14/31 – Obligationen

In den Tag hineingetrödelt, ein angenehmes, beinahe köstliches Verschwenden der Zeit. Lange im Bett geblieben, dann im Sessel gesessen und gelesen, gegen Mittag wieder ins Bett gegangen und zwei oder drei Stunden geschlafen.

Ich spüre manchmal ein großes Bedürfnis in mir, mich hinzulegen. Mein Körper sehnt sich nach dem sehr spezifischen Gefühl der Matratze unter mir – firm, aber doch irgendwie glatt. Druck und Gegendruck, genau richtig viel. Es ist schön, diesem Wunsch einfach nachgeben zu können.

Es fühlt sich an, als sei dies der letzte Tag ohne Obligationen für lange Zeit. Das stimmt natürlich nicht, ich glaube, nächster Samstag ist auch frei, dann aber tatsächlich erst wieder im November. Und es stimmt natürlich auch nicht, dass dieser Tag gänzlich frei von Obligationen wäre. Obligationszeit heißt es in dem Buch über die Zeit, das ich noch keine Zeit hatte, fertig zu lesen, und es bezeichnet die Zeit, die man braucht, um das Leben am Laufen und organisiert zu halten.

Gegen vier Uhr beginnt meine Obligationszeit. Ich mache mir Gedanken zur Urlaubsplanung im November, google nach Flügen, Hotels, Urlaubsorten. Bespreche mich dazu mit meiner Mutter per Videocall, als wir auflegen, ist es halb neun. Wir haben Klarheit gewonnen, aber noch nichts gebucht. Ich atme durch und bestelle dann quer durch das Internet: Kontaktlinsen, einen neuen BH, Hosen, Jacken, Shirts. So richtig schöne, crispe Sneaker hätte ich noch gerne, aber keine Muße mehr zum Aussuchen.

Große Lust, ein richtig schönes Buch zu lesen.

Luxusprobleme.

Statistik:
Laune: 8/10
Fitness: 7/10
Druck: 6/10
Schlaf: 8/10

13/31 – Tropical Island

Ein sehr schöner Tag war das heute.

Im Büro erst einmal ein längeres, spontanes Gespräch mit meiner Mitarbeiterin gehabt. Sie ist jetzt anderthalb Jahre dabei, und es ist wunderbar, zu sehen, wie sie in dieser Zeit aufgeblüht ist. Sie ist eine genaue Beobachterin, und ich hatte sie vor ein paar Tagen das erste Mal zu einem ziemlich vertraulichen und internen Meeting mitgenommen. Spannend, ihre Eindrücke und Gedanken zu hören, Dinge mit ihr diskutieren zu können. Sie versteht mittlerweile sehr viel von unseren inneren Dynamiken. Ich habe ihr gerne zugehört.

Dann Aussprache mit einem Abteilungsleiter. Wir mögen uns sehr, geraten aber immer mal wieder aneinander, und dann mit der Heftigkeit eines alten, zornigen Ehepaares. Gutes, versöhnliches Gespräch, auch wenn unterschiedliche Sichtweisen bestehen bleiben.

Sehr früher Feierabend und die äußerst zuverlässige Novemberregen auf dem Parkplatz eingeladen. Mag das sehr, wenn sie in mein Auto steigt, und dann riecht es einen kurzen Moment sehr angenehm, aber dezent.

Wir fahren in ein Einkaufszentrum, und ich verfahre mich trotz Navi erst einmal. Es ist erstaunlich, wie inselhaft meine Stadtkenntnis ist: alles rund um die Bankentürme kenne ich in- und auswendig, die Touristengegend am Fluss auch, außerdem das Areal um den Hauptbahnhof und die Messe, ebenso die Umgebung rund um die Wohnungen von Novemberregen und Francine. Zwischen diesen Inseln, ein weißes Nichts.

Im Einkaufszentrum war ich jedenfalls schon ein paar Mal, es ist allerdings mindestens fünf Jahre her. Ich lebe generell kein Leben, in dem Einkaufszentren eine Rolle spielen. Das ist ein bisschen schade, denn ein Teil von mir sehnt sich durchaus nach einem Leben, in dem ich nachmittags einen Kaffee in einem Einkaufszentrum trinke und den Menschen zuschaue (Frau N. „es gibt so viele schönere Orte, wo man einen Kaffee trinken könnte!“ – Ja, aber das ist nicht der Punkt).

