ein guter Platz

Sheldon Cooper, eine Figur aus der Serie The Big Bang Theory, hat ganz genaue Vorstellungen, welcher Sitzplatz auf der Couch für ihn der richtig ist. Ich habe ganz genaue Vorstellungen, wo ich gerne in der U-Bahn sitze: im mittleren der drei Wagen, auf einem der drei Klappsitze, parallel zur Fahrtrichtung. Ich könnte jetzt die genauen Gründe aufführen, weshalb dieser Platz mein perfekter Platz ist, aber ich will auf etwas anderes hinaus. Nämlich auf die unbeabsichtigte Nebenerscheinung, dass ich an der Station Hauptwache einen exzellenten Blick auf eine Treppe habe, die die S-Bahn mit der Mitte des U-Bahn-Steigs verbindet. Meist gibt es dort nichts besonderes zu sehen, manchmal hektisch rennende Menschen, manchmal solche, die von außen auf den Türknopf drücken, während die U-Bahn schon weiterfährt, und zurückgelassen werden. Man muss kein Mitleid mit ihnen haben: die nächste kommt in zwei Minuten.

Nur ein Typ, der wird mir in Erinnerung bleiben. Mitte dreißig, kein Anzug, sondern legere Kleidung, schlacksig. Er kommt die Treppe runter, während des Gehens ein Buch lesend. Sein Schritt bleibt gleichmäßig, er beschleunigt kein bisschen, tritt in die U-Bahn, die Türen schließen hinter ihm. Er setzt sich mir schräg gegenüber, und liest ohne Unterbrechung, konzentriert und ohne hochzuschauen. An der Leine führt er einen alten Hund, ein gelber Mischling, mittelgroß, die Schnauze grau, die Bewegungen steif und von den Schmerzen des Alters gezeichnet, die Augen trüb, vielleicht schon blind. Der Hund drückt seine Nase gegen den Schenkel des Mannes. Es ist ein kurzes, eingespieltes Zeichen der beiden. Dann beginnt der Mann, den Hund zu streicheln, mit drei Fingern in kleinen Bewegungen am Kopf, massierend wie Shiatsu. Durch den Hund geht eine Woge der Wonne, er ist so glücklich, dass es eine Freude ist, ihn anzusehen.

Zwei oder drei Mal sind wir zusammen U-Bahn gefahren, und ich halte noch immer ein wenig nach den beiden Ausschau.

 

Frontrow Experiences

Als junge Frau habe ich siebzehnmal The Cure live gesehen. Ich sah sie auf Festivals, in großen Hallen und kleinen Clubs, die meisten Konzerte innerhalb einer Tour im Jahr 2000. Ich habe kein Buch darüber geschrieben, auch kein Weblog, aber ich hätte einen guten Titel dafür gehabt: frontrow experiences. Denn ganz vorne zu stehen, das war uns damals sehr wichtig, ganz nah dran, möglichst tief in der Musik drin, jede Note spürbar, jede Songzeile unter die Haut. Vorne links, das war mein Lieblingsplatz. Mittig war man zwar näher an Robert Smith, aber das war mir irgendwie nicht so wichtig, außerdem war’s da immer so voll, und der Punk drückte unangenehm von hinten. Überhaupt – die Mitte, nein danke. Bloß kein Mainstream sein.

Left of center heißt auch ein Song von Suzanne Vega, die ich neulich zusammen mit der wunderbaren Frau Novemberregen sehen durfte. Es war ein sehr heißer Sommertag, wir hatten beide tagsüber hart in unseren jeweiligen Büros gearbeitet, genossen nun die klimatisierte Konzerthalle, und standen ganz hinten, ein kühles Getränk in der Hand, kein Gedränge mehr, nur ein lockeres Zusammenstehen von Leuten. Dann kam Suzanne Vega auf die Bühne, eine exzellente Performerin mit hervorragenden Songs, sie hat das Publikum schnell für sich begeistert. Sie macht das anders als Robert Smith, aber auch sehr gut: sie hat eine Freude an ihrer Musik, die die Menschen ansteckt, ihre Töne und Worte haben eine Klarheit, die nur jene nicht berührt, die innerlich bereits betäubt sind. Bei The Cure ist das anders: es kommt – meist im zweiten Drittel der Show, wenn es eine gute Show ist – eine Stimmung auf, bei der alle zehntausende Konzertbesucher eingestimmt sind auf Robert Smith und die Musik, konzentriert auf ihn und das Geschehen, minimalste Gesten genau wahrnehmend, präsent im Augenblick und doch im Fluß. Ich würde fast sagen, es sind Momente der Transzendenz, aber vielleicht habe ich damit Unrecht.

