Fragen stellen

Etwas leichtes soll ich schreiben. Es sind schwere Zeiten, schwere Gedanken manchmal, und ein schwerer Text in mir drin, über letzte Atemzüge und sowas. Ein Text für später, wenn wir dies hier heil überstanden haben, und ein solcher Text sich nicht mit Grauen läse, sondern nur mit wohligem Gruseln, das schnell verschwindet.

Etwas leichtes also. Ich habe auf Twitter gefragt, und Twitter möchte wissen: gibt es wirklich eine Dienstagshose? Was machst du eigentlich den ganzen Tag (im Home Office)? Was macht das Home Office mit dir? Scheib doch mal was über Novemberregen.

Frau N. war heute leicht verspätet aufgrund diverser Technikhürden, die sie mir eloquent berichtet hat, und die sie alle überwinden konnte. Außerdem hatte sie bis wenige Minuten vor unserer virtuellen Verabredung das Badezimmer grundgereinigt, parallel Backofengemüse zubereitet, die Spülmaschine und die Waschmaschine laufen ebenfalls, das Hummus hat nicht geschmeckt und ihre Haare sitzen nicht. Frau N. hat heute etwa dreimal so viel gemacht wie ich, aber daran bin ich schon gewohnt und ich kann es einigermaßen aushalten.

Neulich habe ich mich an folgendes erinnert: vor ein paar Monaten waren wir nach der Arbeit miteinander verabredet, ich vermute, wir wollten gemeinsam zum Karaoke, vielleicht aber auch ein Steak essen oder so. Unsere jeweiligen Büros liegen nur einen Block voneinander entfernt, und da wir beide zu Pünktlichkeit neigen und recht gut planen können, gelingt es uns oft, uns auf die Minute genau zu treffen. Wir haben zwei oder drei genau definierte Treffpunkte, und an diesem Abend waren wir „an der Ausfahrt bei dir“ verabredet, d.h. ich fahre aus der Tiefgarage von meinem Bürohaus heraus und Frau N. steigt dann da in mein Auto ein. Nur, dass sie nicht da war, mir aber hektisch schrieb, sie würde sich ein paar Minuten verspäten. Ich stieg aus, lehnte mich halbwegs cool an mein Auto, und sah nach ein paar Minuten ihren goldenen Haarschopf auftauchen. Sie ging schnellen Schrittes, trug ein hervorragendes Business-Outfit, und sprach leicht verärgert auf Spanisch in ihr Handy. Es hörte sich sogar so an, als ob sie in sehr fließendem Spanisch jemanden am Telefon zurecht wies. Dann rief sie sehr bestimmt „Adios!!“ in ihr Handy, stieg mit einer einzigen fließenden Bewegung in mein Auto, und erklärte mir auf meine verwunderte Frage, dass sie mit ihrem Kollegen aus der Finanzabteilung in den USA immer auf spanisch telefonieren würde, und der hätte sie jetzt verspätet angerufen und sich nicht an den Termin gehalten, das ginge ja wohl gar nicht.

Ich denke da ganz gerne dran, an dieses Bild, und an die Kraft, Vitalität und Dynamik von Frau N. Hut ab.

Und jetzt: die Dienstagshose. Die Frage war, genauer gesagt, ob ich wirklich für jeden Wochentag ein anderes Business-Outfit habe.

Es ist so: ich trage im Büro gerne einfarbige Oberteile, in der Regel bestehend aus einem T-Shirt und einer Jacke drüber. Manchmal auch eine Bluse. Von diesen Oberteilen habe ich eine größere Anzahl identischer Exemplare, ich bin nämlich vor ein paar Jahren auf den Trick gekommen, wenn mir etwas gefällt, steht und passt, gleich mehrere davon zu kaufen. Bei den Hosen passiert dafür etwas mehr, gerne Muster und Karo, auch mal kräftige Farben etc. Mir gefällt, dass ich, wenn ich sitze, immer gleich aussehe, aber wenn ich stehe, sieht man, dass ich nicht jeden Tag das gleiche anhabe. Ein Business-Outfit soll ja auch etwas von einer Uniform haben, die Männer machen das ja so mit ihren Anzügen. (Vielleicht füge ich hier später noch den Link zu der sensationellen Uniform-Story ein, die Frau N. mal aufgeschrieben hat. Ja!)

Ich überlege mir morgens, was ich für Termine habe, und wähle danach meine Hose bzw. mein Outfit aus. Montags mag ich es auf jeden Fall ein bisschen strenger und förmlicher, mittwochs wird es meistens ein bisschen weicher, weil ich merke, dass ich niemandem mehr etwas beweisen muss. Donnerstags ziehe ich manchmal, aber nicht immer, dasselbe an wie Montags. Und für Dienstags gibt es die Dienstagshose. Freitags ist natürlich business casual, also Jeans oder auch mal eine Chinohose. Den Unterschied zwischen Formal Business und Business Casual erkennt man übrigens gut mit dem Pantoffeltest: wenn man zu einem Formal Business Outfit (noch) Hausschuhe anhat, und es total lächerlich aussieht, dann ist es genau richtig. Bei Business Casual ist es nur unangenehm. Frau N. sagt zu Business Casual gerne: wie früher zu Oma zum Sonntagskaffee.

Das richtige Outfit anzuhaben ist eine gute Sache: es festigt mich in der Rolle, in der ich gerade sein will (und ich habe unterschiedliche Rollen im Büro), und es setzt auch ein Signal nach außen: beim Treffen mit Dritten gibt es ihnen im Idealfall die Sicherheit, dass ich die Rolle ausfülle, die sie mir zuschreiben.

Und im Home Office? Ich dusche morgens, mache mir meine Föhnfrisur, trage ähnliche Oberteile wie sonst auch, bei den Hosen eher wie Freitags. Keine Socken – damit meine ich: keine Kniestrümpfe wie sonst, sondern Sneakersocken und dazu – und das ist sehr schön: Hausschuhe. Sieht manchmal bisschen unangenehm aus, fühlt sich aber gut an.

Was macht das Home Office mit mir? Bislang noch nicht so viel. Glücklicherweise bin ich halbwegs planmäßig ins Home Office gegangen, ein paar unserer Leute haben einfach die Anweisung bekommen, dass sie nicht mehr zurückkommen können, jemand bringt ihnen einen Laptop vorbei. Ich konnte den Prozess aber für mich steuern und habe am letzten Tag im Büro fast alles mitgenommen, was ich so brauche: zwei Monitore, Keyboard, Maus, Textmarker, Schnickschnack, sogar ein paar Unterlagen. Das habe ich dann zuhause schön aufgebaut, ich bin privilegiert und habe genügend Platz und eine schöne Aussicht. Da das Arbeitspensum in den Tagen vor dem Home Office extrem hoch war und in den Tagen danach weiterhin sehr, sehr hoch, liefen die Dinge eigentlich nahtlos weiter. Ich bin regelmäßig per Telefon und vor allem Videokonferenz mit allen wichtigen Personen in Kontakt. Die Ausrüstung ist gut, ich habe sogar einen Tripod, mal privat angeschafft für den Lesezirkel. In der Theorie habe ich zwei Stunden gewonnen, weil ich nicht mehr pendele, in der Praxis wird dieser Zeitgewinn gefressen durch mehr Arbeit, mehr Haushalt und mehr Erschöpfung.