Ich hatte vermutet, das Einkaufszentrum stamme aus den 1980ern. Es wurde jedenfalls viel Beton verbaut. Tatsächlich wurde es 1968 erbaut, 1986 saniert („ich heirate eine Familie“), und 2001 mit einem Glasdach und „Ruheoasen“ versehen. Über den Architekten (der bei Albert Speer gelernt hatte) heißt es auf Wikipedia: „[Seine] Bauten stehen am Übergang von der NS-Architektur zur modernistischen Architektur der 1950er Jahre, als der Anschluss an die internationalen Architekturströmungen (z. B. Le Corbusier) gesucht wurde.“

Es ist erstaunlich, wie mich die Freundschaft mit einer Architekturhistorikerin verändert hat. Ich sehe mehr, verstehe mehr von dem, was ich schon immer zu Architektur gefühlt habe, und kann es jetzt auch benennen.

Was aber führt nun Frau N. und mich in ein Einkaufszentrum weit außerhalb unserer Hood? Frau N. hatte dort eine Apotheke ausfindig, und ich uns beiden einen Impftermin (Grippe und XBB) klar gemacht. Wir waren etwas zu früh dran und haben – gemütlich sitzend – vor uns hingewartet und den Menschen zugeschaut. Ein älterer Herr betrat die Apotheke und bat um Wasser, Schmerzmittel, Traubenzucker. Er war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, sehr wackelig auf den Beinen, und nicht mehr richtig Herr der Lage. Es wurde sich – auch von Frau N. – sehr freundlich um ihn gekümmert, aber er war ein bisschen stur, wollte zum Bus, dort aber nicht von uns hingebracht werden. Wir sahen uns schon einen Krankenwagen rufen, aber während Frau N. geimpft wurde, haben ihn zwei Damen, die er anscheinend kannte, mitgenommen. Ich hoffe, es ist gut ausgegangen.

Ich hatte Frau N. angekündigt, ich wolle noch „shoppen“ gehen (when in Rome…), sie teilte mir mit, sie shoppe nicht gerne, wir konnten die Situation dann auflösen, indem ich shoppen konkretisiert habe (Passfotos machen, Starbucks, Rewe, Blumen kaufen), da wollte sie dann gerne mitmachen (sie hätte ansonsten auch mit der ganz hervorragenden U-Bahn-Anbindung oder mit dem älteren Herren im Bus weiterfahren können.) Wir machten uns dann auf die Suche nach den verschiedenen Geschäften, ließen uns ein bisschen treiben und schauten immer mal wieder auf einem der Schilder nach, ich fand das sehr angenehm. Bei den Passfotos wurde ich enttäuscht, denn der sehr freundliche ältere Mann (Iraner?) teilte uns mit, die Passfotomaschine sei defekt. Frau N. war bei Starbucks sehr glücklich, denn es war klimatisiert. Ich glaube, ich bin für dieses Jahr mit Pumpkin Spice Latte durch. Viel über Arbeitsbelastung geredet, den Druck und wo er herkommt, Reduzierung auf 80%, die European Head-Stelle… ich habe das Gefühl, Frau N. wollte mir etwas sagen, aber ich habe es nicht verstanden. Es wird kommen, wenn die Zeit reif ist.

Die Blumen haben uns beide nicht überzeugt. Dafür kamen wir auf dem Weg zu Rewe zufällig an einem Fotogeschäft vorbei. Wer hätte geahnt, dass das Einkaufszentrum nicht eines, sondern *zwei* Fotogeschäfte besitzt? Magisch. Ich ließ biometrische Passfotos anfertigen, meine Bitte, mich möglichst wenig bekloppt zu fotografieren, wurde sehr kompetent entsprochen, ich würde sogar sagen, ich sehe schön aus. Auf einem biometrischen Passfoto. Es ist unglaublich. Die nächsten zehn Jahre mit Ausweisdokumenten sind gesichert. Der Rewe hatte eine sehr solide Feinkostauswahl, das kann man sich merken. Nach einigem hin und her gelang es uns, das Auto aus dem Parkhaus auszulösen. Ich hatte das Parkticket verlegt, weil Frau N. mir mein Geburtstagsgeschenk überreicht hatte und ich war so aufgeregt. Der Parkscheinautomat nahm nur Münzen, das passt irgendwie ins Gesamt-Ambiente.

