pass auf dich auf

„Triffst du dich mit jemanden?“, frage ich.
Sie nickt.
„Ist er gut zu dir?“
„Jaaa!“ sagt sie, sonst würde sie sich ja nicht mit ihm treffen, erklärt sie mir.
Wir schweigen einen Moment, sie spielt an ihrem Handy herum.
Ich frage: „Und? Bist du verliebt?“.
Nein, sagt sie, und erläutert mir, daß ihre beste Freundin über die Sommerferien ihr Heimatland besucht, irgendein Teil dessen, was während meiner Jugend Jugoslawien gewesen ist. Sie brauche eben jemanden, mit dem sie sich treffen kann, solange die Freundin im Urlaub ist.

Sie ist 16 und sehr hübsch, wie die Mädchen aus Bravo oder, hm, Mädchen; sie könnte eine Tänzerin in einem Hip Hop Video sein.
Ich möchte ihr gerne sagen, paß auf dich auf. Ich sage nichts. Ich möchte ihr nicht die Freude rauben, die Unbeschwertheit. So viele Gefahren, so viel, das sie kaputt machen könnte. Aber nützt es ihr, davon zu wissen?
Ich habe Angst um sie.
Ich werde ihr sagen, daß ich sie mag. Mehr steht mir nicht zu.

The Cure in Köln

Als sie auf die Bühne kamen, dachte ich, die sind eigentlich auch nur eine Garagenband. Damit meine ich nicht garage als Stilrichtung, sondern eben wirklich eine Band, die in einer Garage übt und gelegentlich Auftritte in einem Jugendzentrum in der Provinz hat.
Nein, jetzt bin ich zu hart. Es war nur mein erster, harter Gedanke, denn der Sound von The Cure reihte sich nahtlos an den der Vorgruppe an.
Ich hörte mir das an, eher emotionslos. Dann, nach den ersten vier, fünf Songs, passierte etwas überraschendes: ich fing an, mich zu entspannen. Mitzusingen. Mich im Takt zu bewegen. Und da war eine Leichtigkeit, wie man sie bei einer so düsteren Band sicher nicht erwarten würde. Vielleicht kommt diese Leichtigkeit daher, weil The Cure nicht mehr gefallen müssen. Sie müssen keine Platten mehr verkaufen, sich keinen Ruf mehr aufbauen. Robert Smith steht einfach da, er sieht aus, wie er eben aussieht, er singt von Gefühlen und Assoziationen. Es sind keine Geschichten, die in einen Kontext eingebettet sind, sondern es ist einfach das, was ihm wichtig ist.
Gegen Ende, bei „the promise“ singt Robert Smith: „time will heal all wounds, you promised me…“. Ein gebrochenes Versprechen. Er findet Worte für mich, für uns, für Dinge, die die meisten von uns auf die eine oder andere Art und Weise erlebt haben.
Im Nacken gibt es einen Muskel, der den Kopf hält; dieser Muskel ist ununterbrochen, auch im Schlaf, angespannt und an der Arbeit. Vor vielen Jahren hat jemand mit mir eine Übung gemacht, durch die dieser Muskel kurzzeitig entlastet wird. Es war ein unglaubliches, unbeschreibliches Gefühl der Entspannung.
The Cure bewirken ähnliches: ihre Leichtigkeit macht auch mich leicht, die Wahrheit in ihren Songs berührt mich an Stellen, die sonst unzugänglich gewesen wären. Da ist ein Moment der Schwerelosigkeit, der es möglich macht, die Bauklötzchen des Selbst gegeneinander zu verschieben, die Bewegung, die Dynamik der Songs helfen dabei. Sie rocken. Und ich verstehe, daß es gut und richtig war für mich, zu kommen, quer durch Deutschland zu fahren, in fremden Betten zu schlafen. Denn das Reisen, diese äußerliche Bewegung, bringt auch Bewegung in meinen Geist.
Wie sie das nur immer machen, denke ich. Die Erwartungen übertreffen. 15 oder 20 Mal habe ich sie jetzt live gesehen, man vergißt, wie gut sie sind, bis man sie wieder erlebt.

