24. November 2020

Ziemlich sehr guter Tag. Wieder im Büro. Erstmal meinen Schreibtischstuhl vom Papierstapel befreit, das hatte mir meine Mitarbeiterin schon angekündigt. Zwei, drei Sachen weggearbeitet. Videokonferenz mit Legal, wir wollen zusammen einen sturen Bock in einem anderen Land überzeugen und haben unsere Strategie beraten. Unklar, ob der sture Bock die fachliche Grundlage einfach nicht versteht, oder ob es ein Machtspiel ist. Wahrscheinlich beides.

Den Rest des Tages nur in Gesprächen verbracht, beginnend mit einem langen Lunch mit der Geschäftsführung. Gehorcht, wo es drückt und knarzt, wo es flutscht und gelingt, was so passiert ist und wie die Zukunft aussieht. Zart begonnen, über das nächste Jahr nachzudenken.

Mal wieder verwundert gewesen, wie viel wirklich wichtiges in einem kurzen Halbsatz zum Ausdruck gebracht wird, und wieviel unwichtiges lang und breit wiederholt wird. Keine Kritik, denn ich denke, das passiert unbewusst, mir wahrscheinlich auch.

Würde manchmal gerne nicht so oft hören, dass mein Geschäftsführer nicht vor hat, hier bis zur Rente durchzuhalten.

Am späten Nachmittag noch ein langes Gespräch mit einem Mitarbeiter, den ich geerbt habe und mit dem es eher schwierig läuft. Oder anders: über den ich mir viele Gedanken mache, und mich frage, ob ich ihn richtig führe. Heute gemerkt, dass ich zumindest nicht so viel falsch mache. Die Leistung zieht an, die Identifikation mit den Aufgaben verbessert sich, und ich habe ein besseres Gefühl dafür, welche Aufgaben zu ihm passen. Auch über seine Fehler gesprochen, eine sehr reflektierte, respektvolle Antwort bekommen. Muss nur aufpassen, mich nicht einwickeln zu lassen.

Es wird spannend sein für mich, diesen Eintrag in ein paar Monaten zu lesen und zu sehen, was sich bewahrheitet hat und was nicht.

Über die nachtschwarze Autobahn nach Hause gefahren, ein bisschen zu schnell, die weißen Markierungen ein visuelles tschick tschick tschick. Das Auto mit Tempomat gesteuert, ein winziger Knopfdruck, und es beschleunigt hoch oder nimmt Geschwindigkeit raus.

Heute gelingt alles, ein schnelles Denken, konzentriert und mühelos. Die Möglichkeit eines Knalls wie ein leichter Geschmack im Mund, eine Idee nur, flüchtig, denn der Asphalt ist trocken und hat Grip.

Kontakttagebuch: Geschäftsführung (Konferenzraum mit Abstand ohne Maske), Mitarbeiter (Konferenzraum mit Abstand ohne Maske), Anleitung eines jungen Mitarbeiters mit Maske, paar Kollegen mit Maske, die Dame vom Thai-Restaurant beim Pickup mit Maske, Nachbar hat Paket vorbeigebracht ohne Maske aber draußen mit Abstand, Muttern.

23. November 2020

Am frühen Nachmittag hätte ich beinahe gebloggt. Ich hatte schon einen ersten Satz im Kopf, mir gerade einen Noitzblock für eine grobe Gliederung zurechtgelegt – ja, es wäre so ein Eintrag gewesen, der ein paar Notizen vorab erfordert hätte – aber dann war wieder irgend etwas, ein Anruf, eine Email, ein anderes Bedürfnis, und es war vorbei.

Es ist dann nicht weg, es schläft nur, das kleine Tier mit weichem Fell, blinkenden Augen und neugieriger Nase. Es hat sich zusammengerollt in einem Astloch. Draußen ist es dunkel geworden, der Tag ist vorbei.

Kontakttagebuch: Muttern.

22. November 2020

Heute musste ich gar nichts machen. Gar nix! Wunderschön. Sollte ich mir rot im Kalender markieren.

Ich hatte sogar überlegt, heute nicht zu bloggen. Aber ich tippe noch ein bisschen, habe ich Lust drauf, ich kann ja jederzeit aufhören.