Wie ein kleiner Kurzurlaub war das. In Brandenburg haben sie ja eine Badelandschaft in eine ehemalige Zeppelin-Halle gebaut, das stelle ich mir ähnlich vor, nämlich: großartig, wenn man sich darauf einlässt.

Statistik:
Laune: 9/10
Fitness: 7/10
Druck: 6/10
Schlaf: 7/10

12/31

Heute Home Office gemacht, länger geschlafen, weniger gearbeitet, nur 2 Videocalls, einer davon einfach, nach dem anderen noch ein bisschen Emotionen bei einer Kollegin stabilisiert.

Bisschen den eigenen Alltag administriert, Fahrzeugschein eingescannt für die Werkstatt nächste Woche, Unterlagen ausgedruckt. Nach dem frühen Feierabend die Wohnung grob durchgeputzt, gerade eben sogar noch die Küche gewischt. Es wird reichen fürs Wochenende, morgen bringe ich noch den Müll raus, am Samstag eine Ladung Wäsche oder auch zwei, mehr nicht. Die Unordnung nimmt wieder zu, aber die Geschwindigkeit habe ich verlangsamt.

Alles etwas bröselig heute, die Zeit in Bruchstücken verschwendet, bisschen Internet, bisschen TikTok, Musik gehört, nachgedacht. Fragmente.

Der Druck lässt nach.

Statistik:
Laune: 7/10
Fitness: 7/10
Druck: 7/10
Schlaf: 8/10

11/31 – drei Leben

Zehn Minuten vor dem Wecker aufgewacht, aus unruhigen Träumen. Ein blödes Aufwachen ist das.

Ich hatte einmal eine Freundin, die mir immer kurz nach Mitternacht gratuliert hat, denn sie wollte die erste sein. Ich vermisse sie nicht, aber diesen Aspekt schon. Jetzt bleibt mein Handy dunkel, bis ich geduscht und angezogen bin, acht Uhr.

Ich bin melancholisch heute. Did you get enough love, my little dove? Why do you cry.

Ist es genug? Bekomme ich genug? Und an wen würde ich meine Beschwerde richten? Mängelrüge an das Universum.

If I had three lives, I’d marry you in two. Vielleicht ist das hier gerade das dritte.

Ich wünsche mir manchmal diese kindliche Begeisterung für Geschenke zurück. Das Staunen beim Öffnen, der Wow-Moment, die Überraschung. Wenn ich gefragt werde, was ich mir wünsche, fällt mir nichts ein. Ich bin zu einer Frau geworden, die nichts mehr braucht.

Dann ruft Novemberregen an und gratuliert mir. Im Büro haben sie mir meinen Schreibtisch geschmückt. Der Geschäftsführer singt mir ein Lied. Francine meldet sich, und für die Sprachnachricht von Kassandra muss ich die Tür zu machen, so gerührt bin ich. Der Lieferdienst liefert Kuchen, es gibt viele Umarmungen.

Ich mache früh Schluss, Abendessen bei meiner Mutter. Es gibt einen Korb voll Kleinigkeiten, und jede sagt: ich kenne dich, ich weiß, wer du bist und was du magst.

Es ist schön, dieses dritte Leben.

10/31 – Zähne zusammenbeißen

Heute wirklich unglaublich viel gearbeitet. PowerPoint-Folien und Videocalls und Auswertungen in Excel und wieder Videocalls und Besprechungen und PowerPoint-Folien und Emails und Videocalls. Gefühlt nur reaktiv und nichts von meiner eigenen To-do-Liste, Tür zu, Kopf unten.