ein letztes Mal

„Ein letztes Mal“, Kurzfilm auf 3Sat. Evelyn ist um die 50 und lebt allein. Als sie beim Arzt erfährt, daß sie todkrank ist, beschließt sie, noch ein letztes Mal Sex mit einem Mann zu haben. Sie könne sich gar nicht mehr so richtig an das letzte Mal erinnern, erzählt sie ihrer besten Freundin, es verschwimme alles in der Erinnerung. Man weiß ja auch nur rückblickend, das das letzte Mal das letzte Mal war. Das hat auch schon Leogrande in seinem Buch sehr schön beschrieben.
Ich habe mich wiedergefunden in dieser Szene, dieser Feststellung, und habe Evelyn mit großem Mitgefühl begleitet auf ihrer Suche nach einem Mann. Zuerst versucht sie es in einem Tanzlokal, „a knocking shop for the over 50`s“. Dort lernt sie auch tatsächlich einen Mann kennen, der ihr recht schnell anbietet, etwas zu arrangieren. Man sieht, wie sie es sich vorstellt, mit ihm auf dem Hotelzimmer, er sitzt im weißen Feinrippunterhemd auf dem Bett, seine Hose ordentlich gefaltet auf dem Stuhl.
Es kommt nicht dazu.

Als nächstes versucht sie es über das Internet. „Silver lady“, 0 messages. Google spuckt ihr auf die Suchanfrage „sex and love“ eine Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige aus. Dort geht sie tatsächlich hin und lernt einen Mann kennen. Beim anschließenden Bier versichert sie ihm, Sexsucht sei schon okay…woraufhin sich der Mann mit einem Strichjungen aufs Klo zurückzieht.
Evelyn unterhält sich mit dem verbliebenen Stricher (der übrigens ziemlich süß ist). „Just out of curiosity, how much is it?“. 50 Pfund, sagt der Junge, aber auf die Frage, ob auch mit Frauen, schreckt er zurück wie von der Tarantel gestochen.

Die Geschichte hat ein Happy End, Evelyn ist gar nicht krank und der Brezelbäcker fragt sie um ein Date, aber das ist eben Fernsehen.

Auf die interessante Frage, ob ich einen Mann für Sex bezahlen würde, gehe ich das nächste Mal ein. Morgen fahre ich zu Ruth, am Freitag sehen wir The Cure in Köln und am Samstag auf dem Hurricane Festival. Montag habe ich frei, als alte Frau macht man sowas schließlich auch nicht mehr so locker mit. Nächstes Bloggen also erst wieder am Dienstag. Vielleicht wird Justyna für mich gastbloggen?

(ohne Titel)

„Naja, jetzt hast du das auch mal erlebt“, meint Ruth zu dem Autounfall.

„Glaubst du, daß das Leben so eine Liste für einen bereithält, die man einfach abarbeiten muß?“, frage ich.

„Ja, genau! Aber du bist erst bei A wie Aquaplaning…“

ich bin schuld und konnte doch nichts machen

Gestern nachmittag, auf dem Weg von einem Projekt an der Charité zu einem Vortrag in Dahlem, fuhr ein Auto auf der Stadtautobahn auf gleicher Höhe wie ich, ein paar Augenblicke länger als nötig. Ein gelbes Auto, kanariengelb, dachte ich, wie der Teufel.

Sicherlich besteht kein Zusammenhang, aber als ich abends bei strömenden Regen von Vortrag nach Hause fuhr und mein Vordermann bremste, fuhr ich auf ihn auf. Aquaplaning, und dieses schreckliche Gefühl, zu bremsen und nichts passiert, wie durch Butter gleitet man reibungslos. Diese lange, lange Sekunde, als ich bremste, aber mein Auto nicht, und ich wußte, ich bin viel zu schnell, gleich knallts. „Gleich knallts“ sagte ich zu den zwei befreundeten Wissenschaftlern, die ich mitgenommen hatte, und dann knallte es.

Keine Verletzten, eben kaputte Stoßstangen und Kühlergrills, mein Vordermann in ein weiteres Auto geschoben, strömender Regen, genervte Polizisten, die meinen, so sähe es jetzt in ganz Berlin aus, sie hätten heute schon x Unfälle aufgenommen.
Ich bin Schuld und konnte doch nichts tun.

Warterei, viel Papierkram, viel Regen. Auf der Heimfahrt sehe ich auf der Warschauer Brücke noch einen Unfall, ähnlich wie meiner, bedrückte Gesichter.
Ein Stückchen weiter, in der Revaler Straße, zwei Polizeiwagen, ein Krankenwagen und ein Leichenwagen.

Zuhause der Pflichtanruf bei den Eltern, die die Versicherung bezahlen. Mein Vater, sarkastisch, aber gelassen, „darin haben wir ja schon Erfahrung“, meine Mutter, „was kann ich tun, um dich zu trösten?“, und mein Auge tränt, während ich mit ihr philosophiere über Straßenverkehr und Schuld und die inneren Stimmen, die sagen, „hättest du mal“, „wieso mußtest du denn“, das ist doch wirklich kein Grund zu weinen.