Gestern ein schönes (kurzes) Buch gelesen, The Empress of Salt and Fortune: großartige Sprache, kluger Erzählstil, bindet wunderbar die Vorstellungskraft der Lesenden mit ein, und ist herzerwärmend und grausam zugleich. John Scalzi hat auch einmal was mit einer Emperox geschrieben, der erste Band heisst The Collapsing Empire, der letzte heisst The last Emperox – eine feine Serie, auch wenn sie zum Ende hin etwas schwächelt.

Noch anderthalb weitere Bücher weggesnackt, keine große Literatur, aber vergnüglich, mit meinen üblichen leichten Themen Aliens, Interspecies Romance, Enemies to lovers.

Mich zwischen Bett und Sessel hin- und herbewegt, gelegentlich einen Zwischenstopp in der Küche oder eine Pinkelpause, bisschen TikTok, Twitter, TV. Nichtmal einen BH habe ich heute angezogen.

Im Fernsehen bekommen die Querdenker zu viel Sendezeit, auch die AfD, finde ich. Jeden Tag wird über irgendeine Demo berichtet, das soll Meinungsvielfalt und unvoreingenommene Berichterstattung symbolisieren, glaube ich, aber es normalisiert eine marginale Gruppe und löst bei mir ein Unbehagen aus.

RTL2 macht sich große Sorgen um das deutsche Weihnachtsfest, und geht kritisch der Frage nach, ob es okay ist, dass Instagram-Influencer gerade Urlaub in Dubai machen. Al Jazeera macht sich große Sorgen um ökonomisch schwache Länder, die entscheiden müssen, ob ihre Einwohner an COVID-19 sterben oder aufgrund eines Lockdowns verarmen und verhungern.

Verdrängung ist, was uns über Wasser hält. Ich eile zurück zu meiner Alien Romance, denn da kann ich mir sicher sein: es gibt ein Happily Ever After.

Kontakttagebuch: absolut niemand! Herrlich.

21. November 2020

Meine Mutter wird nächste Woche in ihrer… hm, „best ager“- Gruppe einen Vortrag halten, und zwar mit Präsentation und per Zoom. Vorträge halten kann sie ziemlich gut, Folien für eine Präsentation erstellen auch einigermaßen. Mit Zoom klappt es pandemiebedingt ganz gut, sie hat mich viel gefragt zum Thema Beleuchtung, Weichzeichner, voreingestellte Hintergrundbilder. Aber das Teilen des Bildschirminhalts per Zoom ist ihr suspekt, deswegen hatte sie mich heute gebeten, das mit ihr zu üben.

Ich habe erst einmal die Präsentation glattgezogen, bis sie zu mir gesagt hat: das sehen die doch gar nicht, dass die Schriftart auf der Folie kleiner ist! Dann haben wir ein Test-Zoom gemacht, ich mit Handy in ihrer Küche, sie in ihrem Arbeitszimmer am Laptop. Es rumpelt an überraschenden Stellen, zum Beispiel wo man den Ton anmacht, andere Sachen funktionieren sehr gut, F5 für die Bildschirmpräsentation, ahja. Meine Mutter sagt dann gerne das muss ich mir aufschreiben, und macht Notizen auf so halb abgeschnittenen Papierresten, mich macht das wahnsinnig, aber ich finde es auch irgendwie charmant, es gehört zu ihr, es begleitet mein Leben, kleinere von ihr beschriebene, mit der Schere zurechtgeschnittene Zettelchen irgendwo zu finden.

Meine Mutter ist eine solide Technik-Nutzerin, was ich in den letzten Jahren auch dadurch befördert hat, dass sie zu jeden Fest ein Endgerät geschenkt bekommen hat – natürlich immer mit Installation, Einführung, und kleiner Schulung von mir. Die Begeisterung ist unterschiedlich. Sie nutzt gerne und häufig ihr iPad, das Smartphone hingegen dient hauptsächlich als WhatsApp-Quelle und manchmal zum fotografieren. Der Laptop ist für sie eine glorifizierte Schreibmaschine, auch online-Banking findet darin irgendwie statt. Sie tut sich recht schwer damit, wo Sachen abgespeichert sind, welche Dateiformate es gibt, wie das mit Anhängen funktioniert und mit scannen. Ist das dann in meiner Email? ist so eine Standardfrage, ihre Vorstellung des Aufbewahrungsortes für Daten überrascht mich oft. Heute haben wir gemeinsam etwas in die Cloud hochgeladen, das war aufregend.

