiegeln mir unsere Eltern nur die Kritik, die ich an mir selbst übe, und meinen es nur gut.
Unser Vater ist alt geworden, Schwester, und wenn ich Dir einen Rat geben kann… ich jedenfalls habe Zeit mit ihm verbracht – bewußt, spannend, genußvoll.

Seit einigen Jahren haben unsere Eltern und ich ein kleines Ritual: wir sitzen an einem der Weihnachtsfeiertage in einem Restaurant und kommen in unserem Gespräch an einen Punkt, der mich zum heulen bringt. Normalerweise handelt es sich dabei um Kritik an mir, aber wie gesagt, 2007 ist das Jahr, in dem ich mich nicht mehr so ernst nehme, in dem mir mehr Dinge egal sind, also wars dieses Jahr was anderes, daß mich zum heulen gebracht hat.
In jeder Familie gibt es Dinge, über die nicht geredet wird. In unserer Familie ist das eine Geschichte, die man in sehr wenigen oder in sehr vielen Sätzen erzählen könnte und die die meisten Menschen wahrscheinlich nicht nachvollziehen können… ich machs jetzt mal kurz: wir hatten ein Pferd, dessen Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war und das wir mit der Flasche aufgezogen haben. Als das Pferd vier war, als ich siebzehn war und Du, Schwester, vierundzwanzig, hat sich das Pferd in Deinem und in meinem Beisein das Genick gebrochen.
Jedenfalls, unsere Eltern und ich sitzen da in der Gaststätte Krone, das Essen ist gerade gekommen und ich löffle Spätzle auf meinen Teller, da sagt unsere Mutter plötzlich, daß ihr nach all den Jahren die Sache mit I., dem Pferd, doch immer noch nahe geht, daß sie manchmal nachts im Bett liegt und es brennt in ihr.
Und ich bin völlig perplex, weil wir darüber sonst wirklich nicht reden, und meine Nase wird rot und ich habe Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ich mag nicht in der Öffentlichkeit heulen.
Jedenfalls führt unsere Mutter in allen qualvollen Details, die ich echt erfolgreich verdrängt habe, aus, wie das damals war, und einer ihrer Halbsätze lautete, daß Du, Schwester, an jedem Nachmittag entgegen alle Abmachungen gehandelt hättest.
Ich habe zu viel vergessen von diesen Nachmittag, und letztendlich war es ganz einfach ein Unglücksfall, aber manchmal denke ich, daß nicht nur der Wirbel gebrochen ist, der dieses Pferd im Leben gehalten hat, sondern auch etwas zwischen Dir und mir und Dir und uns dreien.
Und natürlich etwas in mir, weil ich verloren habe, was ich geliebt habe – wohl zum ersten, sicher nicht zum letzten Mal in meinem Leben. Ich will mich nicht beklagen, ich weiß, das geht allen so, das Leben ist eben ein dynamischer Prozeß. Loslassen nennen das die Psychologen und Esoteriker, dabei wird eigentlich etwas aus einem herausgerissen. Ich beneide Dich, Schwester, weil die Sensibilität nicht gleichmäßig zwischen uns verteilt wurde: Du hast eine dicke Haut, ich eine dünne. Du hast es besser.

(ohne Titel)

Nachdem ich mich gestern beim Universum über den Mangel an erotischen Träumen im Hause Fragmente beschwert habe, wurde mir folgender Traum geschickt:

The Cure haben ihre Fans eingeladen, vorab das Veranstaltungsgelände des Promokonzertes für ihr neues Album zu besuchen. Ich wandere an der Bühne vorbei durch verschiedene Räume, alles ist in jenes blaue und violette Licht getaucht, daß The Cure auch in der Realität bei ihren Bühnenshows benutzen. Schließlich gelange ich backstage. Ich dürfte eigentlich nicht hier sein, mich hat aber auch niemand aufgehalten.
Und wie ich da so stehe, läuft Robert Smith an mir vorbei. Ich bin aufgeregt, fasse mir aber ein Herz und spreche ihn an. Nach ein bisschen small talk fragt er, wie mir der Veranstaltungsort, das neue Album und das Konzept gefallen würde. Er selbst findet es super, so gut wie Sex, sagt er.

Und ich sage: no, not like Sex. It’s like falling in love…

(ohne Titel)

„Entschuldigung“, sagt der junge Mann in der Fußgängerzone und läuft auf mich zu. „Können Sie mir helfen?“. Ich bleibe nicht stehen, aber ich lächle. „Haben Sie den Wal vorbeischwimmen sehen?“, fragt er.