Was mache ich eigentlich den ganzen Tag? Es ist der Treppenwitz meines Lebens, dass ich mehr als eine Dekade in ein naturwissenschaftliches Studium mit anschließender Promotion investiert habe, weil ich eine Expertin sein wollte. Jetzt arbeite ich in einem völlig fachfremden Gebiet, von dem ich nicht so viel Ahnung habe und öfter auch mal Sachen googeln muss. Ich habe eine Stabsstelle, es geht also darum, die Organisation und die Menschen darin am Laufen zu halten. Ich scheine gut darin zu sein, denn ich spüre, dass ich geschätzt werde, und ich werde auch angenehm vergütet. Aber was mache ich eigentlich den ganzen Tag?? So eine richtige Antwort darauf habe ich nicht, es ist ja irgendwie auch jeden Tag anders. Mein Expertenwissen kann ich natürlich so gut wie nicht anwenden. Aber ich kann mich in fast alles einlesen, ich kann komplexe Sachverhalte gut zusammenfassen, ich kann gut kommunizieren und organisieren. Und ich kann gut Fragen stellen, das ist etwas, das ich neu gelernt habe in den letzten Jahren. Ich kann Fragen stellen, ohne eine bestimmte Antwort zu erwarten. Fragen, deren Antworten weder richtig noch falsch sind. Fragen, bei denen sich – wenn es gelingt – der Blick meines gegenüber nach innen richtet, und sie fangen an, neu zu denken, neu an eine Zukunft, eine Lösung oder in eine Richtung zu denken, die sie vor dieser Frage nicht kannten. Was da passiert, an genau dieser Stelle, ist ein Wunder, dem ich niemals müde werden werde, soviel steht fest.

remote working

Wie viel Berührung es in meinem Alltag gibt, wird mir erst jetzt bewusst. Meine Mutter umarme ich schon eine ganze Weile nicht mehr. Wir versuchen, zwei Meter Abstand zu halten, beim Sitzen klappt das ganz gut, sie auf dem Sofa, ich im Sessel, dazwischen ihr Couchtisch aus Kirschholz. Beim Spazierengehen ist es schwieriger, da driften wir doch immer wieder zueinander.

Ich videochatte mit Francine, mit Ninette, mit meiner syrischen Freundin, mit Novemberregen. Es tröstet darüber hinweg, dass wir uns nicht sehen, aber was fehlt, sind die Umarmungen, oder das heiser singen beim Karaoke mit Cupidissimo, oder eine Reise nach München.

Am Freitag, als ich abends zwei Monitore in den Kofferraum meines Autos räume, und der sGF sich von mir verabschiedet, wissend, dass ich eine Weile nicht zurückkehren kann, da salutiert er mir, die Hand zum imaginären Rand des Hutes erhoben, und ich ihm. Ein paar Meter Distanz zwischen uns, und ein stürmischer Wind.

Die besten Umarmungen gibt der GF, er scheint eine gute Körpergröße zu haben, lange Arme, und er drückt immer genau richtig fest. Der sGF umarmt betont kumpelhaft, bloß keine Sinnlichkeit. Wir drei hätten einander sehr umarmt, nach dieser Woche.

Ich schaue in den Spiegel, am Freitag, und sehe eine Falte auf meiner Stirn, die vorher nicht dagewesen ist. Ich rubble ein bisschen dran rum, unter dem harten Neonlicht der Damentoilette. Die Bankentürme um uns herum sind schon dunkel.

Große Wehmut, als ich gehe. Mein Schreibtisch, nackt und weiß und blank, ich nehme fast alles mit, die Textmarker, die Zahnseide, die Handcreme, die Sanduhr, den Fidget Spinner. Ich weiß nicht genau, woher diese Melancholie kommt, diese Trauer, es ist ja keine Trennung, sondern nur ein Übergang in ein anderes Arbeiten.

Es sind die Übergänge, die uns Menschen am schwersten fallen.

Immer wieder muss ich an meinen Vater denken. Survivors Guilt und großer Dankbarkeit, weil die paar Monate, die er am Ende seines Lebens, schon schwer von der Demenz gezeichnet, im Pflegeheim verbracht hat, durch seinen Tod beendet wurden. Fünf Jahre sind das jetzt schon. Wenn ich ihn jetzt nicht mehr besuchen könnte, wenn ich fürchten müsste, er würde sich anstecken, wenn er dann nicht behandelt werden würde. Was dann. Es gibt Töchter und Söhne, die erleben jetzt genau das.

Am Sonntag baue ich mein Home Office auf, und fange an zu arbeiten, und höre damit gar nicht mehr auf. Ich habe mir vorgenommen, jeden Morgen zu duschen, mich gepflegt anzuziehen, mir einen Tagesplan zu machen, feste Pausenzeiten einzuhalten, und mit einem kleinen Ritual den Feierabend einzuleiten. Es ist so gut wie alles hinfällig, denn ich werde 25mal am Tag angerufen, schreibe 60 Emails, bin in vier Videokonferenzen, und bin abends müde, müde, müde. Ich hatte mir dieses Home Office irgendwie entspannter vorgestellt.

Aber es sieht so aus, als ob wir es schaffen, und nicht untergehen.

for want of a screw

Es ist nicht so, dass die Straßen ganz leer wären. Nicht so wie nach dem Marathonlauf, wenn meines das erste Auto ist, das wieder fahren darf. Nicht so wie nachts um zwei oder morgens um sechs Uhr auf dem Weg zum Flughafen. Es ist mehr so ein Samstagnachmittagsverkehr, als würde ich zum Schwimmen im Badesee mit Novemberregen fahren.

Nur, dass ich es nicht tue. Ich fahre ins Büro, ein bisschen leerer als sonst, aber bei weitem noch nicht so leer, wie es sein sollte. Das macht mir große Sorgen, dieses Fehlen von Leere. Wie es in der Stadt aussieht, weiß ich nicht, denn ich habe aufgehört, Mittagspause zu machen.

Ich habe aufgehört, eine To-Do-Liste zu machen, dann habe ich wieder angefangen, aber sie passt jetzt auf die Rückseite einer Visitenkarte. Ich habe angefangen, Sneakers zu tragen, denn ich laufe den ganzen Tag durchs Büro und löse Probleme, von denen ich nie dachte, dass es sie geben könnte. Meistens sind es IT-Probleme, von Fenstern, die sich nicht öffnen, Log-ins, die verweigert werden, Icons, die fehlen. Fast nie weiß ich eine Lösung, ich bin nämlich keine IT-Frau, und dennoch bedanken sich die Leute sehr nett und aufrichtig bei mir, vor allem am Telefon, vielen lieben Dank, Fragmente, sie meinen das ernst, und ich fühle mich nicht gut dabei. Traurig, besorgt, impotent.

Die deutlichste Veränderung gab es bei der Videokonferenz. Letzte Woche war der Board Room noch voll bis auf den letzten Stuhl, Anzüge und Kostümchen. Dann wurde er leerer, die Herren verloren die Krawatten, Hemdknöpfe gingen auf. Am unteren Bildrand erschienen kleine Fenster mit Leuten, die von zuhause zugeschaltet waren. Es gab eine Menge unterschiedlicher und sehr individueller Wohnraumeinrichtungen zu sehen. Männer, die ich nur im Anzug kannte, tragen plötzlich labbrige Poloshirts oder farbintensive Kaputzenpullis. Und der eine Head of schmückt sich mit riesigen Over Ear Kopfhörern, bestimmt ein Audiophiler. Und ich jetzt in Sneakern, aber die Videokonferenzen haben aufgehört, wurden zu einer Telefonkonferenz, wegen der Bandbreite, und ich nehme nicht mehr teil, ich habe zu tun.

Morgens, nachdem ich den Nachrichtenticker gelesen habe, überkommt mich oft eine kleine Welle der Verzweiflung. Es steigen ungefragt Bilder in mir auf, zum Beispiel letzten Sommer, als ich auf dem riesigen Krankenhausparkplatz in Glasgow nachts um halb zwei einen Fuchs gesehen habe, ihn beobachtet habe, minutenlang. Oder vor ein paar Jahren, als ich von der Autobahn abgefahren bin, ziellos, entscheidungslos, alles egal, und dann: ein Wanderzirkus.

Es hilft, ins Büro zu gehen. Es wird mir fehlen, wenn ich es nicht mehr kann, oder nicht mehr darf. In ein paar Tagen wird es soweit sein, schätze ich. Es hilft, ins Büro zu gehen, weil es mich einschnürt in ein Korsett aus Gewohnheiten, das mich hält. Es scheint nicht möglich, dass sich der Lauf der Welt ändern könnte, wenn doch die Abfolge der Alltäglichkeiten so ist wie immer. Aufzug, Karte, Drehkreuz, Eingangstür, Zeiterfassungsgerät. Guten Morgen.