Ich hoffe, das liest sich jetzt nicht, als würde ich mich über sie lustig machen. Ich bin ziemlich stolz auf sie. Ich frage mich, was mir schwer fallen wird, wenn ich in ihrem Alter bin, welcher technologische Schritt mir trotz aller Bemühung fremd bleiben wird.

Ich hatte mit meinem Geburtsjahr ziemlich Glück, denn als ich zu jung für das Internet war, gab es noch keines, und als es dann da war, war ich gerade im Studium und hatte viel Zeit, die ich im Computerpool der Uni vertrödelt habe. Neulich, bei der Suche nach den Unterlagen der Rentenversicherung, habe ich einen Schein für Internetbrowsing auf dem Mac gefunden, von 1998 oder so. Auch irgendwie dankbar, dass ich nicht mehr jung und ausgehhungrig mitten in einer Pandemie bin, oder alt und pflegebedürftig. Und auch nicht mitten in einem Weltkrieg geboren, wie meine Mutter.

Ich schreibe eigentlich nicht so viel über meine Mutter. Es kommt mir non-consensual vor. Ich vermute, dass sie hier nicht mitliest, aber ganz sicher bin ich mir nicht – sie kann jedenfalls im Internet surfen. Es war nur so ein süßer Moment heute, ich wollte das gerne festhalten.

Für die Präsentation nächste Woche habe ich extra meine Home-Office-Rotation verlegt, damit ich ihr technischen Beistand leisten kann. Wünschen Sie uns Glück!

Kontakttagebuch: Muttern.

20. November 2020

Morgens mit Kopfschmerzen aufgewacht, das war nicht schön. Ich habe sehr selten Kopfschmerzen, das ist ein Glück, muss aber irgendwie im Schlaf zu viel geschnarcht oder nicht genug Luft bekommen haben. Jedenfalls den ganzen Tag gekränkelt, auch ein bisschen Übelkeit – ob das eine atypische Migräne ist? Oder einfach nur das Alter? So langsam sollte ich mich jetzt aber mal wirklich mehr um meine Gesundheit kümmern.

Zwei 400ter Ibu eingeworfen, mäßig vor mich hingearbeitet. Nachmittags ein halbes Stündchen auf der Couch gelegen, Konzentration war nicht so gut, und meinen Vater gechannelt. Eine meiner beständigsten Kindheitserinnerungen ist die von meinem Vater, wie er nachmittags auf den verschiedensten Sofas genüßlich ein Nickerchen hält, im Sommer gerne auch auf der Gartenliege unter dem blühenden Kirschbaum, und ein Hund zu seinen Füßen.

In der Mittagspause zum Metzger spaziert. Der Metzger schlachtet selber und ist über das Dorf hinaus sehr bekannt. Ich war noch nie dort, obwohl ich nun schon bald fünf Jahre hier wohne. Der Metzger schließt, wie das auf dem Dorf so üblich ist, um halb sieben, das ist für mich natürlich normalerweise viel zu früh. Von der Metzgerei selbst eher enttäuscht gewesen. Die Auswahl limitiert, die Qualität auf den ersten Blick gar nicht so überzeugend, und es gibt einen Mittagstisch, den ich gar nicht ansprechend fand. Andererseits wäre es ja auch viel tragischer gewesen, wenn es eine sensationelle Metzgerei gewesen wäre, in Laufweite von meinem Zuhause, und ich hätte fünf Jahre lang was verpasst.

Mit Francine telefoniert, das war sehr schön, und ihr von der Metzgerei erzählt. Francine hat mich – klarsichtig wie sie ist – darauf hingewiesen, dass ich bereits einige gute Metzgereierlebnisse hatte. Zum Beispiel hat mir neulich die Fleischereifachverkäuferin das Endstück eines Schinkens (vom Wollschwein, sauteuer) geschenkt. Es hatte sich im Gespräch ergeben, dass sie nicht verheiratet ist, worauf ich gesagt habe, dass ich auch nicht verheiratet bin und das ganz wunderbar finde. Zack – Schinken!

Kontakttagebuch: Metzgerei mit FFP2-Maske, Muttern.

19. November 2020

Heute mehrere Stunden in einer Online-Schulung gewesen, die als mandatory angekündigt war und qualitativ meine ohnehin schon äußerst geringen Erwartungen zutiefst enttäuscht hat. Mich aufgeregt, mich abgeregt, ein guter Mann (von mir eingestellt!) hat stellvertretend für uns alle seiner Wut Luft gemacht. In weiser Vorrausicht hatte ich mich auf dem Mobiltelefon in die Schulung eingeloggt, Kamera aus, und irgendwann wanderte das Telefon in die Hosentasche, Kopfhörer auf, und allerlei privates erledigt. Die Vorzüge des Home Office.