Der Scherz bleibt mir verborgen.

***

„Ich hoffe, das ist jetzt nicht zu creepy…“, sagt sie.
„Du könntest niemals creepy sein“, sage ich.

Nein, ich habe keinen Wal gesehen. Aber ich habe eine Perle gefunden.

what’s in a name

Ich habe neulich einen pissigen Brief an meinen Energielieferanten geschrieben. Ich schreibe ungern pissige Briefe. Pissige Briefe sind was für Menschen, die nicht ausgelastet sind, und ich bin voll ausgelastet mit meinem Job und meiner komplizierten Psyche. Ein bisschen wie ein Pentium III mit 256 MB RAM, dessen CPU zu 100% ausgelastet ist und der dennoch nach gewisser Wartezeit und eifrigen Rattern grafiklastige Websites öffnet. Pissige Briefe zu schreiben sind meine grafiklastigen Websites – man geht dort nicht hin, wenn es nicht wirklich dringend ist. Strompreiserhöhungen nehme ich also klaglos hin, falsche Heizkostenabrechnungen nicht. Mein Energielieferant und ich hatten Streit, weil auf meinen Heizkostenverteilern (=Dinger am Heizkörper, wußte ich vorher auch nicht) was anderes stand als auf der Rechnung. Das war dieses Jahr so, das war letztes Jahr so, das wird auch nächstes Jahr so sein. Ich schreibe dann immer einen höflichen Brief an meine Hausverwaltung mit dem Wort Einspruch darin, und dann ruft mich Herr Scholek vom Energielieferant an. Auf dem Mobiltelefon. Wäre mein Leben Firefox auf einem Pentium III, dann wären Anrufe auf dem Mobiltelefon wie ein Browserabsturz („sofort beenden“. Nachts um drei geweckt werden wäre dann wie ein Systemabsturz, um mal in der Metapher zu bleiben.)
Herr Scholek terrorisiert mich also auf dem Mobiltelefon. Wir machen einen Termin aus, er kommt frühmorgens vorbei, meistens schaffe ich es nicht, mir einen Büstenhalter anzuziehen. Für den armen Herrn Scholek bin ich vermutlich genauso sehr eine Strafe wie er für mich. Dann wollte er noch einen Termin und noch einen Termin und ich blicke da nicht mehr durch und hätte dann doch gerne mal was schrifliches, weil ich Akademikerin bin. Wir lieben Papier, wir stehen auf Buchstaben.
Also habe ich einen pissigen Brief geschrieben, es fiel mir nicht leicht. (Die Vermutung, Herr Scholek könnte eventuell Legastheniker sein, habe ich außen vor gelassen, darüber macht man keine Witze.) Auf meinen pissigen Brief habe ich etwa vier Wochen keine Antwort erhalten, also habe ich vorgestern einen pissigen Brief geschrieben, in dem stand, daß ich einen Brief geschrieben hätte und nun doch gerne Antwort hätte. Den Brief habe ich gefaxt! Es scheint ein Naturgesetz zu sein, daß Faxe viel schneller beantwortet werden als eMails oder Briefe. Heute hatte ich Post von meinem Energielieferant. Wenn Sie bis jetzt mitgelesen haben und sich fragen, was die Frau Fragmente eigentlich sagen will – hier kommt die Pointe: der Brief war von einer Frau Inspektorek .
Ich stand etwa fünf Minuten im Treppenhaus, starrte auf den Brief und fragte mich, ob die mich verarschen wollen. Ob Herr Scholek sich einen Spitznamen für mich ausgedacht hat, Frau Inspektor vielleicht, weil ich immer so viel nachfrage, und dann sein eigenes -ek angehängt hat. (Wenn ich so drüber nachdenke, nervtötende Schwabbelsau wäre vielleicht der Spitzname gewesen, den ich mir gegeben hätte, wäre ich Herr Scholek).
Dann glitten meine Augen tiefer, auf die Mailadresse von Frau Inspektorek. Ihren wirklichen Vornamen kann ich nicht posten, sie steht im Telefonbuch, aber so ungefähr sah die Mailadresse aus:

gracia.inspektorek@energielieferant.de

Ich wäre nicht Frau Fragmente, wenn ich der Sache nicht weiter nachgegangen wäre:

Absolute geographische Verteilung des Namens „Inspektorek.“

Ich hoffe, die Dame googelt sich nie selbst, und wenn, daß sie mir diesen Eintrag nicht übel nimmt. Ist ja eigentlich kindisch, diese Faszination von einem Nachnamen, aber: made my day.

nachts um drei, wenn der Geist schutzlos und nackt ist.