Es scheint aber möglich, dass wir es nicht schaffen werden, das Büro leer zu bekommen. Alles hängt mit allem zusammen, schon klar, und dass es die Kleinigkeiten sind, an denen es hängt, leicht gesagt. Jetzt spüre ich das Ausmaß dieser Kleinigkeiten, das Meer an Interkonnektivität. Wenn wir untergehen, dann, weil uns irgendwo eine Schraube gefehlt hat.

Heute kurz zum heulen gefühlt, es stieg schon ein bisschen hoch in mir. Aber ich bin dazu nicht der Typ, ich heule ausschließlich zuhause, höchstens im Auto.

Die Krise verstärkt in jeden Menschen die negativen, aber auch die positiven Eigenschaften. Ich selbst bin da keine Ausnahme. Die Leute im Büro fallen exakt an den Linien auseinander, die ich schon kannte: wer dazu neigt, in die Krankheit zu fliehen, ist krank. Wer verlässlich ist, kommt. Es gibt die, die nur an sich selbst denken, und die, die nur an andere denken.

Ein Mitarbeiter, der bereits einen Bürgerkrieg durchlebt hat, hat mich angerufen und mir angeboten, auf seinen Urlaub zu verzichten. Er möchte dem Büro etwas zurückgeben. Ein anderer Mitarbeiter hat mich gefragt, ob wir über den Account des Büros Toilettenpapier für ihn privat bestellen könnten. Er bekommt keines mehr im Supermarkt, sagt er, und er würde ja schließlich auch kommen und arbeiten?

Vor einer Woche haben Novemberregen und ich noch über das Home Office gewitzelt. Ich würde dann erstmal ausführlich eine Pediküre machen. Und dann endlich Zeit, meine 147 ungelesenen Emails zu beantworten, endlich alles aufarbeiten, wozu man sonst nie kommt. Damals war ich schon erschreckt über die Zahlen: 350, 534, 795. Jetzt sind es über 10.000.

Die Leere wird kommen. Die nächsten Tage werden entscheiden, ob es eine Leere ist, die wir gestaltet haben, oder eine, die über uns gekommen ist.

vorbereitet sein

Videokonferenz am Montag zur Krise. Der GF, der sGF und ich sitzen im Konferenzraum und sehen den Board Room auf dem großen Videobildschirm. Die Konferenz läuft schleppend an, vielleicht nehmen sie dort drüben die Krise noch nicht so richtig ernst. Im Board Room sitzen weiter hinten, eher klein, ein paar weniger wichtige Figuren, die keine Redezeit haben werden. Ausnahme ist unser voluminöser Head of IT mit der tiefen Stimme, der hin und wieder von hinten ein paar Infos reinrufen wird, aber das weiß ich jetzt noch nicht, es hat ja noch nicht angefangen. Ich mag den gerne, unseren Head of IT, guter Mann.

Dann kommt das C-Team rein: der CRO, der CFO, der COO, und zum Schluß der CEO. Sie sitzen vorne, zur Kamera hin. Unten sieht man kleine Bildchen der anderen Büros. Außer mir ist jetzt nur noch eine andere Frau zu sehen, eine Spezialistin, die in der Mitte sitzt.

Der COO fängt an und zeigt Slides einer Präsentation zum Krisenmanagement. Wir treffen uns in kleiner Runde per Telco schon seit Mitte letzter Woche mit dem COO, der diese Meetings recht straff führt, ich kenne ihn als einen, der immer genau weiß, wo er hin möchte.

Der COO fängt also an, ich weiß aus den Telcos, dass er das Wochenende durchgearbeitet hat, um diese Slides und noch mehr zu erstellen. Und dann ist es bei Slide 3 auf einmal vorbei, wie etwas, das abstürzt oder untergeht. Der CEO stellt eine Frage, es ist eine gute Frage, aber es wird auch klar, dass er in eine ganz andere Richtung denkt als der COO. Der CRO, als eher kleinlicher Unsympath bekannt, kritisiert von oben herab, belehrend. Für einen Moment glaube ich zu wissen, was der COO jetzt fühlt, was er erlebt, es ist etwas, dass jemandem wie mir, und allen in dieser Art von Rolle auch passieren kann, wahrscheinlich auch schon passiert ist.

Ich sehe mich selbst, in einem kleinen Fenster unten auf dem Videobildschirm. Ich sitze da, neben zwei Herren in Anzug und Krawatte, sehe dem COO zu, wie sich das, woran er stunden- oder tagelang gearbeitet hat, gerade auflöst, und denke: ganz schön dünne Luft. Ich habe ein seltsames Gefühl, es ist nicht, als ob ich mich deplatziert fühlen würde, aber ich wundere mich, wie mich all diese Wege, all diese Entscheidungen, an genau diesen Platz geführt haben. Ich frage mich, wo ich hin möchte, ob ich irgendwann mal auf der anderen Seite des Bildschirms sitzen möchte, in dünner Luft, wohl eher nicht.

Heute wieder Videokonferenz. Es wurde hektisch gearbeitet in den letzten Tagen in den verschiedenen Büros, um die Frage, die der CEO am Montag mit solcher Leichtigkeit angerissen hat, zu beantworten. Der COO kommt immerhin so weit, eine Exceltabelle mit Zahlen zeigen zu dürfen. Er liebt Listen und Zahlen. Es wird hart gestritten, zwischendurch hat es etwas von Schulhof, immer geht es auch um Macht und Status. Der CEO beweist wieder Weitblick und stellt ein- oder zwei Fragen, die hilfreich sind, um zu fokussieren. Dann aber wieder Getümmel und Zank, und erst die Frau, die drüben meine indirekte Chefin ist, kann Ruhe hinein bringen. Ich bewundere das, ich kenne das, ich mache das auch, und ich finde es im Grunde nicht richtig: als Frau in der Rolle zu sein, Männer dazu zu bringen, sich emotional zu regulieren. Fleischpuffer für Aggressionen.

Ganz schön weit weg fühlt sie sich an, die Zukunft.

Der sGF erzählt mir von der Vergangenheit. Neunzigerjahre, in einem Land, das auch heute nicht zur EU gehört. Er wacht auf, mitten in der Nacht, Erdbeben. Geht am nächsten Morgen ins Büro, hier und da kleine Schäden an den Gebäuden, sonst nichts allzu ernstes. Aber sie haben Büros, außerhalb, über das Land verteilt. Und recht schnell bricht das Telefon weg, unklar, ob es damals schon Internet gab. Keine Möglichkeit, sich ein Bild zu machen von der Lage.

Seine Kollegen und er haben dann einen Krankenwagen gemietet, das ging mit ein bisschen Schmiergeld. Mit dem Krankenwagen sind sie losgefahren, entgegen dem Strom der Flüchtenden, zu den Büros hin, irgendwo hat irgendjemand einen Kran organisiert, und sie haben Leute aus den Trümmern gezogen, zwei davon tot.

Man muss schnell sein in der Krise, sagt er, der erste oder zweite, der einen Krankenwagen mietet, weil sonst keine mehr da sind. Zusammenhalten, kreativ sein, Risiken abschätzen, Risiken eingehen.

Der sGF erzählt mir das, wir schauen beide ein bisschen vor uns hin, schnell sind wir nicht unbedingt so als Organisation. Wir atmen ein, wir atmen aus. Wir arbeiten weiter.

WmdedgT: März 2020

Der Wecker geht um 06:00 Uhr runter, der Körper kommt um 06:15 Uhr hoch. Gestern war es spät, erst mit @novemberregen gebloggt, dann zuhause noch an einem Beitrag auf Reddit festgelesen. Hätte gerne länger geschlafen, aber weil ich vor ein paar Tagen eine Email übersehen hatte, musste ich heute wirklich pünktlich ins Büro.