Heute morgen, auf dem Weg zur Arbeit, Angst, wo sonst Sicherheit war, keine linke Spur mehr, schön langsam. Überlegt, daß die Seele vielleicht eine kleine transparente Kugel sein könnte, die unter dem Solarplexus sitzt und sehr empfindlich auf ruckartiges Abbremsen oder Aufschlagen reagiert.
The Cure gehört, das beruhigt ungemein. Versuchen Sie mal, the same deep water as you oder untitled zu hören und sich dabei aufzuregen, es ist fast unmöglich.
Der Flügelschlag eines Schmetterlings, die Unaufmerksamkeit eines Autofahrers, der die Spur wechselt oder bremsen muß oder plötzlich abbiegt, und alle dahinter müssen bremsen, jeder ein wenig heftiger, am Schluß der Kette ich, die an einer Stelle bremst, an denen das Wasser in Spurrinnen steht, es raubt einem die Illusion von Kontrolle über das eigene Auto, die anderen Verkehrsteilnehmer, das Wetter, die Mitmenschen, die politische Situation, den Zeitgeist, die Arbeitsmarktpolitik, die Gefühle, das Leben.
Ich geh‘ vielleicht doch ’ne Runde heulen.

Hey, hey, just one more and I`ll walk away
how the everything you win turns to nothing today

100 Tage

Angeregt durch diesen Mann und natürlich durch Justyna möchte ich eine Zwischenbilanz ziehen. 100 Tage bloggen – was war gut, was war schlecht, lohnt es sich, weiter zu machen?

Zuerst das negative.
Dieses ständige Kreisen um sich selbst. Karim sagt, er habe das Tagebuchschreiben aufgegeben, weil es die Probleme künstlich aufbläht.
Die Zeit, der Aufwand, das beschissene Gefühl, in etwas zu investieren, das so unbeständig und temporär ist wie das Internet. Nicht sagen zu können, guck, da steht’s gebunden im Regal, Fragmente meines Lebens, handschriftlich in Sepia auf rauhem Papier.
Die Schmerzhaftigkeit mancher Geschichten. Es könnte durchaus Sinn machen, die Angst, das Scheitern und Versagen zu benennen, weil es die Dämonen versöhnlich stimmt und die Fragmente der Identität annähert. Aber zunächst tut es weh und hinterläßt für ein paar Tage das Gefühl, ein Stück Dreck zu sein.

Das positive.
Ich habe den sicherlich sehr subjektiven Eindruck, die letzten 100 Tage einen Hauch intensiver erlebt zu haben. Vielleicht bringt es doch etwas, das regelmäßige Innehalten, Festhalten dessen, was im Moment wichtig ist. Tatsächlich ist mir das eine oder andere klarer geworden. Es ist kein absolutes Verständnis. Es ist, als wäre man in einer fremden Metropole und würde gerade beginnen, sich zurechtzufinden. Viele Nebenstraßen und Stadtviertel bleiben rätselhaft, aber man kann sich schon auf eine oder zwei Hauptverkehrsachsen beziehen und erkennt einige Wahrzeichen. Ich habe manchmal dieses überraschende Gefühl, hey, hier war ich doch schon mal, der Moment des Erkennens, der Orientierung, der Groschen, der fällt – da geht es lang. Die Orte ändern sich, die Ziele ändern sich, das Glück des richtigen Weges ist kurz, aber immerhin.

Ich werde gelesen und manchmal auch verstanden. Das ist schön.
Es gibt drei oder vier Menschen, die hier lesen und mich im realen Leben mehr oder weniger gut kennen. Sie haben mir unabhängig voneinander gesagt, dieses Weblog würde unheimlich depressiv wirken. Ich mußte einsehen, daß die schwermütigen Texte deutlich überrepräsentiert sind. Über die glücklichen Momente schreibt sich eben so schwer. Es ist ein bisschen wie in einem Reparaturforum, in dem die Leute immer nur Hilferufe abgeben, weil etwas kaputt ist, nie schreiben sie darüber, ob und wie sie es repariert haben. Lassen Sie sich also nicht täuschen, liebe Leser.
Eine Kommentarfunktion wird es übrigens auch weiterhin nicht geben. Aber über die eine oder andere eMail würde ich mich freuen.