Erledigungsmäßig komme ich so langsam an den Grund, an den Bodensatz – in meinem Fall: Kontenklärung bei der Rentenversicherung. Ich war nämlich im Herbst 2018 persönlich dort, und nun, kaum zwei Jahre später, suche ich die notwendigen Dokumente für die Nachreichung zusammen.

Einen persönlichen Termin bei der Deutschen Rentenversicherung kann ich nur dringend empfehlen. Es ist ein Abtauchen in eine andere Realität, in Amtsflure und hellgraue Büromöbel, die mit bunten Bildern aus dem kostenlosen Apotheken-Kalender dekoriert sind. Davor die gerahmten Bilder der Familie, für die man das hier alles tut. Das klingt despektierlicher, als ich es meine: alles hat seine Ordnung, sein Formular, seinen Ablauf und seine Uhrzeit. Ich war fasziniert, abgestoßen und neidisch, alles auf einmal. Ich konnte mich fügen, ich konnte mich dem Prozess ergeben, und alles läuft in einer Geschwindigkeit wie eine Miniatureisenbahn für Kinder auf dem Weihnachtsmarkt.

Jedenfalls: der Deutschen Rentenversicherung fehlen Nachweise über meine Studienzeit. Beim Abtauchen in die Ordner ein Bild von mir gefunden, ganz klein, vielleicht für einen Ausweis gedacht. Ich im Laborkittel, die Haare rot, hinter mir die Tür zum Labor, darauf ein paar Warnaufkleber, nicht zu sehen, weggeschnitten, aber ich weiß, dass sie da sind. Ich sehe jung aus, ein offenes Lächeln, hellwach, und doch dunkle Ringe unter meinen Augen.

Meine Promotionsurkunde möchte die Deutsche Rentenversicherung auch, ich halte sie in der Hand und erinnere mich: irgendjemand hatte mir erzählt, dass die Dekanin, zu der ich ein okayes Verhältnis hatte, demnächst drei Wochen in den Urlaub fährt. Ich brauchte die Urkunde aber zeitnah, weiß nicht mehr warum, also bin ich hingegangen und habe sie freundlich danach gefragt. Kein Problem, hat sie gesagt, drucke ich dir schnell aus! Sprachs, legte ein Blatt in den Farbdrucker, und dann kam sie da raus, die Urkunde. Weil die Patrone fast leer war, ein bisschen fad, sollte ich also wirklich bald mal der Rentenversicherung vorlegen, ehe alles verblasst.

Ich habe das neulich in einer Coaching-Session erzählt. Es ging um Übergänge und rites de passage und was fehlt. Ich träume relativ häufig, ich hätte die Doktorarbeit nicht abgeschlossen. Manchmal ist es auch irgendein Mathe-Schein, der fehlt. Aber meistens muss ich noch einmal an die Bench, so wie ich das hier erzähle, fast zehn Jahre ist der Blogeintrag alt. Ich rechtfertige mich, ich erkläre, dass ich doch bereits einen Job habe, ich schäme mich, dass ich vergessen habe, die Promotion zu beenden.

Vor ein paar Wochen hatte ich wieder diesen Traum, aber die Scham war weg. Jemand hat mich erinnert, hier, musst du noch fertig machen, und ich habe recht cool gesagt: ich habe da noch ein paar Daten auf dem Laptop, ich wurstel das irgendwie hin. Kein Ding.

Vielleicht wird er in einer oder zwei Dekaden ganz verschwunden sein, der Traum.

Ich war gerne im Labor. Ich mochte es, dem Protokoll Schritt für Schritt zu folgen, zu wissen, welche Stellen ich abändern kann, und welche nicht, wo ich ganz genau sein kann, und wo es reicht, zu schätzen, wo die Sekunden zählen, und wo es auf die Viertelstunde nicht ankommt. Wo etwas heiß war und kalt wird, stetig fließt oder erhärtet, die Farbe wechselt oder den Aggregatszustand. Aber die Liebe ist irgendwann gestorben, erstarrt und leblos geworden zwischen den zweiundsiebzig Proben, die ich immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder und immer wieder pipettiert habe, nachts um zwölf, allein unter Neonlicht und zwischen surrenden Maschinen, während es immer kälter wurde, die Hand bandagiert. Sehnenscheidenentzündung.