Um drei klingelt es. Es ist nicht der Wecker.
Drei Uhr tut weh, körperlich und real, nicht im übertragenen Sinn. Meine Brust zieht sich zusammen, mein Herz klopft wie wild.
Es klingelt, es ist nicht der Wecker, aber was ist es? Ich spinge auf, laufe durch die dunkle Wohnung. Das Klingeln hört auf, natürlich, wie könnte es auch anders sein. Ich lege mich wieder hin, der Nacken verkrampft, einen sauren Geschmack im Mund, mein Magen knurrt.
Ich gehe in meinem Geist anderswohin, wo ich den Schlaf vermute, und finde nur dunkle Gedanken. Dann klingelt es wieder. Ich stehe auf, was ist es? Rauchmelder?
Es ist das Telefon. Ich gehe ran und höre nur ein Freizeichen mit Rauschen und Knistern. Ich lege auf, es klingelt wieder, ich gehe dran, Freizeichen. Dieses Spiel spielen wir schlaftrunken eineViertelstunde lang. Dann ziehe ich den Stecker und suche eine Erklärung. Ich vermute, daß die Störung mit dem Haustelefon der Frau im ersten Stock zusammenhängt. Sie telefoniert gerne intern mit ihrer gebrechlichen Mutter im Erdgeschoß. Mein schnurloses Telefon scheint auf einer ähnlichen Frequenz zu arbeiten, denn kürzlich konnte ich ihr Gespräch auf meinem Telefon mithören.
Wieder im Bett, mein Geist schutzlos und nackt, grüble ich: ist meinem Vater etwas passiert? Oder Ruth? Fran würde sicherlich ihren Freund anrufen, wenn irgendetwas wäre, meine Mutter meine Mobilnummer.
Ich finde lange keinen Schlaf, die Muskeln in meinem Nacken ganz verspannt, weil sie einen so schweren Kopf tragen müssen.

Lektionen in Demut.

Ich war bei der Bank, ich habe mein Auto reparieren lassen, ich habe die Novembermusik verschickt. Ich habe die Daten aus der Maschine ausgewertet und meine Wohnung geputzt. Ich habe die Mutter meines Nachhilfeschülers besucht und ausreichend geschlafen.
Und jetzt, wo die Welle an Aufgaben über mich hinweggerauscht ist, ich endlich wieder in ruhigere Gewässer komme und auch mal wieder Zeit habe, ein Buch zu lesen – jetzt kommt die Depression.
Ganz sicher geht das wieder vorbei, ich habe da ja Erfahrung, vielleicht schon nächsten Mittwoch, wenn das Sturmtief über Deutschland hinweggezogen ist und ich nicht mehr im Bett liege und mich allein fühle, während draußen die Regentropfen gegen die Scheibe trommeln und die Fensterläden im Wind klappern.
Was mich bedrückt, das ist hier zu sein, in diesem Projekt festzustecken, in dieser Wohnung festzuhängen, in dieser Stadt festzukleben wie eine Fliege in Klebstoff: ich ziehe und ziehe und ziehe und komme nicht weg. Das macht mich müde.

Vielleicht ist es genau andersherum, und ich bin die ganze Zeit unterwegs, wie ein Schiffsjunge auf einem Segelschiff und warte darauf, anzukommen. Aber ich bin nicht der Kapitän, ich bestimme nicht den Kurs und kann nur jeden Morgen hoffen, endlich Land zu sehen.

Ich habs ja nicht so mit Ratschlägen. Für 110 Euro habe ich aber einen wirklich guten bekommen: ich solle folgenden Satz in meinem Herzen tragen (aber nicht auf meinen Lippen) –
Meine Zeit wird kommen.

Bis dahin heißt es Lektionen in Demut und trotzdem den Mut nicht verlieren, sondern ein fleißiger Schiffsjunge sein. Es sind wertvolle Lektionen, die mir später sicherlich nützlich sein werden, ich sollte dankbar sein. Aber manchmal liege ich im Bett, der Wind tobt draußen und ich bin traurig.