Jetzt erst einmal Kaffee & Internet & rumtrödeln. Dann Dusche, Fönfrisur, Hose angezogen (nicht die Donnerstagshose, sondern eine Vintage Hose), was zu essen fürs Büro gemacht, das Haus verlassen. Ich fahre ins Büro und nutze den Stau für eine Nachricht an @francine, vorher bisschen Deutschlandfunk gehört, natürlich zum Virus. Um 08:30 Uhr bin ich im Büro und erstelle erst einmal eine To-do-Liste, die im Laufe des Tages hinfällig werden wird. Ich beruhige eine junge Kollegin, die sich Sorgen macht.

Halbstündige Telefonkonferenz, anschließend Telefonat mit einem Dienstleister. Dann Austausch mit meiner Kollegin und Freigabe einiger Rechnungen. Kurzes, effektives Meeting mit einer Mitarbeiterin, so mag ich das. Gespräch mit dem Geschäftsführer (GF), Überarbeitung eines Dokumentes, das an den CEO in London gehen wird. Noch ein Telefonat mit einem Dienstleister.

Telefonkonferenz zum Virus mit verschiedenen Teilnehmern aus Europa zusammen mit dem stellvertretenden Geschäftsführer (sGF). Ich hatte hier gestern einen Sitz im Krisenteam gewonnen und tue mich heute mit Expertise hervor. Sofortiger unfreiwilliger Aufstieg, sGF lehnt sich mit einem Lächeln zurück, das wird zukünftig wohl mein Projekt. Gefordert ist die Erarbeitung verschiedener Notfallpläne für unterschiedliche Szenarien und das Herunterbrechen von Geschäftsprozessen. Im Prinzip haben wir sowas natürlich schon, aber in der Praxis sind jetzt alle sehr aufgeregt. Es fallen ein paar Stichworte, bei denen klar wird, dass das Thema sehr hohe interne und externe Aufmerksamkeit bekommt. Schluck. Anschließend Risikoeinschätzung mit GF und einer Mitarbeiterin, ob sie auf Dienstreise gehen soll.

Besprechung einer Email, die der GF aus London erhalten hat und die neben einigen sinnvollen Aspekten auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse in einem kleinen, aber nicht unwichtigen Arbeitsbereich bedeuten. Wir möchten uns dagegen positionieren, ich erstelle dazu einen ersten Entwurf. Politik ist das, und hat der jungen Mitarbeiterin heute morgen Sorgen bereitet.

Die Vorschläge für die Bonuszahlungen sind gekommen. Der GF bespricht sie mit dem sGF und – für mich leicht unerwartet – auch mit mir. Ich mache ein paar konstruktive Vorschläge. Meine eigene Bonuszahl sieht ganz gut aus. Ich bin lange genug dabei, um mich daran gewöhnt zu haben, aber finde die Zahlen immer noch ein wenig pervers.

GF telefoniert mit London, ich telefoniere privat (im Pausenraum! In meiner Pause!) mit meiner syrischen Freundin, der es gerade nicht so gut geht. GF holt mich aus dem Pausenraum raus, es geht weiter mit den Bonsuzahlen und internen Diskussionen dazu.

Ich bekomme Blumen geliefert.

Email einer Mitarbeiterin (X), die uns bittet, einen wiederkehrenden Konflikt mit einer anderen Mitarbeiterin (Y) zu addressieren. In der Vergangenheit hat X bei Konflikten sehr emotional reagiert. Ich habe einiges unternommen, damit sich das bessert, und stelle erfreut fest, dass ihre Email sachlich und souverän ist. Der sGF und ich führen ein gutes Gespräch dazu, stimmen uns aber ab, nicht ohne den GF zu handeln.

Besprechung mit einem Kollegen, der bald in Rente geht und von dem ich einige Aufgaben übernehmen werde.

18:00 Uhr. Ich möchte früher nach Hause gehen, damit ich noch aufräumen kann und sich nicht alles wieder am Wochenende staut. Als ich schon fast aus der Stadt raus bin, stelle ich fest, dass ich den Blumenstrauß vergessen habe. Ich drehe das Auto wieder um und bin ein bisschen nachdenklich. Ich weiß, dass ich jetzt in dem Bereich bin, in dem die Fehlerhäufigkeit sprunghaft steigt, weil ich zu viel zu tun habe. 175 ungelesene Emails. Ich hole den Blumenstrauß, und begegne Mitarbeiterin X. Ich sage ihr, dass ich ihre Email gesehen habe, dass ich ihren Punkt gegenüber Mitarbeiterin Y gut nachvollziehen kann, dass ich ihr Vorgehen souverän und gut finde, und dass ich sie ermutigen möchte, Grenzen zu ziehen. Guter Moment zwischen uns beiden.

Ich fahre nach Hause. Es regnet. Ich höre Sufjan Stevens und Stellardrone, und denke ein bisschen zu viel über die Arbeit nach, und merke es, und wische die Tabellen vor meinem inneren Auge wieder weg, und denke an etwas anderes.

19:15 Uhr. Ich schaue noch bei meiner Mutter vorbei. Sie hat viel erlebt heute. Sie möchte die Wohnung verkaufen, in der sie mit meinem Vater gewohnt hat, bevor er gestorben ist, und die jetzt vermietet ist. Es gibt einen Kaufinteressenten und viel zu organisieren.

20:00 Uhr. Zuhause. Ich esse einen Laugenzopf, entsorge den alten Blumenstrauß, spüle die Vase aus, schneide die Blumen und arrangiere sie. Meditativ ist das. Schön sehen die Blumen aus, da auf dem Esstisch, den ich aufgeräumt habe. Dahinter der Wäscheständer mit der Wäsche, die ich am Wochenende gewaschen und noch nicht abgenommen habe.

Ich mache ein Dokument für meine Mutter fertig und schicke es per Email an die Kaufinteressenten.

Ich schreibe diesen Text.

Ein anderes Selbst

Dort, wo ich aufgewachsen bin, heißt es Fasching, und nicht Karneval. Auf dem dritten Programm (von drei) lief dann stets den ganzen Tag enthusiastische Berichterstattung über kilometerlange Umzüge voller Fratzen und Tiergestalten. Sehr enttäuschend für mich, Internet war ja noch nicht erfunden, wobei mir im Rückblick nicht ganz klar ist, was ich eigentlich hätte sehen wollen. Spaghettiwestern?

Mit sechzehn, so etwa, vielleicht auch siebzehn, war die Zeit der Faschingsparties. In Turnhallen, auf dem Boden noch jene rätselhaften Sportmarkierungen und Linien. Eine Freundin hatte mich mitgenommen, Anna, und ihr Cousin gab Sekt aus. Ein erster Schwips, und draußen mit jemandem geknutscht, kann aber auch Silvester gewesen sein, sie verschwimmen alle so in der Erinnerung, diese Feste, diese Turn- und Mehrzweckhallen.

Wohl ein Jahr später war ich wunderschön, aber ich wußte es nicht. Ein schwarzes Kleid, zum letzten Mal eine Taille, ein tiefer Ausschnitt, meine Brüste wie immer spektakulär. Eine rote Federboa, und Punkte um die Augenbrauen wie Björk im Video zu Possibly Maybe (es gab nämlich endlich Kabelfernsehen, und MTV). Ein junger Mann, Ziegenbart wie Layne Staley, macht mir ein Kompliment, und wird für kurze Zeit mein erster Freund.

Später im Studium, Berlin schon, habe ich mich noch einmal verkleidet. Schwarzer Rock, schwarze Bluse, die Lippen knallgrün, und Elektronikteile aus einem Telefon (Festnetz!) als Schmuck. Matrix, Trinity. Doch es wohnte eine große Unsicherheit in mir, spürbar auch für andere, und ich konnte nicht festhalten, was ich mir gewünscht hatte.