Beim Konzert von Suzanne Vega hat mich enorm gestört, dass im Publikum teilweise sehr viel geredet wurde. Vorne steht diese großartige Frau und singt mit ihrer Stimme, like the bells of the cathedral, und neben mir wird gequatscht. Was kann es zu bereden geben, das nicht warten kann? Ich hatte nicht den Eindruck, dass es Dinge sind, die Gewicht haben, kurze Beobachtungen, die sofort geteilt werden müssen, nein, es war Gelaber, es war ein running commentary, eine dilettantische Untertitelung des Geschehens. Es ist mir schwer gefallen, mich davon zu lösen, mich in die Musik hineinfallen lassen zu können. Ob es daran liegt, dass ich älter geworden bin? Ich habe es letzendlich dadurch gelöst, dass ich weiter nach vorne gegangen bin, noch keine Frontrow, aber näher dran. Und ich weiß, Glashaus, Steine, denn ich äußere mich ja auch zu den Dingen, jetzt gerade zum Beispiel, aber ich weiß auch, wann es Zeit ist, die Klappe zu halten, den ewigen Strom der Kommentierung und Bewertung auszuschalten. Nämlich beim Sex und bei der Musik, denn dann geht es darum, ganz da zu sein. Man sagt, beides seien Überbleibsel aus dem Paradies, und wer es zulässt, kann das wirklich spüren.

Tankstellenblues

In der Anonymität der Großstadt gibt es Menschen, denen man, ohne es zu planen, immer wieder begegnet: die blonde Frau mit dem Fahrrad, der Leiter des Supermarktes um die Ecke, der großgewachsene Rezeptionsmitarbeiter des Bankenturms, die Postmitarbeiterin mit dem Schlüssel zum Tresor. Wir sind nicht bekannt, schon gar nicht befreundet, und haben doch immer wieder miteinander zu tun.

Zu dieser Gruppe von Menschen gehört auch der Mann von der Tankstelle. Er ist etwa in meinem Alter, etwas pummelig, und sein zunehmender Haarverlust hält ihn nicht davon ab, sein Haupthaar in einem langen, fettigen Pferdeschwanz zu tragen. Ich hasse ihn. Für meine persönliche Abneigung habe ich gute Gründe. Zum Beispiel seine hochherrschaftliche Haltung: er ist Fürst dieser Tankstelle, dies ist sein Reich, das ich nun betreten habe. Ich möchte zahlen? Nun ja, seine Majestät wird es in Erwägung ziehen. Kommt es dann zu einer Transaktion, wird diese meist begleitet durch „lustige“ Sprüche (in hessischer Sprachfärbung) oder noch schlimmer – Belehrungen.

Nun könnte ich natürlich auch woanders tanken. Aber es ist die nächstgelegene Tankstelle, und an der anderen Tankstelle sind, weil das Benzin 1 Cent billiger ist, immer lange Schlangen. Und so ist jene Tankstelle über die Jahre zu einem vertrauten Ort meines Kummers geworden. Denn ich tankte dort fast ausschließlich, bevor ich mich auf den Weg zu meinen Eltern machte, zweihundert Kilometer weit, an Freitagabenden oder Samstagmorgenden, immer ein wenig zu spät dran, und immer mit Sorgen im Herzen, Gedanken im Kopf. Wie wird es meinem Vater gehen? Wird er aggressiv sein oder teilnahmslos? Wie ist seine körperliche Verfassung, was geht nun auch nicht mehr? Wie wird die Betreuungssituation sein, welche Kämpfe werden auszufechten sein? Wie wird es meiner Mutter gehen? Wird sie wieder davon sprechen, an einem Tag mit Minustemperaturen in die Berge zu gehen, sich hinzulegen und auf den Erfrierungstod zu warten? Und wie geht es mir, in meiner stetigen Verwaltung des Mangels, zu wenig Zeit, zu viel Arbeit, zu viel zu tun, hochfunktional durch das Meer an Krisen.