In der Mittagspause zum Zahnarzt, erst Zahnreinigung, dann Warten, dann Zahnkontrolle. Mir ist ein kleines Stück einer Krone abgebrochen, da bleibt jetzt beim Essen öfter was hängen. „Sie pressen nachts“, sagt mein Zahnarzt, und spricht über den Druck und dass die Zähne doch gleichsam Hartgebilde als auch lebendig und flexibel sind. Das Wort Ossifikation liegt mir auf der Zunge, aber es passt nicht. Zähne sind keine Knochen, sondern verhärtete Hautbestandteile.

Der Zahnarzt rät zur Knirschschiene. Ich denke, ich sollte weniger arbeiten, und eile wieder zurück ins Büro, zwischen meinen Zähnen ein Sandwich, während ich Zahlen eintippe.

Viertel nach sieben kleiner Feierabend, um acht bei meiner Mutter vorbeigeschaut. Lange über die Lage im Nahen Osten geredet. Sie macht sich große Sorgen, das ist immer so bei bedrohlichen Weltereignissen, an denen es in letzter Zeit keinen Mangel gab. Ich beneide sie ein bisschen um die Fähigkeit, emotional bewegt zu sein, bei mir ist nur noch Fatalismus.

Die Welt wird enden, und das Ende rückt näher.

Ich denke, ich sollte weniger arbeiten.

Statistik:
Laune: 7/10
Fitness: 7/10
Druck: 8/10
Schlaf: 7/10

8/31 – Antiemetika

Bis halb zehn geschlafen, durchgeschlafen, aber nicht fit gewesen. Nach dem ersten Kaffee so große Übelkeit, dass ich mein gesamtes Hausapotheken-Arsenal an Antiemetika ausreizen musste. Nochmal hingelegt bis etwa ein Uhr, und mich dann mit dem Stimmzettel auseinandergesetzt. Ich hatte Briefwahl beantragt. allerdings übersehen, dass dieser bereits am Donnerstag hätte abgeschickt werden müssen, um rechtzeitig beim Wahlamt einzugehen.

Mir geht es beim Wählen so wie den meisten in meinem persönlichen Umfeld: ich fühle mich von keiner Partei repräsentiert und bin mit allen unzufrieden. Es geht also beim Wählen darum, die Entscheidung zu treffen, die am wenigsten weh tut. Schwierig. Meistens splitte ich meine beiden Stimmen, in der Hoffnung, dass der gemittelte Wert einigermaßen passt. Ich vergebe eine meiner Stimmen auch gerne an eine Kleinstpartei wegen Parteienfinanzierung.

Ich wähle übrigens immer, Nichtwählen ist keine Option für mich. Ich denke in letzter Zeit öfter darüber nach, was es für mich bedeutet, Staatsbürgerin zu sein. Ich halte es für ein großes Privileg, das mit Rechten und Pflichten verbunden ist. Demokratie ist schön, macht aber auch Arbeit.

Mit Briefwahlzettel und iPad ein halbes Stündchen gesessen und die Kandidat/innen und Parteiprogramme gegoogelt. Gewählt. Mit dem Auto zum Wahlamt gefahren, ein sehr sonniger, warmer Sonntag, viele Menschen auf den Straßen. Im Auto große Sehnsucht danach, mich hinzulegen. Von dem Gefühl der Matratze unter mir phantasiert.

Zuhause noch eine Waschmaschine angeworfen, den Wecker gestellt und sofort anderthalb Stunden tief geschlafen. Nach zwei Mal Snoozen die Wäsche aufgehängt, mich wieder hingelegt.

Diesen Text geschrieben, runtergetippt eher. Keine Kraft. Müde.

Statistik:
Laune: 5/10
Fitness: 2/10
Druck: 8/10
Schlaf: 7/10

07/31 – in den Knochen

Müde. Um halb sechs aufgewacht, nicht mehr einschlafen können. Das macht der Druck mit mir, und es ist eine große Ironie.