im Kontext

Zu meinem letzter Beitrag möchte ich gerne den Kontext hinzufügen:

leogrande will geschichten, die einen anfang und ein ende haben. die frau von den schiffsmeldungen wartet auf pointen. ich will und tue das nicht mehr. erwartungshaltungen sind per se grundfalsch. bin wie immer meine zeit voraus. in zwei jahren rennen alle mit meiner achnaja-haltung rum.“
Rounders, 20.11.2002

Mich bedrückt dieses blöde Gefühl, daß ich jetzt sofort etwas leisten müsste. Ein Haus bauen, einen Lebenspartner finden, ein Kind kriegen, zumindest jedoch eine bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung machen. Vielleicht hängt das mit dem überzogenen Blick auf die Altersgenossen zusammen, die anscheinend alle eine Familie oder ein Haus haben, und wenn nicht, dann spielen sie in Pornos mit oder bereisen die Anden. Zumindest haben sie zwei oder drei wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, gerne auch einen letter to nature.
Und natürlich muß das alles Sinn machen, muß die Geschichte, die mein Leben ist, einen Anfang, ein Ende und eine Pointe haben.

Wäre vielleicht ’ne gute Idee, sich von den Erwartungshaltungen zu befreien, die in der Regel noch nicht mal die eigenen sind. Wenn Sie rausgefunden haben, wie, sagen Sie mir Bescheid.

Maschinenöl

Soll ich wirklich? Ich könnte auch noch einen Brief schreiben, den Abwasch machen oder fernsehen. Na ja, denke ich, jetzt hast du es dir schon vorgenommen. Ich bin eine Frau, die Pläne macht und sie dann gewissenhaft Punkt für Punkt abarbeitet. Die private to-do-Liste. Und heute im Auto, auf der Heimfahrt von der Arbeit, da dachte ich: ich sollte mal wieder. Nicht wieder so husch husch, sondern langsam und mit Genuß.
Also ziehe ich mich aus, laufe in der dunklen Wohnung herum, stelle den Wecker, suche das Öl. Dann verreibe ich das nach Mandel und Vanille riechende Öl auf meinen Brüsten und auf meinem Bauch. Es passiert nicht viel. Ich stelle mir vor, daß es die Hand eines Mannes ist. Die Massage des Bauches tut gut, aber es ist nichts erotisches dabei, nur eine Frau, die ihren Bauch massiert. Die Hand auf der Brust löst immerhin einen Reiz aus, mechanisch, ohne Bedeutung. Maschinenöl.
Die Hand wandert zu dem Fell zwischen meinen Beinen, die Gedanken wandern ab. Ich denke über die Vor- und Nachteile von Intimrasur nach. Ich mag das Fell, den Pelz. Wieder versuche ich, an einen Mann zu denken. Wie in einer Diashow lasse ich die imaginären Liebhaber an mir vorbeiziehen. Ich denke über meine Arbeit nach, über mein gegenwärtiges Projekt, an welchem Tag ich welche Experimente durchführe und wie sie sich am effektivsten zeitlich staffeln lassen. Ich ärgere mich, daß ich an meine Arbeit denke. Ich lege mich auf die Seite, vielleicht lasse ich es bleiben.
Die Nachbarn sind schon wieder so laut, ich höre Techno-Beats.
Ich denke an einen Schwerverbrecher, einen Mörder, aus dem Gefängnis entkommen, schweigsam, muskelbepackt, undurchsichtig. Ich mag nicht an den Teufel denken.
Ich denke an den Mörder, der dachte, er müsse sein ganze Leben lang im Knast bleiben und würde nie wieder Sonnenlicht sehen. Da ließ er sich die Augen operieren, illegal, Knastgeschäft, damit er im Dunkeln sehen kann. Damit er sehen kann, wer sich im Dunkeln anschleicht. Ich stelle mir vor, bei ihm zu liegen, es ist ein Deal, ein Versprechen, meine Gegenleistung. Er bietet mir an, zu gehen; ich bleibe. Seine Begierde ist aufrichtig. Ich sehe seine Verletzlichkeit, sie spiegelt die meine, sie schafft eine Verbindung zwischen ihm und mir.
Ich denke an das Wiedersehen mit einem langjährigen Partner, die Trennung war lang, wir wissen genau, was dem anderen gefällt. Unsere Körper sollen den Bund zwischen uns bekräftigen. Du gehörst mir, sagt er zu mir.

Ich bringe fertig, was ich angefangen habe. Es ist in Ordnung, es ist nicht schlecht. Es ist wie ein köperlicher Reflex, ohne Bedeutung. Eine Konzentrationsübung.

So viel Aufwand. So viel Arbeit. Aber ich habe Angst, daß ich die Fähigkeit ganz verliere. Austrockne, einfriere.