So stapfe ich dann zum Tankstellenhäuschen, bittebitte, heute mal ein anderer Mitarbeiten, und sehe den Tankstellenmann mit seinem Pferdeschwanz, und denke: wenn du mir jetzt einen Spruch drückst, Alter! Denn ich habe den Punkt erreicht, an dem ich nichts mehr ertragen kann, keinen Witz, kein Wort, kein Sandkorn.

Vorgestern war ich wieder dort, ziemlich entspannt, für meine Verhältnisse, schlenderte zwischen den Tankstellen gen Kasse, jemand hatte einen wirklich sehr schönen Hund an einen Laternenpfahl angebunden, oh so ein Hund, dachte ich, mit seinem weichen Fell, eines Tages zu meinen Füßen liegend.

Der Mann von der Tankstelle war freundlich und leicht gelangweilt, die Transaktion wie ein eingespielter Tanz, er weiß genau, dass ich mit Karte zahle, wir verabschiedeten uns nondeskript.

Vielleicht ist in seinem Leben auch etwas passiert, hat seine Arroganz, hinter der wohl auch eine Unsicherheit steht, abgemildert, hat ihn entbunden von dem Druck, immer lustig sein zu müssen. Man weiß ja nie, was in den Menschen, denen man so begegnet, vorgeht, und was sie gerade so erlebt haben.

 

31. Januar 2015

Sterben

Es ist mir nur unzureichend gelungen, davon zu erzählen: von der Erkrankung meines Vaters, seinem fortschreitendem Verfall, seinem Sterben, seinem Tod; und den Auswirkungen auf meine Familie und mich. Es war und ist sehr traurig. Jemand leiden sehen, den man liebt, ist vielleicht das schwerste überhaupt. Gelitten hat nicht nur mein Vater, sondern auch meine Mutter – bis heute und darüber hinaus.

Verstehen

Es gab in dieser Zeit auch gute Momente. Wenn ich meine Stärke gespürt habe, zum Beispiel. Wenn ich zurückblicke und sehe, wie gut es mir alles in allem gelungen ist, meinen Vater bis zum Ende zu begleiten. Was für eine Wahnsinns-Leistung.

Zu erkennen, dass all dies so sehr weh tut, weil ich so sehr liebe, und so sehr geliebt worden bin. Was für ein Privileg.

Wieviel aber soll ich erzählen von einer Geschichte, die nicht nur die meine ist? Was darf veröffentlicht werden über jemanden, der seine kognitiven Fähigkeiten verliert und deshalb per se kein Einverständnis geben kann? Und doch kann es auch nicht richtig sein, kann es nicht in seinem Sinne sein, Krankheit und Tod zu tabuisieren. Mir selbst hat – vor allem in der Anfangszeit, als ich nicht absehen konnte, was kommen wird – nichts geholfen, außer von Angehörigen zu hören, die ähnliches erlebt haben.

An wieviel will ich mich selbst erinnern? Ist vergessen nicht auch gütig? Oder ist es besser für mich, jetzt zu protokollieren, ehe die Erinnerungen ungenau und auf Anekdoten reduziert werden? Gleichwohl. Vieles werde ich ohnehin nie mehr vergessen, vor allem vom Tag seines Todes:

Das Licht, mit diesen schrägen Strahlen der Wintersonne, die durch das Fenster schienen. Die leise Gitarrenmusik. Die Pflegekraft, die meinte, seine Beinen seien schon „marmoriert“. Sein erster Atemaussetzer, als ich alleine mit ihm war, während meine Mutter gerade mehr Morphium von der Apotheke abholte. Eine andere Pflegekraft, die sich zum Schichtende von ihm verabschiedete, mich umarmte und weinte. Wie wir dann zu dritt an seinem Bett wachten, ich links, meine Mutter rechts, sein Bruder am Fußende des Bettes, und er dann aufhörte zu atmen. Einfach so. Es kann also so einfach sein, mit dem Tod, dachte ich. Und wie ich einen Moment lang einfach nur sehr froh für ihn war.