Zwei Dekaden später. Im Büro wollten sie in den Vorjahren eigentlich nur Kreppel essen, aber wir sind gewachsen, neue Leute, neue Gesichter, und die Frage: dürfen wir uns verkleiden?
Wir lockern die Kleiderordnung, und am Morgen entscheide ich mich recht spontan gegen meine Dienstagshose und für eine, die ein bisschen flippig ist. Dazu trage ich – versehentlich auch im Personalgespräch – Hasenohren.
Ein schöner Tag, gelöste Stimmung, und jede Menge kreativer Kostüme an der Grenze zwischen Business Casual und Kostüm.

Am Abend – die interessanten Dinge in meinem Arbeitsleben passieren beinahe ausnahmslos erst nach 17 Uhr – sitze ich im Büro des Geschäftsführers, mit ihm und mit seinem Stellvertreter. Es ist ein schönes Büro, groß natürlich, lichtduchflutet, mit Blick auf historische Gebäude und andere Bankentürme. Die beiden streiten sich nicht, aber sie sind unterschiedlicher Meinung. Sie sprechen weniger miteinander als vielmehr mit mir über sich und den jeweiligen anderen. Ich habe gar keine Meinung, und denke kurz, dass ich einfach gerne gesagt bekommen würde, was zu tun ist, um das dann zu exekutieren. Ich denke das und weiß doch, dass ich es eigentlich hasse, so zu arbeiten. Kurz blitzt in mir die Erinnerung auf an die Turnhallen, an mein früheres Selbst, und ich frage mich verwundert, wie ich von dort nach hier gekommen bin. Als hätte ich statt einer falschen Abzweigung eine richtige genommen.

Hier müsste eine Pointe stehen, über Fasching und Verkleiden. Ich warte auf die Pointe, aber es gibt keine. Und doch scheint es mir so, als ob etwas wichtiges in diesem Moment gestern Abend liegt, in meinem Gefühl, leicht genervt, ohne ganz zu verstehen, was meine Rolle ist, aber doch so viel Bedeutung zugemessen bekommen, sich doch so sehr verbunden zu fühlen mit all dem, was meine Arbeit ist.

Ein Staunen in mir. Möge es sich mir entschlüsseln, irgendwann.

2019.

Januar
Das Jahr beginnt sehr arbeitsreich mit einer Prüfung für eine Fortbildung. Ein halber Tag mit schriftlichen Prüfungen, zentral von einer Dachorganisation gestellt, 80% braucht man zum Bestehen. Ich nehme die Prüfungsvorbereitungen erst auf die leichte Schulter, lerne dann zwei Nächte durch. Ich schwöre mir, in nächster Zeit keine Weiterbildung mehr zu machen, und erinnere mich, dass ich akademisch eigentlich bereits alles erreicht habe und mir nichts mehr beweisen muss.
Ich bestehe die Prüfung. Das Zertifikat geht in der Post verloren und wird mir erst ein halbes Jahr später nach dramatischem Email-Wechsel zugesandt. Das erlangte Wissen kann ich in meinem Arbeitsalltag bisher nicht anwenden.

Der Rest des Januars (und auch des Februars) ist von Brexit-Vorbereitungen geprägt. Wir wissen alle noch nicht, dass der Brexit noch nicht kommen wird, und bereiten uns darauf vor, am 29. März von einer Art Klippe zu stürzen. Ich lasse mich vom Head of Legal in London zu einer Aktion drängen, die mir sehr viel Streß macht, und sich als übereilter Aktionismus herausstellen wird. Ich lebe stark auf einen Badeurlaub mit Nichtstun im Februar hin.

Februar
Zwei Tage, bevor ich in den Urlaub fliege, stecke ich mich bei meinem Chef mit einem heftigen grippalen Infekt an. Den sechsstündigen Flug nach Dubai verbringe ich fiebrig, hustend und vor allem mit laufender Nase, und trage sicherlich maßgeblich zur weiteren Verbreitung dieses Erregers bei. In Dubai hat es nur 20°C und es regnet immer mal wieder. Der Regen löst bei allen dauerhaften Dubai-Bewohnern große Freude aus und ist Gesprächsthema Nr. 1. Ich friere am Pool, leide, huste und schniefe vor mich her. Die Hotelanlage hat vier große Pools und unzählige südostasiatische Rettungsschwimmer, über die ich viel nachdenke. Zu den guten Erinnerungen zählen einige schöne Momente mit meiner Mutter und eine Fahrt auf dem Dubai Creek mit einem Dhau.

März und April
Unklar, ob ich dauerhaft krank bin oder wieder erneut krank werde. Fest steht, ich kriege keine Luft, vor allem dann nicht, wenn ich auf der rechten Seite liege. Eine ganze Weile schlafe ich einfach immer auf der linken Seite, wache dauernd auf, im Liegen tun mir der ganze Körper weh, und ich huste, huste. Freitagnachmittag dann Fieber, 40°C, ich glühe, keine Arztpraxis mehr offen. Die ganze Nacht kein Schlaf, zunehmend auch keine Luft mehr, bis ich in den frühen Morgenstunden glaube, zu ersticken. Eine Twitterin, die wegen ihres kleinen Kindes noch wach ist, spricht mir Mut zu, hält mir virtuell die Hand. Gegen halb sieben lasse ich mich von meiner Mutter in die Notaufnahme fahren, und komme sofort dran. Alle sind sehr nett zu mir. Ich inhaliere, es geht mir etwas besser. Eine schlecht gelaunte Röntgenassistentin, die extra wegen mir ins Krankenhaus fahren musste, macht eine Aufnahme, auf der man nichts erkennen kann. Ich gehe wieder nach Hause.
In den nächsten Tagen kann ich weder besser noch schlechter atmen. Aber mein Körper scheint stückweise aufzugeben: ich bekomme eine Venenentzündung am Bein, und eine Augenentzündung. Wegen der Venenentzündung fahre ich in die nächstgrößere Stadt zu einem Phlebologen. Der wirft einen Blick auf mich und ordnet ein CT an wegen Verdacht auf Lungenembolie. Das Wartezimmer der Radiologiepraxis ist brechend voll, an der Rezeption wird eine Patientin abgewimmelt, der nächste freie Termin ist im Juni. Noch bevor ich den Anamnesebogen vollständig ausgefüllt habe, werde ich zum CT geholt. Drei Minuten später liege ich halbnackt in der Röhre. Mir ist ziemlich mulmig und ich habe Angst, dass es was ernstes ist. Das ist es dann auch, denn das CT zeigt eine Lungenentzündung im rechten Lungenflügel. Es ist unklar, ob ich eine Lungenembolie hatte, die eine Lungenentzündung ausgelöst hat, oder ob die Venenentzündung durch das lange Liegen wegen der Lungenentzündung kommt. Ein Lungenfacharzt verschreibt eine Woche Antibiotikum und etwas länger Kortison. Danach bin ich einigermaßen gesund und gehe nach fünf Wochen wieder arbeiten.
Bis September werde ich mich immer etwas matt fühlen. Von den fünf Wochen zuhause hatte ich wenig, denn ich war entweder sehr krank, oder die Konzentration hat nicht gereicht, um ein Buch zu lesen oder sonst irgendetwas anspruchsvolles zu machen. Das einzig gute ist, dass ich die Musik von Billie Eilish entdecke, und jede Menge YouTube-Videos mit ihr gucke.
Was noch bleibt: die Erinnerung an das Gefühl, dass mir auf dem Höhepunkt der Krankheit alles so ein bisschen egal war. Ich meine das nicht positiv. Ich wusste, es geht mir schlecht, aber ich war oft zu lethargisch, um wirklich etwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht ist so das Sterben: ein hinübergleiten, herausglitschen aus der Welt, das wir mit mildem Erstaunen zur Kenntnis nehmen.

Mai
Den ersten Mai verbringe ich auf meinem Balkon. Der Himmel ist strahlend blau, die Balkonpflanzen blühen bunt, alle Nachbarn sind irgendwo anders, und ich liege auf meiner Sonnenliege und schlafe ein. Schön.
Im Mai außerdem ein gelungener Kurzurlaub in Amsterdam: flämische Meister, Rembrandt, moderne Kunst, Grachten.