Ich darf nicht warten, sagt mein Coach, dass mir jemand einen Stempel gibt, und ein Fleißbienchen schon gar nicht, mich zertifiziert für den nächsten Schritt. Die Erlaubnis kann nur ich mir selbst geben.

Kontakttagebuch: Muttern.

18. November 2020

Gegen Ende des Tages ein kleiner Endorphinrausch, und das kam so:

Mein Geschäftsführer hatte an den Head of meiner Abteilung overseas eine kurze Email geschrieben, sich für eine Initiative bedankt und mich cc gesetzt. Der Head of hat ihm geantwortet (und vergessen, mich aus dem cc rauszunehmen), denn im letzten Absatz stand:

Und übrigens, wir sollten bei Gelegenheit mal über Fragmente sprechen, sie ist wirklich sehr, sehr, sehr gut.

Was mein Geschäftsführer natürlich bestätigt hat.

Ich habe dieses Jahr ein paar richtig große Räder gedreht, manche drehen sich auch noch. Das war schwer, ich war da ein paar Mal wirklich sehr weit außerhalb meiner Komfortzone, aber ich bin daran natürlich auch gewachsen. Und es war für mich einfach wichtig, das zu tun, was ich für richtig erachte, um der Organisation, für die ich arbeite, zu dienen.

Es könnten sich Türen für mich öffnen, wenn ich will – aber was will ich? Und was bin ich bereit, dafür zu geben? Ich weiß ganz gut Bescheid über den Preis von Veränderung, was ich tun müsste und was es mich kosten würde.

Also – was will ich? Das Materielle reizt mich nicht mehr sonderlich. Ruhm und Ehre und die großen Titel: ein bisschen. Macht? Ziemlich, und zwar als Mittel, um durchzusetzen, was mir wichtig ist, ohne mir von zu vielen weißen Männern reinquatschen lassen zu müssen. Mehr Truppen? Das wäre ein Traum – der Traum, sich nur noch auf ausgewählte Themen konzentrieren zu köennen, und hoffen, dass es kein böses Erwachen gibt. Mehr mit Profis, mehr konzeptionell denken, mehr netzwerken, noch mehr über meine Organisation zu lernen und die Menschen darin und ihre Geschichten, Themen und Anliegen.

Ein Teil von mir hat große Lust darauf, und ein andere Teil von mir will vor allem seine Ruhe, sich nicht mehr schinden, im Sessel sitzen, TikToks schauen und billige Taschenbücher lesen.

Am Tag vor der Abreise bereue ich meistens sehr, in den Urlaub zu fahren. Ich würde lieber zuhause bleiben. Hinterher hat es mir dann aber stets sehr gut gefallen.

Ich weiß, was die Dinge kosten, und ich weiß so einiges über Veränderung. Es gibt die tiefen Schnitte: der erste Tag in einem neuen Job. Das Flugzeug, das uns woanders hin bringt, und die Luft fühlt sich anders an und das Licht, Sandalen statt Wintermantel. Jemand stirbt, und jemand wird geboren.

Es gibt aber auch die andere Veränderung, die kleine, in Inkrementen. Gewohnheiten, die sich zueinander addieren. Kleine Verschiebungen. Säen, ausdünnen, umtopfen, zurückschneiden, und dann: ein Garten.

Vielleicht so.

Kontakttagebuch: Spaziergang mit Muttern, blauer Himmel und Sonnenschein.

17. November 2020

Mit eher griesgrämiger, lasst-mich-alle-in-Ruhe Laune in den Tag gestartet; Stimmung wurde dann zum Glück immer besser.

Einen sehr kleinteiligen Review endlich abgeschlossen. Die länderübergreifende, von oben angeordnete Herangehensweise ist so aufwendig, mühsam und sinnentfremdet, dass (i) es einen echten Anreiz zum Schummeln gibt, und (ii) man nur noch darauf hinarbeitet, das Dokument zu bearbeiten, und nicht mehr die Aufgabe, die mit diesem Dokument verwaltet werden soll.