Das Licht, sich verändernd, wie es Abend wurde und dann Nacht, während ich Totenwache hielt an seiner Seite. Meine Schwester, die zu spät kam. Die Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts, die sehr freundlich und mitfühlend waren, mich behandelt haben wie ein rohes Ei, und meinen Vater dann auf einer Trage in einem burgunderfarbenen Leichensack abtransportiert haben. Wie sie ihn an mir vorbeigerollt haben, und ein Gefühl in mir war, als wäre meine Seele ein Leintuch, dass in Streifen gerissen wird. Wie ich meinen Kopf gesenkt habe, aus Respekt vor ihm und seinem Leben.

 

Am besten erzähle ich davon in Bruchstücken und Fragmenten, wie es schon immer meine Art gewesen ist.

(ohne Titel)

Meinen Vater im Pflegeheim besucht. Er liegt im Bett, erholt sich gerade von einer Lungenentzündung. Das Pflegepersonal will ihn heute nicht in den Rollstuhl setzen; er hat, wenn er müde ist, einen Linksdrall und kann nicht gut aufrecht sitzen. Es ist ein schöner, sonniger Herbsttag, ich wäre gerne mit ihm auf die Dachterasse gefahren. Es wird ja vielleicht nicht mehr allzu viel sonnige Herbsttage für ihn geben.

Stattdessen bleiben wir in seinem Zimmer, das Fenster geöffnet. Ich habe ihm belgische Pralinen mitgebracht und füttere ihm zwei davon. Wir blättern in einer Zeitschrift. Er schaut sehr interessiert, auch wenn ich nicht glaube, dass er noch irgendetwas versteht. Seit einigen Wochen kann er seine Hände nicht mehr benutzen. Wenn er umblättern möchte, deutet er die Bewegung mit dem Handgelenk an, die Hand selbst hängt schlaff herunter. Sie ist schon dabei, sich zu verformen, was mich sehr traurig macht.

Neuerdings sammle ich kostenlose Zeitschriften für ihn. Heute lesen wir die Apotheken Umschau – ich mache ein Kreuzworträtsel und tue so, als ob er mitmachen würde – und Alverde, die Zeitschrift eines Drogeriemarktes, die ich ganz gut finde. Dann hören wir ein wenig Musik, ich singe hier und da, und auch er summt ein- oder zweimal. Ich erzähle ihm, dass meine Freundin ein Kind bekommen hat, wunderschön und ganz bezaubernd. Als er noch zuhause war und es ihm besser ging, hatte er sie kennengelernt (und sie beharrlich „Barbara“ genannt, obwohl sie ganz anders heißt). Ich glaube nicht, dass er versteht, was ich ihm erzähle. Ich erzähle ihm nichts von mir; nicht, dass ich einen neuen Job habe, oder mit meiner Mutter ein paar Tage in Oslo war. Wenn ich es versuche, bin ich sofort den Tränen nahe.

Als es ihm so schlecht ging mit der Lungenentzündung, und der Arzt meinte, die Töchter sollen kommen und sich verabschieden, da habe ich ihm gesagt, dass ich ihn liebe. „Und ich weiß, du liebst mich auch.“ Beim Aussprechen gemerkt, dass daran niemals Zweifel bestand, dass es eine fest verankerte, unumstößliche Tatsache ist. Muss man gar nicht dauernd sagen, es ist nichts neues.

Immer mal wieder gleitet mein Vater ab in Tagträume und Halluzinationen. Seine Arme schieben und falten imaginäre Gegenstände; er hat Dialoge mit jemandem, der nicht da ist und sagt: „so, so!“. Er führt die Hand, die keine Gabel mehr halten kann, zum Mund und schnappt nach Bissen, die nicht da sind. Aus den Bildern in den Zeitschriften entschlüpfen Welten und hüllen ihn ein. Er redet viel, das meiste verstehe ich nicht. Einmal sagt er: „ich brauche den Eimer aus Blech!“, vielleicht etwas aus seiner Kindheit. Dann sagt er zu mir: „bleibst du noch zehn Minuten?“, und ich weiß nicht, ob er es meint oder ob es nur ein Satzfragment ohne Bedeutung ist, ein Manierismus in Wortform, zufällig abgefeuert von einem Neuronencluster in seinem zerstörten Gehirn.