Juni
Ich entschließe mich dazu, einem Mitarbeiter zu kündigen, weil die Leistung nicht ausreichend ist. Ich trage mich sehr schwer mit der Entscheidung, erstelle lange Listen, ein Nerv in meinen Schultern klemmt sich ein. Am Ende des Trennungsgespräches, als die Tränen getrocknet sind, bedankt sich der Mitarbeiter bei mir. Für das gute, respektvolle Gespräch, und auch, weil die Trennung eine Erleichterung für ihn ist.
Ansonsten verbringe ich eine Menge Zeit mit Freundinnen. Wir machen Ausflüge in den Taunus oder anderswo hin, und ich esse das beste Steak meines Lebens. Es wird sehr heiß, und ich spiele Minigolf in einer klimatisierten Halle bei 38°C Außentemperatur.

Juli
Es ist zu heiß. Außerhalb des Büros liege ich viel rum und schwitze. In der Nachbarschaft gibt es eine Gartenparty nach der anderen, was mich sehr stört. Ich treffe Freundinnen in Köln, singe Karaoke und entdecke den Badesee von Novemberregen. Vielleicht der schönste Moment des Jahres, ganz sicher der schönste Moment des Sommers: wie wir stundenlang im Badesee dümpeln, eine große Ruhe innen und außen.

August
Geplant sind ein paar Tage Urlaub in Schottland mit meiner Mutter. Zum Abschluß Besuch eines Konzertes von The Cure in Glasgow (ohne Mutter, mit Kassandra). Am ersten Urlaubstag rutscht meine Mutter beim Einsteigen ins Mietauto in einem kleinen Küstenort im Regen aus. Ich laufe zu ihr und sehe, dass ihr Fuß knapp oberhalb des Knöchels schräg absteht: sie hat sich das Bein gebrochen. Ich hebe sie ins Auto, google die Adresse des nächsten Krankenhauses, fahre sie dorthin und denke die ganze Zeit, dass ich das nicht schaffe. In knapp fünf Minuten sind wir in der Notaufnahme. Ich heule ein bisschen, und sitze dann ein paar Stunden im Wartebereich rum. Meine Mutter wird gegen Abend ins Krankenhaus nach Glasgow transportiert, weil sie operiert werden muss, was hier nicht möglich ist. Ich fahre mit dem Mietwagen im Linksverkehr durch die Highlands ebenfalls nach Glasgow zurück. Es regnet, wird dunkel, und dann Nacht. Ich denke und spüre die ganze Zeit, dass ich das nicht schaffe, das es zu viel für mich ist, dass es weit über meine Grenzen hinausgeht. Im Hotel packe ich ein paar Sachen, fahre ins Krankenhaus. Meine Mutter liegt in einem Behandlungsraum, ist relativ gefasst und wird irgendwann nach Mitternacht aufgenommen. Auf dem Krankenhausparkplatz beobachte ich minutenlang einen Fuchs. Auf dem Rückweg ins Hotel biege ich auf eine riesigen, vierspurigen Straße links ab und lande auf der falschen Fahrspur. Wegen einer Betonmauer kann ich die Spur nicht wechseln. Ich bremse und fahre hundert Meter rückwärts zurück. Terror erfüllt mich, ich zittere, doch nachts um halb zwei bin ich ganz allein, weit und breit. Ich denke an den Fuchs.
Am nächsten Morgen trinke ich einen halben Liter Wasser, den ich dann direkt wieder erbreche. Ich fahre ins Krankenhaus. Meine Mutter wurde operiert, ist wach und ganz sie selbst, streitet sich mit schottischen Pflegern und sagt: ich will hier raus. Sie liegt auf einem Sechsbettzimmer, unter dem scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel riecht es süßlich nach verwestem Fleisch. Der ADAC transportiert uns zurück nach Deutschland. Ich besorge ihr einen Rollstuhl, streite mich bis heute mit der Reiseversicherung und bin sehr dankbar, dass sie wieder gesund geworden ist. Das Konzert von The Cure habe ich verpasst, aber nicht vermisst.

September
Ich verbringe ein paar sehr schöne Tage mit Francine in Berlin. Wir gehen beide ziemlich auf Rille und sind jeden Abend früh im Bett. Ich bin sehr froh, dass wir dieses Jahr noch enger zusammengerückt sind. Anschließend verbringe ich ein paar Tage in Bassendorf. Ich schlafe jeden Tag zehn bis zwölf Stunden, erhole mich richtig gut, und genieße ein sehr gutes Essen in Binz.
Im Büro organisiere ich eine größere Veranstaltung mit weitreichenden Konsequenzen. Es gelingt mir dadurch, eine sehr volatile Situation zu stabilisieren.

Oktober
Ich feiere meinen Geburtstag, gebe wie in den Vorjahren eine Party, und bin wie in den Vorjahren von den Vorbereitungen gestresst. Ich beschließe, zukünftig meinen Haushalt besser im Griff zu haben, besser zu planen, mehr zu delegieren und mehr Hilfe anzunehmen. Die Party wird wie immer sehr schön.
Ich helfe einer Freundin, deren Katze akut krank ist und in die Tierklinik muss. Beim Abholen schreit die Katze minutenlang und krallt sich an die Freundin, als ginge es um ihr Leben. Wie sehr so ein Tier jemanden lieben kann. Wie groß die Liebe ist, und wie groß der Schmerz ist, wenn jemand leidet, den man liebt.

November
Ich mache nochmal Badeurlaub, diesmal in Abu Dhabi. Das Wetter ist wunderbar, ich schwimme stundenlang im Meer und im Pool, und habe das Gefühl, zum ersten Mal seit langem wieder so richtig fit zu sein.
Von der maximalen Erholung kehre ich in den maximalen Stress im Büro zurück: wir werden durch die Aufsicht geprüft. Das Ergebnis wird uns einen großen Teil von 2020 lang beschäftigen.

Dezember
Kurzurlaub in Dresden. Pittoresk und voller Touristen. Mir bleibt vor allem die neue Synagoge in Erinnerung: anstatt die von Semper erbaute, in den Novemberpogromen zerstörte Synagoge wieder aufzubauen, wurden links und rechts des alten Grundrisses zwei neue Gebäude gebaut: das Gemeindehaus und die Synagoge, beides sehr moderne, kubistische Gebäude. Sie teilen die Zeit in ein davor und ein danach. Ein solches Zeichen fühlt sich richtig an.
Das Weihnachtsfest verläuft zufriedenstellend; ich habe gut geplant und meinen Haushalt im Griff. Am Heiligen Abend spüre ich eine leichte Brüchigkeit in mir: die Sehnsucht nach Zeiten, die vergangen sind. Die Frage danach, ob das Leben anders besser wäre, ob ich andere Entscheidungen hätte treffen sollen. Reue ist das aber nicht, allerhöchstens ein leichter Weltschmerz, der vorübergeht. Und dann ist das Jahr vorbei. Die Erlebnisdichte war sehr hoch. Ein bisschen Langeweile täte mir gut.

WmdedgT: Februar 2019

Wollte eigentlich etwas früher ins Büro, da aber eine Kollegin im Urlaub und ihre Vertretung erkrankt ist, beeile ich mich doch etwas. Unspektakuläre Fahrt ins Büro. Abarbeiten einiger administrativer Tätigkeiten.

Telefonat mit dem Head of Legal in London. Ich hatte für ihn durch eine deutsche Kanzlei ein Memo erstellen lassen, das gestern geliefert wurde und zu dem er eine Frage hat. Der Head ist sehr lustig, wir lachen viel, aber er ist auch ein Mann mit einem messerscharfen Verstand, vor dem ich ziemlich Respekt habe. Ich versuche, ein gemeinsames Telefonat mit der Kanzlei zu organisieren, scheitere letzendlich aber, da der Chef und zwei seiner Associates gerade auf Reisen sind („Dr. Dingens wird um diese Uhrzeit leider auf einem Inlandsflug in den USA sein“). Ich reime mir zusammen, dass sie gerade einen großen Automobilhersteller im Zusammenhang mit Abgasmanipulationen beraten und akzeptiere nach längerem Hin- und Herdenken, dass man da eben auch mal in der zweiten Reihe sitzt mit seinen Angelegenheiten. Ich recheriere selbst noch ein bisschen zu unserem Sachverhalt. Es ist interessant und das Nachdenken und Reindenken macht mir Spaß.