Aufgestanden. NYT Connections halb gelöst. Das Bett abgezogen, Wäsche sortiert, das Bett neu bezogen. Eine Ladung Wäsche gewaschen und auf dem Balkon zum Trocknen aufgehängt. Staub gewischt. Staubgesaugt. Die Küche geputzt, den Kühlschrank durchgesehen. Einen Einkaufszettel geschrieben. Blumen gegossen. Rohrfrei eingesetzt.

Vom Krieg in Israel erfahren. Kassandra auf WhatsApp angeschrieben. Gemeinsam um Worte gerungen. Sprachlos gewesen. Den Fernseher angemacht. Raketen gesehen.

Geschluckt. Weitergemacht.

Aus Kühlschrankresten, beinahe keimenden Kartoffeln und Fleisch aus dem Tiefkühler ein Mittagessen gekocht. Die Spülmaschine laufen lassen. Den Biomüll runter gebracht. Geduscht, Haare gewaschen, Bad geputzt. Einkaufen gefahren. Geärgert über den vollen Supermarkt. Die Einkäufe verräumt. Den Küchenfußboden gewischt. Die Wäsche abgenommen und verräumt. Meine Mutter und eine ihrer Freundinnen am Busbahnhof abgeholt, zu spät gekommen, weil ich noch Kuchen kaufen wollte, Bäckerei hatte aber schon zu. Die Freundin nach Hause gefahren, meine Mutter und mich selbst nach Hause gebracht.

Gutes Gespräch mit meiner Mutter über die Reise, es hat ihr gefallen. Gemeinsames Abendessen.

Eine Stunde auf TikTok versumpft, vielleicht auch zwei.

Müde, bis auf die Knochen.

Eine lange, ungeschriebene Liste der Dinge, die ich alle nicht gemacht, und nicht geschafft habe, in meinem Kopf.

Statistik:
Laune: 3/10
Fitness: 5/10
Druck: 9/10
Schlaf: 6/10

6/31 – Hinwege, Rückwege

Die Euphorie von gestern ist bereits verflogen.

Es gibt ja so Menschen, die kommen ins Büro, fahren den Rechner hoch, holen sich einen Kaffee, tratschen bisschen mit der Sitzplatznachbarin, packen die Frühstücksstulle aus und beißen rein, und erst dann betritt der erste arbeitsbezogene Gedanke ihren Kopf.

Bei mir ist das nicht so. Meistens geht es bei mir los, wenn ich unter der Dusche stehe, weil ich dann beginne, über die anstehenden To-do’s und Termine nachzudenken. Das ist immerhin nicht direkt nach dem Aufstehen, sondern erst, nachdem ich einen Kaffee getrunken, eine Runde durch die Blogs gezogen und das Wordle/Waffle/Connections gelöst habe. Heute war es ein langes Nachdenken über die Arbeit, weil ich morgens noch aufgeräumt habe (war nötig), und dann im Stau stand, den Stau umfahren habe, und mich dabei verfahren habe. Als mein Fuß also um 10 Uhr den Büroteppich berührte, hatte ich schon diverse arbeitsbezogene Problemszenarien durch meine Gehirnwindungen gezogen und war ziemlich genervt. Der Frage, warum ich so wütend bin, muss ich mal in einer meiner Wir-nennen-es-Coaching-und-nicht-Therapie-Sitzung nachgehen, aber erst, wenn wir das Rätsel gelöst haben, warum ich immer so weinen muss, wenn ich daran denke, dass mein Vater tot ist.

Jedenfalls. Ich habe dann erst einmal zwei Meetings abgesagt, dann hat mich eine wichtige Person, die mich sonst eher nicht unterstützt, bei einem mir wichtigen Anliegen unterstützt, was diverse Unter-der-Dusche-Horrorszenarien in Luft aufgelöst hat, dann hat mich ein Abteilungsleiter scharf angegriffen – ich kann ihm aber nicht böse sein, die arme Socke, dann hat mich mein Lieblingsfeind per Chat blöd angemacht, dann habe ich übersprungshandlungshalber seine neue Kollegin angerufen, und die ist sehr nett. Dann bin ich Novemberregen anrufend aus dem Büro geeilt und habe mich vor dem Büro mit Francine getroffen. Wir sind zu dritt Mittagessen gegangen, ich habe Frau „free therapy“ Novemberregen die unverschämten Chatnachrichten meines Lieblingsfeindes gezeigt und Francine hat Geschichten aus Südamerika erzählt.