Er ist unruhig, rutscht im Bett häufig nach unten, und findet keine bequeme Position. Er hat nicht mehr genug Muskelkraft, um sich selbst zu drehen oder so hinzulegen, dass es ihm gut tut. Ganz dünn ist er geworden, wie ein Kriegsgefangener, nur noch pergamentene Haut über Knochen, die Knie dicker als die Oberschenkel. Ich versuche, ihn umzulagern, es gelingt mir nicht. Es gibt nur noch so wenig, was ich für ihn tun kann.

Es ist Abend geworden und ich rufe eine Pflegekraft, damit sie ihn umbettet und seine Windel wechselt. Heute ist es eine Frau, die in Bosnien geboren und aufgewachsen ist. Während der Fußball-EM hat sie mir immer von ihrer Mannschaft erzählt, und dabei Deutschland und Bosnien gleichzeitig gemeint. Während sie ihn windelt, hänge ich vor der Tür rum und merke, wie sehr ich innerlich erschöpft bin. Ich kann absolut keine Freundlichkeit mehr für sie oder ihre Kolleginnen aus dem Pflegeteam mehr aufbringen, obwohl sie es verdient hätten.

Dann verabschiede ich mich von meinem Vater, der schon beinahe eingeschlafen ist, und mache mich auf den Heimweg. Die Sonne geht unter und hinterlässt einen tiefblauen Himmel mit Wolkenbergen. Kate Bush singt, beruhigend und zart, aber ich werde immer bitterer, wütender, frustrierter, zorniger. Ich beschließe, jetzt sofort von der Autobahn abzufahren, obwohl ich nicht mehr viel Benzin habe. Ich biege mal links ab, mal rechts, fahre über die Landstraße, in der Ferne ein Wetterleuten. Ich lasse die Fenster herunter, es riecht nach Wiese und Wald und Fichtennadeln. Immer mal wieder zirpt eine Grille, so spät noch im Jahr. Ganz kurz blitzt in mir die Erinnerung auf an glückliche Tage, während mein Navi verzweifelt versucht, den Weg zurück zu berechnet. Als ob es den noch gäbe.

Mir begegnen große Landmaschinen und Traktoren, irgendwo wird im allerletzen Licht noch geerntet. Einmal geht es nicht weiter und ich wende auf einem Parkplatz, auf dem ein Wohnmobil steht. Davor sitzt eine Frau auf einem Stuhl und hält ihren Hund am Halsband fest, der mein Auto interessiert beäugt. Im erleuteten Wohnmobil werkelt ihr Mann in der Küche. Ich fahre weiter, durch Dörfer und Industriegebiete. An einem Zaun ist ein Lama angebunden (oder ein Alpaca?), das zu einem kleinen Zirkus gehört. Dann komme ich an einen Kreisverkehr und fahre zweimal rund herum, bevor mir die Metapher zu blöd wird und ich wieder Richtung Frankfurt fahre. Es wetterleutet hell und immer häufiger, ich komme dem Gewitter immer näher, bis ich schließlich mittendrin bin. Dicke, fette Tropfen knallen auf meine Windschutzscheibe. Es ist schwierig zu fahren, man sieht kaum was und ich zähle die Kilometer runter. Dann bin ich zuhause. Es nieselt. Meine Tankanzeige blinkt.

Nicht immer, aber manchmal

Die Freude, die ich habe, wenn ich einen guten Text lese.
Und Musik.
Wenn ich schon tanze, ehe ich merke, dass ich es tue.

Die Balkontür ist offen und draußen rauscht der Regen,
die Luft riecht nass und grün.

Die Freude, die ich habe, weil ich am Leben bin,
und weil ich es köstlich finde,
wunderschön und federleicht.

How I work (or whatever it is that I do sometimes)

Auf Wunsch einer Einzelperson ein Stöckchen:


Bloggerinnen-Typ:
Zwischen autobiografischen Schreiben und Emo. Anscheinend schreibe ich „erzählende Prosa„.