Mittags gehen wir in einer großen Gruppe zum Lunch in ein neues Restaurant. Das Essen ist nicht besonders gut, aber der Spaziergang durch Sonnenschein und Kälte sehr schön. Gutes Gespräch mit einer neuen Mitarbeiterin. Ich gewöhne mich langsam daran, dass ich auch in meiner Mittagspause meist indirekt arbeite/arbeiten muss.

Besprechung. Fast alles, was ich im Moment tue, hat mit den Vorbereitungen auf einen harten Brexit zu tun. Wir sind jetzt über den Punkt hinweg, zu bedauern, dass diese Arbeit keinen Mehrwert schafft, sondern lediglich dazu dient, dass am 29. März ein Rettungsboot bereit steht. Effiziente, gute Besprechung.

Weiteres Gespräch mit meinem Chef, der sich nicht entscheiden kann, welche von zwei Freelancerinnen, die ich ausfindig gemacht habe, er beauftragen möchte. Ich rufe meine Favoritin an, um sie zu vertrösten. Sie hat mittlerweile einen anderen Auftrag bekommen. Sehr freundliches Gespräch, wir verabreden uns auf einen Kaffee.

Zwischendurch hatte ich einen Kollegen in einer dringenden Angelegenheit unterstützt, die eigentlich wirklich nicht mein Tisch ist. Ich war gestresst, hektisch, und habe ihn ein bisschen herablassend behandelt. Weil das nicht richtig von mir war, gehe ich zu ihm hin und entschuldige mich. Ich spüre schon seit einiger Zeit, dass es für diesen Kollegen wichtig ist, auf Augenhöhe behandelt zu werden.

Heute viel über meinen anstehenden Urlaub gesprochen. Meine Mutter, mit der ich zusammen wegfahre, möchte, dass ich mir den Tag vor dem Abflug frei nehme. Gestern hatten wir etwas Streit, weil ich doch noch – zumindest einen halben Tag – ins Büro gehen wollte. Ich merke, dass sich da innerlich etwas bei mir bewegt hat, dass ich einsehe, dass sie da recht hat. Bei der letzten Reise hatte ich mich auf dem Hinflug im Flugzeug erbrochen. Stress spielt da sicherlich eine Rolle. Ich entscheide, den Urlaubstag zu nehmen, und fühle mich gut dabei.

Zuhause bereits einige Reisevorbereitungen. Ich probiere Kleidung an, die ich online bestellt hatte. Ein netter Badeanzug ist dabei, und meine beiden alten Badeanzüge passen auch noch. Zwei schöne Strandkleider machen mir gute Laune, und ich freue mich auf den Urlaub.

Es war ein guter Tag.

2018

Gemacht und erlebt:
Einen sehr erholsamen Badeurlaub im Oman; mit meiner Mutter zusammen ihren Geburtsort im heutigen Polen besucht; The Cure im Hyde Park in London spielen gesehen; kurzer Abstecher an die englische Südküste; Ninette in Köln und S. in Dortmund besucht; zur Republica in Berlin gewesen; Hamburg im sonnigen Juni und die Arktis in Nordnorwegen im November erlebt.

Eine ordentliche Anzahl Bücher in zwei Lesezirkeln und darüber hinaus gelesen. Mit der hochschwangeren Freundin F. beim Floating in Salzwasser geschwebt; mit der lieben Sarah zweimal beim weltbesten Brunch und ziemlich oft beim Lunch gewesen; Novemberregen häufig gesehen und die syrische Freundin nicht so oft, wie ich gewünscht hätte. Mit Hotelmama im Aquarium gewesen und zu dritt mit Holger großartig französisch gegessen.

Mit Mequito auf dem Konzert von Nilüfer Yanya gewesen; erlebt, wie Joan Baez die Halle zum toben gebracht hat; mit meiner Mutter in der Oper und in der Elbphilharmonie – Karten für letzteres haben mich fast eine halbe Niere gekostet, aber schenken können ist schön. The Cure mit Kassandra gesehen, und sie haben so gut gespielt, dass es dafür keine Worte gibt.

Die syrische Freundin hat ihr erstes Kind, und Freundin F. ihr zweites Kind bekommen; ein großes Glück ist das jedes Mal, ein Wunder und ein Staunen. Im Frühjahr ist der Mann einer sehr engen Freundin plötzlich lebensbedrohlich erkrankt; eine WhatsApp, die mir den Boden unter den Füßen weggerissen und mich am ganzen Körper hat zittern lassen.
Die eigenen Gesundheitsthemen dagegen eher Kleinigkeiten: MRT noch in 2017, Magenspiegelung im Frühjahr, keine Diagnose, nur Magensäurehemmer. Ich muss mich immer wieder übergeben, dank Medikamenten jetzt weniger heftig. Es bleibt ein Rätsel.

Mit Freundin F., ihrem Mann, dem dreijährigen Sohn und dem neuen Baby auf einem Eselhof gewesen, ein toller Tag. Einen kurzen Flug mit einem Segelflugzeug gemacht; im Oktober mit einem guten Dutzend Gästen Geburtstag gefeiert und bis Mitternacht draußen auf der Dachterrasse gesessen.

Die Wohnung weiter auf- und umgeräumt, nach bald drei Jahren bin ich vielleicht bald fertig. Kontenklärung bei der deutschen Rentenversicherung, und gestern sogar die Steuererklärung.

Höhen und Tiefen im Büro. Den besten internen Audit auf internationaler Ebene in den letzten drei Jahren absolviert. Ordentlich Sichtbarkeit und Anerkennung, auch über Deutschland hinaus. Klar erkennbar, wie wir uns (auch durch meine Arbeit) wandeln, wie wir nicht mehr die Einheit sind, die wir vor ein, zwei, drei Jahren waren, sondern moderner, dynamischer, erfolgreicher – aber auch stressiger. Eine Hassmail bekommen, und eine Games-of-Thrones-Geschichte miterlebt, am Rande nur; am Ende von einem die Visitenkarten weggeworfen. Erkennen müssen, wo die Limits meines Chefs sind; erleben müssen, dass sich niemand für mich einsetzt, einfach so, sondern nur, wenn ich die Dinge selbst mit Macht und Kraft in die Wege leite. Was aber, wenn die Macht und die Kraft mit fehlen? Es macht müde, immer die Macherin zu sein, kann aber sein, dass ich es so wollte. Jammern auf hohem Niveau. Zum Trost eine teure Weiterbildung durchgesetzt.

Nicht gemacht:
Nicht Touristenbus mit Novemberregen gefahren; nicht beim JP-Morgan-Lauf mitgelaufen; nicht auf der Party von S.; nicht mit Holger bei Aphex Twin in Berlin; und nicht in Bassendorf gewesen. Der Sommer zu heiß, lähmend, unheimlich oft das Thermometer fotografiert; kaum auf der Dachterrasse, stattdessen im abgedunkelten Schlafzimmer gewesen. Zu wenig Zeit mit der lieben Sarah, und viel zu wenig Zeit mit der syrischen Freundin verbracht, die mich gebraucht hätte. Kein soziales Engagement dieses Jahr gezeigt. Jede Menge Einladungen zum Stammtisch, Karaoke oder anderen Treffen ablehnen müssen, und am Ende doch zu wenig auf der Couch entspannt. Jede Menge Themen im Kopf – aber nichts gebloggt.

Was für ein Jahr.