Es war sehr schön.

Die nächste Stunde habe ich hektisch Dinge weggearbeitet, an die ich keine Erinnerung mehr habe, und dauernd Leute aus meinem Büro geschmissen („keine Zeit“). Anschließend gutes Treffen mit einem externen Dienstleister.

Zum sehr frühen Feierabend zu Fuß aus dem Büro geeilt und zum Friseur gegangen, also: meiner Friseurmeisterin. Sie besitzt einen sehr kleinen Friseurladen, man ist dort mit ihr allein. Mir gefällt das sehr. Über ihre Preisgestaltung gesprochen und die sonstigen Friseurgespräche geführt. Mein Auto aus der Bürotiefgarage befreit und bei der Ausfahrt ging wer an mir vorbei?

Richtig. Frau Novemberregen. Gehupt, sie eingesammelt und nach Hause gefahren. Nein, es liegt nicht auf dem Weg. Ja, es war sehr schön.

Den Weg von ihr zuhause zu mir nach Hause kenne ich recht gut. Es gibt da ein Stück Autobahn, gerade und sehr nach Westen ausgerichtet, dort habe ich schon oft einen wirklich schönen Sonnenuntergang gesehen, heute wieder. Der Sonnenuntergang auf dem Rückweg von Novemberregen. Und Flugzeuge obendrüber.

Es muss ein bisschen Druck aus meiner Beziehung zum Büro. Die Dinge müssen mir ein bisschen egaler werden.

Statistik:
Laune: schwankend
Fitness: 7/10
Druck: 8/10
Schlaf: 7/10

5/31 – van der Waals

Langer Tag heute, bis etwa acht Uhr im Büro gearbeitet. Vier oder fünf Stunden davon in einem Meeting gewesen. Bürojobs sind schon irgendwie weird. Was macht man den ganzen Tag? Meetings. Videokonferenzen. Emails. Manchmal auch so Sachen in PowerPoint und Excel.

Heute also ein Meeting. Ich hatte versucht, mich davor zu drücken, oder zumindest das zweitbeste: remote aus dem Home Office teilzunehmen. Es kam dann aber eine recht harte Ansage, dass ich dabei sein muss, obwohl ich – meiner Meinung nach – fachlich nichts beitragen kann. Es scheint gar nicht so wichtig zu sein, dass ich was mache, aber es ist für dieses leicht exotische Büro anscheinend sehr wichtig, dass ich da bin, und überhaupt: dass ich bin.

Der Treppenwitz meines Lebens: harte Ausbildung als Wissenschaftlerin mit Studium der Atomphysik, und dann dieser völlig unerklärliche Karriereweg als ich selbst sein. Im Grunde ist es natürlich die Wechselwirkung der Teilchen: es macht etwas mit den anderen, wenn ich dabei bin. Ich hab’s dann doch ganz gerne gemacht, in diesem Meeting zu sein. Weil ich mich für die Menschen interessiere, und die Dinge, und die Systeme, die sich entfalten, und dem allen wirklich gerne zuschaue.

Heute morgen war ich sehr schlecht gelaunt. Ich erinnere schon nicht mehr, warum. Und ob es überhaupt ein warum gibt. Jetzt fühle ich mich ruhig, schwebend, auf eine gute Art müde. Ich mag es gerne, so spät durch die Stadt zu fahren, die Bankentürme blinkend hinter mir zu lassen, freie Straßen, beschleunigend. Es ist mir ein Rätsel, wie es meine Arbeit schafft, meine Laune so zu drehen. Wenn man meine Texte liest, erschließt es sich einem wahrscheinlich, aber ich sehe es nicht. Ich bin zu nah dran, und wundere mich staunend, wie ich hier hin gekommen bin.

Es ist viel besser, als ich erwartet hätte.

Statistik:
Laune: außerhalb der Koordinaten
Fitness: 7/10
Druck: 7/10
Schlaf: 7/10