Gerätschaften digital:

Ein iPod Touch und ein Schreibtisch
Schreibtisch3

Gerätschaften analog:
Am liebsten ein weißer Briefblock in DinA5 und natürlich die Olympia Schreibmaschine
Olympia

Arbeitsweise:
Ist es Arbeit, was ich tue? Was tue ich eigentlich?
Manchmal schreibe ich etwas auf, und ein Weblog ist der beste Aufbewahrungsort dafür.

Welche Tools nutzt du zum Bloggen, Recherchieren und Bookmark-Verwaltung?

Ich überlege, nach all den Jahren von Twoday wegzuziehen. Fragmente.de kostet leider mehrere hundert Euro. Vielleicht zu .me wie Glam und Lucky?
Ich bin begeistert von Instapaper. Über einen kleinen „read later“ Button in der Browserzeile kann man dort die Website speichern, die man gerade liest. Für mich sehr hilfreich, sei es, um gute Texte oder Bilder später auf Twitter zu teilen, oder auch für triviales wie Onlineshopping, Urlaubsplanung etc.

Wo sammelst du deine Blogideen?
Ich führe To-do-Listen in Remember the milk und sammele dort auch ein paar Fragmente, die ich gerne aufschreiben würde.

Was ist dein bester Zeitspar-Trick/Shortcut fürs Bloggen/im Internet?
Ich bin im Internet, um Zeit zu vergeuden, nicht, um sie zu sparen.

Benutzt du eine To-Do List-App? Welche?
Remember the Milk, siehe oben, allerdings eher nebenbei. Die wirkliche To-do-Liste ist auf dem A5-Briefblock, ergänzt von einem Whiteboard.

Gibt es neben Telefon und Computer ein Gerät, ohne das du nicht leben kannst?
Ein Musikabspielgerät.

Gibt es etwas, das du besser kannst als andere?
Ich finde den Vergleich mit anderen sinnlos.

Was begleitet dich musikalisch beim Bloggen?
Aphex Twin – Selected Ambient Works Vol. II

Wie ist dein Schlafrhythmus – Eule oder Nachtigall?
Ich habe recht früh begriffen, dass ausreichender Schlaf für mich wichtig ist, und gehe daher relativ konsequent um Mitternacht ins Bett. Werktags stehe ich gegen halb acht/acht auf, am Wochenende schlafe ich aus.

Eher introvertiert oder extrovertiert?
Meine Scham ist oft um etwa 10 Minuten verspätet, so dass ich in sozialen Situationen gelegentlich extrovertiert wirke.

Wer sollte diese Fragen auch beantworten?
Hotel Mama

Der beste Rat, den du je bekommen hast?
„Be kinder than necessary because everyone you meet is fighting some kind of battle“

Noch irgendwas wichtiges?
Wir sind alle imperfekt.

Zur gleichen Zeit am gleichen Ort

Eines Tages mache ich alles ein wenig anders. Ich fahre zwei U-Bahnen früher als sonst in die Stadt, denn ich will besondere Kekse kaufen, um einer Kollegin damit eine Freude zu machen. Ich bin so früh dran, dass das Kaufhaus noch nicht geöffnet hat, also genieße ich das Flair der Hauptwache: all die Menschen, die kreuz und quer durch die niedrige, langgestreckten Halle der B-Ebene ihrem Ziel entgegenströmen, und ich, ohne Eile.

Ich entscheide mich, mir beim Bäcker zum Frühstück ein Croissant zu kaufen. Dass es drei Bäcker in der Hauptwache gibt, fällt mir erst jetzt, außerhalb meiner gewohnten Bahnen, auf. Dem Thema des Tages folgend gehe ich zu dem Bäcker, den ich sonst nie wähle, und traue meinen Augen nicht, denn an der Theke steht mein Liebhaber.

Rational ist es ganz klar: er steigt hier um, und kauft sich, wie ich, zum Frühstück etwas beim Bäcker. Doch in diesem Moment kommt es mir so unglaublich und überwältigend vor, ihn dort zu treffen – unter all diesen Zehntausenden Menschen, die diesen Ort durchqueren, ausgerechnet wir beide, zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Ich begrüße ihn, wir wechseln ein paar Worte, er bezahlt und wir gehen ein Stück zur Seite. Dann umarme ich ihn. Er hat so einen wunderschönen Körper: feingliedrig, aber doch maskulin; sehnig, aber nicht übermäßig muskulös, und ist genau richtig groß, so dass mein Kopf an seine Schulter passt. Wir küssen uns. Euphorie und Wunder durchfluten mich, ich bin ein einziges Lächeln. So könnte es jeden Tag sein, denke ich, und wie schön das wäre, wenn man jemanden küssen könnte, sooft man will.