WmdedgT: 5. November 2017

Der Tag beginnt eigentlich mitten in der Nacht. Ich liege wach und kann nicht einschlafen. Der Nacken ist verspannt, ich finde keine komfortable Position, unter der Bettdecke ist es zu heiß und darüber zu kalt. Ärgerlich. Gegen halb zwei Uhr nachts hänge ich mit ein paar anderen Schlaflosen oder gerade von der Party heimgekehrten auf Twitter rum. Eigentlich ganz schön, fast so wie in den frühen Twitterjahren, als man Replies und DM noch manuell eintippen musste und ganz Twitter nach Mitternacht nur aus ein- oder zweihundert Leuten bestandt. Jetzt ist es anders, aber immer noch schön, und auch in dieser Nacht sind welche da, die ich wirklich gerne mag.

Gegen 7 Uhr morgens wache ich auf. Es ist ja nur eine Illusion, dass man gar nicht geschlafen hätte. Um halb acht stehe ich auf, die Laune ist gar nicht so schlecht, denn ich weiss, dass ich normalerweise gut schlafen kann und solche Nächte ein- oder zweimal im Jahr die Ausnahme sind. Ich war vor ein paar Tagen ziemlich krank, vielleicht ist mein Körper noch etwas durcheinander.

Nach dem Frühstück gleite ich von einer Hausarbeit in die nächste: Spülmaschine, Waschmaschine, Wäsche vom Vortag abnehmen, aufräumen. Dusche reinigen, Abfluss mit Abflussfrei gängiger machen, mit der Bürste in allerhand exotische Ritzen, deren Existenzen mir bislang eher unbekannt waren. Es ergibt sich, dass ich eine Schublade entrümple, und dann noch eine, und noch eine, vier sind es am Ende des Vormittags.

Das Thema Haushalt beschäftigt mich in letzter Zeit sehr. Ich habe ein großes inneres Bedürfnis nach einer aufgeräumten, schönen Wohnung, in der alles seinen Platz hat. Mir ist das aber auch ein wenig unheimlich, beinahe suspekt. Woher kommt diese Sehnsucht? Ich weiß, dass es mir große Freude bereitet, wenn ich spontan etwas brauche und den Gegenstand sofort zur Hand habe. Vor einigen Jahren habe ich damit angefangen, in jedem Raum eine Schere bereit liegen zu haben. Könnte das nicht für alles, was man braucht, so sein? Und natürlich soll die Wohnung das Innenleben repräsentieren. Große Räume, lichtdurchflutet, leicht minimalistisch, viel Glas und Weiß, hier ein farbiger Teppich, dort ein ausdrucksstarkes Bild. Und ich selbst in einem Sessel sitzend, die Beine hochgelegt, ein Buch lesend.

Nur kann ich selbst nicht nur die Lesende sein, ich muss auch die sein, die einrichtet, gestaltet, aufräumt, Ordnung hält. Mein Umzug in diese Wohnung vor anderthalb Jahren fand zeitgleich mit einem Jobwechsel statt, bei dem ich zum dritten Mal in meinem Leben einen neuen Beruf erlernt habe. So richtig ernsthaft angefangen mit dem einrichten habe ich daher erst vor einem halben Jahr. Es frustriert mich, wie langsam alles geht, ich mache nur langsam Fortschritte. Ich schaffe neuen Stauraum, löse Provisorien auf, bohre Regale an und räume auf, räume auf, räume auf. Ein Schwimmen gegen den Strom. Und ringe immer wieder auch mit der Zeit. An manchen Arbeitstagen stehe ich um sechs Uhr morgens auf, verlasse um sieben das Haus, und komme um acht Uhr abends wieder nach Hause. Ich treffe Freunde, gehe zum Karaoke, und manchmal, da lege ich sogar die Beine hoch und lese. So bleibt nur ein kleines Tortenstück Zeit fürs Ordnung schaffen.

Gegen Mittag koche ich, weil ich immer noch ein wenig kränklich bin, Hühnersuppe mit Nudeln. Einen Hühnerschenkel und etwas Nudeln reserviere ich als Mittagessen für den Montag. Zum Essen schaue ich fern, eine ganz schlechte Angewohnheit. Ich entscheide mich für „24h Stadtautobahn“, eine Dokumentation des rbb über die A100 aus der Mediathek. (2017 ist das Jahr, in dem lineares Fernsehen für mich ein Ende gefunden hat.) Die Dokumentation gefällt mir – mit Ausnahme des Segments über das Bordell – ausgesprochen gut. Große Bilder, kleine Geschichten von Alltäglichkeiten. Künstler, Hausmeister, Aktivisten, Straßenkehrer. Das passt zu Berlin, finde ich. Und ich erinnere mich noch gut, wie ich als junge Frau melancholisch berührt davon war, mit dem Auto in der Dämmerung über die A100 an den Türmen des Heizkraftwerks Wilmersdorf vorbeizufahren. Kam mir irgendwie sehr großstadtmäßig vor, damals. In Mietshaus in der Schlangenbader Straße, das auch im Film gezeigt wird, habe ich mir mal ein WG-Zimmer angeschaut. Es hat sich dann aber herausgestellt, dass ein frisch getrennter Vater ein Zimmer in seiner Wohnung untervermieten wollte, dafür sollte man seinen dreijährigen Sohn babysitten. Da das Zimmer immer noch teuer war, fiel mir damals die Entscheidung leicht. Später hatte ich eine Freundin, die in dem Gebäude wohnte, und mit der ich mich aufstylte zum Ausgehen am Samstagabend. Gothic & Haarspray.

Nach dem Essen hänge ich Wäsche auf, bringe den Müll runter, kommentiere per Mail auf ein Dokument, das mir eine Freundin geschickt hat, und twittere mit einem verschollen geglaubten Twitterer. Dann besuche ich meine Mutter, die in meiner unmittelbaren Nähe wohnt, und halte mit ihr einen kleinen Plausch. Sie hat viel erlebt heute, und es geht ihr gut. Anschließend beginne ich damit, Ablage zu machen, was bedeutet, dass ich einen hohen Stapel an Briefen und anderen Papieren sortiere, die sich seit einigen Monaten angesammelt haben. Dabei finde ich so einiges wieder, was ich vermisst hatte. Eigentlich mache ich Ablage, um die Vorbereitung der Einkommenssteuererklärung zu prokrastinieren. In einem Order finde ich aber eine Lasche mit dem Titel „Steuer 2016“, hinter der ein früheres Ich diverse relevante Dokumente abgelegt hat. Es gelingt mir, das Thema Steuer dennoch weiter zu verdrängen. Auch die Ablage beende ich entgegen meiner Disposition, alles immer fertig zu machen, nicht. Stattdessen schaue ich „Constantine“ mit Keanu Reeves, Rachel Weisz und Tilda Swinton über Amazon Prime. Der Film wurde von der Kritik nicht sonderlich gut aufgenommen, ich mag ihn aber gerne und habe ihn über die Jahre schon ein- oder zweimal gesehen. Als John Constantine gerade einen dramatischen Moment in der Hölle erlebt, ruft eine sehr liebe Freundin an. Wir sprechen gut eine Stunde über neueste Entwicklungen in unser jeweiligen Leben. Bei ihr ist es gerade sehr abenteuerlich, und ich versuche, ihr zu sagen, wie wichtig es mir ist, ihr gerade in dieser Zeit eine gute Freundin zu sein. Dann erinnere ich mich, dass sie es nicht so gerne mag, wenn die Dinge so zerredet werden, und hoffe, dass sie auch so weiß, wie ich es meine.

Draußen ist es Nacht geworden, und auch im Film ist Los Angeles eine dunkle, düstere Stadt mit dreckigen Neonlichtern. Die Religion ist ein kitschiges Theaterstück, unfair und bigott. Fair trials, they don’t exist my friend. Der Teufel trägt einen Anzug aus reinem Weiß, nur seine nackten Füße sind schwarz von Öl und Teer. Dass man ihm am Ende ein Schnippchen schlägt – vielleicht ist es das, was ich an der Geschichte so mag.

Gegen 22 Uhr gehe ich ins Bett. Mein Nacken ist entspannt, es ist genau richtig warm, und ich schlafe beinahe sofort ein.