Den Sachverhalt meinem Chef dargelegt, das Wort „Ressourcenknappheit“ verwendet, und eine längere Email seinerseits an einen größeren Verteilerkreis ausgelöst, in der er an den Grundpfeilern des Reviews rüttelt. Wohlmeinend, aber wenig erfolgversprechend. Mit ihm videogechattet, eine andere Strategie entwickelt, gute Gründe gehabt, um auch ein wenig sauer zu sein auf ihn, aber er hat, wenn er gut drauf ist, so eine Art, sich zu erklären und um Verständnis zu werben, die mich milde stimmt. Und gut gemeint wars schon.

Bisschen überlegt, woher die Stimmungsschwankungen kommen. Ist es wirklich nur die Pandemie? Also, „nur“, meint: eine Pandemie, die für mich persönlich wenig Einschränkungen mit sich bringt, außer der stärkeren Klarheit als sonst, dass das Leben endlich ist.

Wahrscheinlich liegt es eher am Rollenwechsel, am Spannungsfeld zwischen eingebunden und im Austausch und in Resonanz sein wollen, und auch sehr viel Zeit ganz für mich alleine zu brauchen. Ich dachte früher, ich bin introvertiert, aber jetzt bin ich einfach nur ich selbst.

Die Antwort liegt mir auf der Zunge, verrutscht dann wieder ins Unscharfe, ich bin noch unentschlossen, ob ich wirklich so genau hinschauen möchte.

Weihrauch verbrannt, wussten Sie, dass man dazu gar nicht in die Kirche gehen muss?

Ein bisschen gelesen, mir ist nach etwas ganz seichten, klischeehaften, vielleicht etwas mit Aliens und einer Frau, die gerettet werden muss. Noch nicht über diverse Leseproben hinausgekommen.

Mit der zauberhaften Sarah telefoniert, ein Highlight. Sie fehlt mir. Wir werden uns erst einmal nicht persönlich treffen, nicht, weil es verboten wäre, sondern, weil es das richtige ist. Sie war ein bisschen überrascht, dass ich noch kein graues Haar habe – aber ich bin ja auch noch nicht so alt?

Kontakttagebuch: Muttern.

16. November 2020

Unruhige Nacht mit dunklen Träumen, in deren Bilder ich auch nach dem Aufstehen noch eine ganze Weile gefangen bleibe.

Home Office diese Woche. Produktivität heute niedrig, zumindest fühlt es sich so an. Mit allem latent unzufrieden.

Die Ministerpräsidentenkonferenz beschließt weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, aber eigentlich dann doch nicht. Alles lasch. Frau Dr. Merkel guckt in der Pressekonferenz, wie ich mich fühle.

Abends geht dann doch noch ein Licht auf: eine Freundin hat einen neuen Job gefunden, vielleicht sogar eine neue Berufung. Und eine andere hat ein Kind bekommen. Und für beide freue ich mich aufrichtig.

Kontakttagebuch: ein kurzes Hallo von Muttern, die sich heute mit einer ihrer Freundinnen getroffen hat.

15. November 2020

Leichter Schmerz, weil das Wochenende schon wieder vorbei ist.

Über die Ungerechtigkeit, dass gerade dann, wenn ich mich soweit regeneriert habe, um das Leben so richtig genießen zu können, der Montag anbricht, habe ich bereits ausreichend gerantet, glaube ich. Das Wochenende dient eben nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft, das hat der Kapitalismus so vorgesehen. Vielleicht ist aber das Leben ohnehin das, was passiert, wenn man gerade nicht so genau hinguckt.

Über Weihnachtsgeschenke nachgedacht, Ablage gemacht, paar Serien runtergeladen, Musik gehört, TikTok. Nix gelesen. Mit der Freundin telefoniert, die morgen ein Kind bekommt – aufregend!

Noch einen Film geguckt, ein Schritt zuviel, über Liebe, Macht, und Geld, diese drei. Viele der Locations wiedererkannt. Der Banker Friedrich (Nicki von Tempelhoff) überschüttet seine junge Geliebte mit Liebe, sie aber wendet sich jemanden zu, der vor allem sein eigenes Ding macht. Ich fand die Vorstellung, so im Zentrum der Aufmerksamkeit und Hingabe zu stehen, gar nicht so unattraktiv. Am Ende aber ist jemand tot, jemand anderes muss ins Gefängnis, und ich bin ganz froh, alleinstehend zu sein und emotional schön zwischen vier und sieben.

Eigentlich eine gute Geschichte für Paartherapie, aber das deutsche Fernsehen kann eben nur Krimi.

Kontakttagebuch: heute wirklich niemanden, nichtmal meine Mutter.