Dann ist unser Kuss vorbei, so wie auch unsere Liaison beinahe vorbei ist. Sie flackert in den kommenden Wochen noch einmal auf, und dann gibt es keine Begegnungen mehr, weder geplant noch zufällig, und keinen Groll. Die Dinge sind nun mal, wie sie sind. Aus dem Erlebten wird Erinnerung, und schließlich eine Geschichte.

Im Aufzug

Es ist Sommer. Ich laufe in der Mittagspause schnell ins Einkaufszentrum und mache eine Besorgung. Ich nehme nicht die Rolltreppe, sondern den Aufzug, das erscheint mir schneller. Zunächst aber warte ich mit zwei älteren Herren, dass der Aufzug kommt. Sie sind wirklich schon sehr alt, eher neunzig als achtzig, ganz verbogen, verbeult und zerknittert, nur ihre Laune nicht. Der Aufzug fährt an uns vorbei und wir beginnen ein Gespräch über den Algorithmus hinter der Fahrstuhlprogrammierung. Ich bin da sehr enthusiastisch, und die beiden recht vergnügt, und dann kommt auch schon der Aufzug, und wir steigen ein. Der Aufzug fährt nach unten, auch wenn die Herren lieber nach oben gefahren wären. „Mit Deutschland geht es auch nur noch abwärts“, sagt der eine und lacht. Ich widerspreche, auch wenn ich keine Argumente habe, nur ein Grundgefühl. In dem kurzen Moment vor dem Aussteigen fällt mein Blick auf das Handgelenk des Sprechers. Dort ist eine Nummer eintätowiert, schludrig und an den Rändern verlaufen. Keine Seemannstätowierung, da gibt es gar nichts zu überlegen. Mein Geist hält nur an der Überlegung fest, was es alles nicht ist, weil mir zu grausam erscheint, was es wirklich ist..

***

Anzugtypen im Aufzug, Und ich. Der eine zum anderen: „The only time I ever met Mitt Romney…“ und ich denke: wow! Nicht wegen Mitt Romney himself, sondern wegen der Perfektion, mit der dieser Halbsatz gleichzeitig Angeberei und Understatement ist. Ich erinnere mich an Ela, wunderschön und beneidenswert, die ich vor einem Curekonzert kennengelernt habe, viele Jahre ist das schon her. Jemand fragte sie: „wie war das damals, als du Robert Smith getroffen hast?“ und sie sagte: „beim ersten oder beim zweiten Mal?“

Jedenfalls: der Anzugtyp, mit dem ich gerade Aufzug fahre, ist einmal mit Mitt Romney in einem Aufzug gefahren. Das war in Boston oder so, und die beiden stiegen in den Aufzug ein, aber der Aufzug fuhr nicht los. Sie wunderten sich, dann wurde klar: keiner von beiden hatte auf den Aufzugknopf gedrückt.

Realismus

Es gibt eine These, dass depressive Menschen die Realität genauer wahrnehmen als die vermeintlich normalen. Genauer heißt auch: ohne positive Illusionen, ohne Selbstüberschätzung, ohne den Glauben, alles im Griff zu haben.

„Man hangelt sich so von Fest zu Fest“, sagte Ruths Mutter einst. Ich weiß, was sie meint. Meine Jahre sind unterteilt in schöne Ereignisse, Zeit mit Freunden, kürzere Reisen. Die Zwischenräume füllt die Arbeit, Alltägliches und die kleinen Freuden: ein gutes Essen, ein schöner Text, Musik. Gemütliche Momente, und der Frieden, den mir frisch gewaschene Wäsche gibt.

Nur manchmal reißt der Schleier auf, und ich sehe meinen Stillstand. Ich spüre, was mir fehlt, und was ungelebt bleibt. Aber woher soll die Kraft kommen, etwas zu verändern? Ich habe mich selbst eingelullt.